30. Oktober 2003

Tibet Justice Center
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Aus: TRIN-GYI-PHO-NYA: TIBET'S ENVIRONMENT AND DEVELOPMENT DIGEST
October, 2003, Issue 3

"Drokpas" in Gefahr: Die Zukunft des tibetischen Nomadentums

Von Tenzin Wangyal, Middlebury College, Vermont

Wird die Kultur und der Lebensstil der tibetischen Nomaden (tib: drokpa) in diesem Zeitalter der Modernisierung überleben oder werden sie, wie Robert B. Ekvall (Ekvall, Robert B. 1963, Fields on the Hoof: Nexus of Tibetan Nomadic Pastoralism (Waveland Press)) es ausdrückt "langsam und unvermeidlich gefährdet werden"? In diesem Essay möchte ich kurz darlegen, warum ich glaube, daß die tibetischen Nomaden keine Chance haben, sich angesichts der heutzutage vonstatten gehenden Marginalisierung, Ausbeutung der Bodenschätze, Modernisierung und Globalisierung zu behaupten - besonders wenn man an das beispiellose Ausmaß dieser Vorgänge und auch die sich ändernde Haltung der Nomaden selbst denkt.

Im Gegensatz zu der von den chinesischen Politikern vertretenen Meinung haben viele Gelehrte den traditionellen Lebensstil der tibetischen Nomaden als eine erfolgreiche Anpassung an die Umweltbedingungen in einem der unwirtlichsten Landstriche der Erde gewürdigt. Die Chinesen bezeichnen die Tibeter verächtlich als "ungebildete und rückständige Leute, die sich auf Grund ihrer Ignoranz an ihren hergebrachten Traditionen festklammern" (Daniel J. Miller).

Die Lebensweise der tibetischen Nomaden paßt nicht in die marxistische Theorie des sozialistischen Staates, und folglich versuchten die chinesischen Politiker - ihren ursprünglichen Zusicherungen zum Trotz - sich dieses in ihren Augen unproduktiven und unökonomischen Teils der tibetischen Gesellschaft zu entledigen (Robert B. Ekvall). Kollektivierung und Kontrolle war schon immer der vordringlichste Zweck bei der Seßhaftmachung von Nomaden, wie man auch Chu The's Erklärung, daß alle "nomadischen Hirten sich niederlassen sollten, damit ihre sozialistische Transformation und der sozialistische Aufbau ermöglicht werden", entnehmen kann.

Die Lebensweise der tibetischen Nomaden ist bereits seit der Einführung des "Programms zur gegenseitigen Hilfe" (tib. rog-ras) im Jahr 1960 ständigen Angriffen ausgesetzt. 1966 wurde der Privatbesitz an Vieh durch das System der Volkskommunen ersetzt. Den Nomaden wurden für die von ihnen geleistete Arbeit Leistungspunkte ausgeteilt, und sie erhielten Nahrungsmittel und sonstige notwendige Güter, deren Menge auf Basis der Leistungspunkte errechnet wurde (Daniel J. Miller). Die Chinesen machten den Drokpas drakonische Vorschriften und verboten ihnen sogar, den Buddhismus zu praktizieren. Ihre religiösen Gegenstände wie z.B. heilige Bücher, Bilder und Schreine wurden zerstört.

Am Schlimmsten erging es den Nomaden während der Kulturrevolution (1966-1976), als die Roten Garden die "vier Alten" attackierten und ihnen ein neues "atheistisches kommunistisches Klassensystem" aufzwangen. Fast alle von der chinesischen Regierung in Gang gesetzten Programme versagten bei den tibetischen Nomaden. Schließlich erkannte das chinesische Politbüro im Anschluß an Hu Yaobangs Besuch in Tibet, daß die Bedingungen dort keineswegs so gut waren, wie man sie immer dargestellt hatte. In der Folge wurde das Kommunensystem aufgelöst und statt dessen das "Eigenverantwortlichkeitssystem" für die Haushalte eingeführt. Dank der anschließenden Wiedereinführung der traditionellen nomadischen Art der Viehhaltung ging es den Nomaden wirtschaftlich allmählich etwas besser.

