31. Dezember 2004
TIN News Update
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Anstieg der Prostitution bei tibetischen Frauen

Aktuellen Meldungen aus Tibet zufolge betätigen sich immer mehr tibetische Frauen aus ländlichen Gebieten, vor allem aus der TAR, als Prostituierte. Obwohl der rasant wachsende Sexmarkt immer noch von chinesischen Prostituierten dominiert wird, gehen immer mehr Tibeterinnen dem Sexgewerbe nach. Noch vor ein paar Jahren war ihre Anzahl kaum nennenswert. Beobachter schreiben diesen Umstand einmütig der sich zunehmend ausweitenden wirtschaftlichen Kluft zwischen städtischen und ländlichen Regionen zu - an und für sich schon ein Nebeneffekt des gegenwärtig heftig vorangetriebenen Entwicklungsprogramms für die westlichen Regionen ("Western Development Programme"). Obwohl Wirtschaftswissenschaftler ernste Bedenken bezüglich der Nachhaltigkeit des von Peking durch kräftige Subventionen künstlich angeheizten Wirtschaftswachstums in Tibet äußern, sind die verfügbaren Einkommen in einigen wenigen städtischen Zentren zweifellos angestiegen, während die Mehrheit der Tibeter in unveränderter Armut auf dem Lande lebt. Gleichzeitig wird dort von den staatlich kontrollierten Medien, die immer mehr Verbreitung finden, in aggressiver Weise der Konsum propagiert, was Erwartungen weckt, die vor Ort einfach nicht erfüllt werden können. Tibeter vom Land sind nicht nur ärmer - auf Grund ihres extrem niedrigen Bildungsstandes sind ihre Chancen auf einen festen und lukrativen Arbeitsplatz in der Stadt praktisch gleich null. Durch diese Diskrepanz zwischen gestiegenen Erwartungen und der schieren Unmöglichkeit ihrer Erfüllung werden junge tibetische Zuwanderinnen vom Lande zur Prostitution verleitet, denn sie ist der einzige realistische und schnelle Weg zu einem besseren Lebensstandard. Somit ist die Prostitution in Tibet nicht nur ein Symptom von Armut, sondern sie wird vielmehr vom wachsenden Wohlstand einiger weniger hervorrufen. Obwohl für die tibetischen Prostituierten in der Tat die Aussicht auf Besserung ihres materiellen Loses besteht, verdienen sie weniger als die chinesischen, während sie sich gleichzeitig mit größeren sozialen Schwierigkeiten konfrontiert sehen.

Seit den frühen neunziger Jahren hat die Prostitution in der TAR exponentiell zugenommen. Obwohl sie in der VR China immer noch illegal ist, wird sie in den städtischen Zentren häufig in Gebäuden betrieben, die entweder der Regierung, der Kommunistischen Partei oder dem Militär gehören oder von ihnen angemietet wurden. Das kommerzielle Sexgewerbe ist in den Groß- und Kleinstädten der TAR weit verbreitet, es gibt nicht nur zahlreiche Bordelle in der Nähe von militärischen Einrichtungen, die Sexbranche konzentriert sich auch an den großen Straßen und spiegelt so die zunehmende Mobilität von Menschen und Gütern wieder. In den kleineren Kreisstädten arbeiten die Prostituierten in den Hinterzimmern von Restaurants. Trotz der gestiegenen Anzahl tibetischer Prostituierter in der TAR bilden Chinesinnen immer noch die Mehrheit - allein sechzig Prozent von ihnen sollen aus den chinesischen Gebieten von Sichuan stammen. Andere kommen aus Shanxi und sonstigen armen Provinzen der VR China, und es heißt, viele davon seien chinesische Musliminnen (Hui). Außerdem gibt es neuerdings die in Lhasa im "Thieves Island Complex" arbeitenden teuren "blonden Prostituierten" aus Osteuropa. Alle Beobachter bestätigen, daß die in absoluten Zahlen derzeit am schnellsten wachsende Gruppe aus ethnischen Tibeterinnen besteht, wenn ihr prozentueller Anteil auch nicht genau zu ermitteln ist.

Praktisch alle tibetischen Prostituierten kommen aus Dörfern oder entlegenen Nomadengebieten in die Städte; eine nennenswerte Anzahl der Frauen stammt auch aus Kham und Amdo. Beim Besuch von Unterhaltungseinrichtungen kommen sie in Kontakt mit der Prostitution, doch wenden sie sich erst dann selbst diesem Gewerbe zu, wenn sie keine andere Arbeit finden können. Nagma Bars (populäre Musiklokale in Tibet) und Karaoke Clubs sind eng mit der Prostitution verknüpft, aber auch Frauen, die früher in Schönheitssalons tätig waren, arbeiten häufig im Sexgewerbe. Eine geringe, jedoch steigende Anzahl von jungen Frauen zieht mit der ausdrücklichen Absicht, der Prostitution nachzugehen, in die Stadt. Ihre Familien wissen meistens insgeheim Bescheid. Manche sind bereits verheiratet und arbeiten auf ein bestimmtes Ziel hin, wie z.B. den Bau eines Hauses, oder um das für die Eröffnung eines kleinen Ladens nötige Kapital zusammenzubringen. Dies ist vor allen in sehr armen Regionen wie Nagchu der Fall. Bei ihrer Rückkehr nach Hause werden sie in ihrer Familie geschätzt, weil sie zur Anhebung des Lebensstandards beigetragen haben, dennoch leben sie gleichzeitig in der ständigen Furcht, daß die Leute im Dorf von ihrer Vergangenheit als Prostituierte in der Stadt erfahren könnten. Von TIN zu den Gründen für ihre Arbeit in als Prostituierte befragte Tibeterinnen bezeichneten die Steigerung ihres Einkommens als ihr hauptsächliches Motiv. Tatsächlich können sie durch Prostitution innerhalb eines kurzen Zeitraums einen nach örtlichem Standard annehmbaren Betrag verdienen, zumal sie auf Grund ihrer fehlenden Schulbildung und Chinesischkenntnisse kaum eine andere Tätigkeit ausüben können. Die große Mehrheit von ihnen beherrscht nicht einmal die tibetische Schrift. Das Durchschnittsalter der tibetischen Prostituierten liegt bei Mitte Zwanzig, einige sind auch erst 18 Jahre alt, aber noch jüngere sind unter den Tibeterinnen sehr selten.

Der ausgeprägte tibetische Wesenszug, sich zusammenzutun und mit Leuten aus der eigenen Gegend zu arbeiten, tritt auch bei der Prostitution in Erscheinung. Frauen, die im selben Etablissement arbeiten, kommen häufig aus der gleichen Region oder sogar aus der gleichen Ortschaft. Es kann auch vorkommen, daß tibetische Prostituierte sich diskret mit Freundinnen in ihrer Gegend in Verbindung setzen und sie dazu ermutigen, sich ihnen anzuschließen. Auf diese Weise propagieren sie die Prostitution als den schnellsten Weg zum Wohlstand. Im allgemeinen halten sie eine enge Bindung an ihre Heimat aufrecht, und viele dieser Frauen verbringen die drei Wintermonate in ihren Dörfern. Einige, die unabhängiger arbeiten und oft auch besser verdienen, fahren indessen während der Winterpause in lukrativere Gegenden. Eine Prostituierte, die in einer der besseren Bars in einer Kleinstadt in Südtibet arbeitet, erzählte TIN, sie fahre jedes Jahr, bevor die Straßen durch den Schnee unpassierbar werden, nach Süden, um in einem "Schönheitssalon" in Kathmandu oder als Callgirl in Delhi zu arbeiten. http://www.tibetinfo.net.reports/images/003.htm

Die Arbeitsbedingungen und Einkommenszahlen sind an den verschiedenen Orten ziemlich unterschiedlich. In Lhasa arbeitet eine beachtliche Anzahl von Prostituierten in besseren Unterhaltungslokalen und Bars oder als Callgirls, während das herkömmliche Sexgeschäft vorwiegend in den Händen der chinesischen Prostituierten liegt. Außerhalb von Lhasa ist der Unterschied längst nicht so groß. Tibetische Prostituierte in Lhasa nehmen durchschnittlich 100 yuan (6,79 GBS oder 12 US$), die Hälfte davon müssen sie der Bar, in der sie beschäftigt sind, abgeben. Außerdem zahlen sie ungefähr 180 yuan (12,22 GBS oder 21,74 US$) Steuern pro Monat, in denen Krankenversicherung und Umsatzsteuer enthalten sind. In Südtibet verlangen sie zwischen 50 und 80 yuan (3,40 bis 5,43 GBS oder 6,00 bis 9,67 US$) pro Kunden oder 100 yuan, falls sie die ganze Nacht mit dem Mann in seinem Haus oder in einem Hotel verbringen. An einem anderen Lokal in derselben Region zahlen die Kunden 40 bis 50 yuan (2,72 bis 3,40 GBS oder 4.84 bis 6,00 US$) an den Inhaber der Bar, während die Prostituierte einen festen Lohn von 300 yuan (20,19 GBS oder 36,00 US$) monatlich, Nahrung und Unterkunft sowie 40% des von den Kunden bezahlten Geldes bekommt. Mit diesem System kann die Prostituierte, falls sie einen Durchschnitt von drei Kunden pro Tag hat, 100 yuan zu ihrem Grundlohn dazuverdienen. In vielen Bars sind die Frauen auch als Animierdamen tätig und ermuntern die Männer zuerst zum Verweilen und Konsumieren, bevor sie sich mit ihnen ins Hinterzimmer oder an einen anderen Ort zurückziehen. In diesem Fall erhalten die Prostituierten einen gewissen Prozentsatz vom konsumierten Bier, den Zigaretten oder Speisen. Abgesehen von Lhasa ist es auch üblich, daß die Frauen in der Bar putzen, in der sie arbeiten.