Viele der Probleme, mit denen Tausende tibetischer Nomaden heute konfrontiert sind, könnte man den schlecht durchdachten politischen Richtlinien der Chinesen anlasten, die ihrer Antipathie gegen die nomadische Lebensweise entstammen und die Nomaden der Gnade der Marktwirtschaft überlassen. Im heutigen Wirtschaftssystem haben die Nomaden ihre traditionelle wirtschaftliche Basis wie etwa den Salzhandel verloren. Gerste, das Hauptnahrungsmittel der Tibeter, wird im Gegensatz zu dem von den chinesischen Siedlern konsumierten Reis oder Weizen nicht subventioniert. Die von den Nomaden produzierte Wolle wird ebenfalls nicht durch Beihilfen geschützt. Wohlhabende tibetische Landbewohner entschließen sich immer häufiger, ihre Ersparnisse in China zu investieren, weil sie dort höhere Gewinne erzielen. Der Markt in ihrer Heimat bietet ihnen nur geringe Erfolgschancen als Einzelhändler für medizinische Kräuter und Pilze.

Darüber hinaus versucht die chinesische Regierung in letzter Zeit, die Nomaden mit Anreizen wie Befreiung von Steuern und vom Quotensystem allmählich zur Seßhaftigkeit zu bewegen. Unlängst hörte man von diversen Fällen, wo die Nomaden wegen der umzäunten Weiden untereinander in Streit gerieten. Das Einzäunen des traditionellen Weidelands - eine der Methoden, mit denen die Regierung die Hirten zur Seßhaftigkeit zwingen will - führte TIN zufolge in den letzen beiden Jahren zum Tod von mindestens 29 Nomaden. Bei derartigen Vorfällen intervenieren die chinesischen Behörden überaus zögerlich - es wird sogar berichtet, Behördenvertreter hätten den Nomaden Waffen gegeben und sie in deren Gebrauch unterwiesen. Die traditionelle Vermittlerrolle der Lamas bei Zwistigkeiten wird von den Behörden verurteilt und sogar bestraft. Nomaden, die ihresgleichen umbringen, werden nicht bestraft. Viele Nomaden sehen darin, daß die chinesische Regierung diesen Auseinandersetzungen Vorschub leistet, eine bewußte Strategie.

Das Einzäunen der Weiden verursachte auch Umweltprobleme wie die Degradation des Graslands und Überweidung. Außerdem mußten die Nomaden exorbitante Preise für die Zäune bezahlen: Groteskerweise können einige von ihnen das Geld dafür nur aufbringen, indem sie ihr Vieh verkaufen. Kürzlich ergangene Regierungsdirektiven fordern, daß jede Familie ein Winterhaus haben muß. Und wann die Nomaden auf Wanderschaft gehen dürfen, bestimmt ebenfalls der Staat. Zusätzlich zu den bereits genannten Androhungen und Problemen kommt noch das nicht vorhersagbare und unwirtliche Klima Tibets. Ein katastrophaler Winter mit dem daraus resultierenden Futtermangel kann eine Herde bis zur Bestandsgefährdung dezimieren.

Noch besorgniserregender als die äußeren Faktoren ist der Wandel im Lebensstil der Nomaden selbst, besonders bei der jüngeren Generation. Junge Paare wollen lieber in festen Häusern als in Yakhaarzelten wohnen. Xinhua-Berichten zufolge haben sich in der Provinz Qinghai z.B. bereits mehr als 67% der Hirten in Häusern niedergelassen. Dieser schleichende Wandel in der Lebensweise macht sich auch in neuen Trends wie dem Besitz eines Motorrads als Statussymbol für junge Nomaden bemerkbar. Außerdem ermutigen viele Eltern ihre Kinder dazu, länger zur Schule zu gehen, damit sie in der neuen Marktwirtschaft Chancen auf bessere Arbeitsplätze haben.

Fazit: Obwohl sich die nomadische Kultur als sehr widerstandsfähig erwiesen und in der Vergangenheit sogar einen Aufschwung erlebt hat, stehen tibetische Nomaden diesmal einer noch viel größeren Bedrohung als jemals zuvor gegenüber. Während sich ihre Lebensbedingungen auf Grund der diskriminierenden Regierungspolitik immer weiter verschlechtern, sehen sie sich gleichzeitig mit den Herausforderungen der heutigen Zeit, der Modernisierung, den Verlockungen und Bequemlichkeiten des seßhaften Lebens konfrontiert.