Es heißt, die Arbeitsbedingungen für Prostituierte seien in Tibet besser als an anderen Orten der VR China. Die hohe und immer noch nicht befriedigte Nachfrage nach kommerziellem Sex sorgt für relativ hohe Preise und ermöglicht den Frauen eine gewisse Unabhängigkeit bei der Wahl ihrer Kunden. In Südtibet, sogar noch in Shigatse, findet man auch nepalesische Prostituierte. Eine von ihnen äußerte der Kathmandu Post (25. April 2003) gegenüber, sie kämen nach Tibet, weil die Arbeitsbedingungen weit besser und das Geschäft lukrativer als in Indien sei. Mißhandlungen von tibetischen Prostituierten gibt es im allgemeinen selten, es kam jedoch vor, daß Frauen von Barbesitzern geschlagen wurden, weil sie weglaufen wollten. Diese Etablissements sind von einem rapiden Wechsel der Inhaber gekennzeichnet, und es ist üblich, daß diese einander Prostituierte zum Preis von ca. 2000 yuan (135,78 GBS oder 241,54 US$) abkaufen. In diesen Fällen werden die Frauen oft so lange nicht bezahlt, bis sie ihren Kaufpreis abgearbeitet haben. Da die Inhaber gute Beziehungen zur Polizei pflegen, können sich die Prostituierten dort nicht über derartige Ausbeutungspraktiken oder über körperliche Mißhandlungen beschweren. Außerhalb von Lhasa scheint die Möglichkeit, frei von einem Etablissement zum anderen zu wechseln, ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen tibetischen und chinesischen Prostituierten zu sein. Die Chinesinnen haben mehr Bewegungsfreiheit, nur dort zu arbeiten, wo es ihnen gefällt, weil die meisten Tibeterinnen auf finanziell wesentlich schwächerer Basis ins Geschäft einsteigen.

Tibetische Prostituierte sind in der Regel jünger als ihre chinesischen Kolleginnen und ihr Status und ihre Lebensumstände scheinen in mancherlei Hinsicht zwiespältiger zu sein. Während chinesische Prostituierte modischere Kleider tragen und sich auch im Minirock und Strumpfhosen zeigen, tragen die Tibeterinnen meistens einfachere und lässigere Kleidung wie Jeans, wodurch sie provinzieller als die Chinesinnen wirken. In der ländlichen tibetischen Gesellschaft gilt jedoch schon ein solches Outfit als gewagt. Normalerweise arbeiten tibetische Prostituierte für tibetische Barbesitzer und haben Tibeter als Kunden. Für Barbesitzer, die einen Prozentsatz vom Lohn der Frauen bekommen, ist die Beschäftigung von tibetischen Prostituierten allerdings nicht so vorteilhaft, denn sie nehmen weniger als die chinesischen. Die tibetischen Kunden, bei denen es sich zumeist um verheiratete Männer handelt, legen den tibetischen Prostituierten gegenüber ein unterschiedliches Verhalten an den Tag. Einerseits gelten chinesische Prostituierte als ein Statussymbol, weil sie teurer sind, und wenn man sie fragt, ob sie tibetische oder chinesische Sex-Arbeiterinnen vorziehen, äußern sich tibetische Männer meist zugunsten der Chinesinnen, "weil sie wilder sind und mehr machen" als die Tibeterinnen. Andererseits behaupten die Männer auch, bei den Chinesinnen vorsichtiger zu sein, weil sie eher Geschlechtskrankheiten übertrügen. Dies ist natürlich ein reines Vorurteil, da das Wissen um Geschlechtskrankheiten und den Gebrauch von Kondomen unter den chinesischen Prostituierten zwar äußerst gering ist, die Tibeterinnen jedoch über noch weniger diesbezügliche Kenntnisse verfügen. Geschlechtskrankheiten sind in der Tat häufig und Gesundheitsexperten befürchten eine epidemische Ausbreitung von HIV/AIDS in der TAR. Leider nehmen jedoch wesentlich weniger tibetische als chinesische Prostituierte an Kampagnen zur Prävention teil, weil sie sich vor dem öffentlichen "Outing" und der daraus folgenden sozialen Ächtung fürchten.