1. September 2003

Tibet Information Network
City Cloisters, 188-196 Old Street, London EC1V9FR,
ph: +44(0)207 814 9011, fax +44(0)207 814 9015, e-mail: tin@tibetinfo.net, www. tibetinfo.net

Der Bezirk Lhasa begrüsst die Zuwanderung vom Land zum "Aufbau einer Mittelklassen-Gesellschaft"

Wie aus einem Arbeitsbericht der Regierung an den Volkskongreß der Präfektur Lhasa, der kürzlich TIN zugespielt wurde, hervorgeht, ist seit neuestem die Zuwanderung von Bewohnern aus den ländlichen Gegenden des Bezirks Lhasa in die Stadt Lhasa erwünscht, was eine erstaunliche Veränderung zu der in den letzten Jahrzehnten betriebenen Politik bedeutet. In dem Papier, das 2003 zum "entscheidenden Jahr für den Aufbau einer Mittelklassen-Gesellschaft" erklärt, wird indirekt zugegeben, daß die "Initiative zur Entwicklung des Westens" (Western Development Drive) den Bauern und Nomaden auf dem Lande, wo 85 % der Bevölkerung der TAR leben, nicht den erwünschten Fortschritt brachte. Zuwanderer vom Lande sollen nun als Arbeiter bei Infrastrukturprojekten eingesetzt werden. Der Bericht macht die enge Verbindung zwischen Wirtschaftspolitik und politischer Stabilität deutlich und betont ausdrücklich, einer der Hauptgründe für dieses Programm sei "die dringend notwendige Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in der gegenwärtigen Situation der Gesellschaft".

Der Arbeitsbericht (als Dokument Nr. 5 bezeichnet) wurde am 1. April 2003 dem achten Volkskongreß der Stadt Lhasa in dessen zweiter Sitzung vorgelegt. In seinem wichtigsten Teil, den "Hauptaufgaben für 2003", wird ein ambitioniertes Programm zur "Beschleunigung des Wachstums" in den ländlichen Gebieten des Bezirks vorgestellt, das sowohl auf die Einführung von neuen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden vor Ort als auch auf die Entwicklung von neuen Märkten gerichtet ist. Die Nahrungsmittel, zu deren Produktion den Bauern ein Anreiz gegeben wird, sind vor allem Obst und Gemüse, Produkte aus der Forstwirtschaft und Heilkräuter, sowie tierische Produkte und "Sea Food" (was vermutlich Fisch bedeuten soll).Viele dieser Erzeugnisse sind keine traditionell tibetischen und offensichtlich für die chinesischen Zuwanderer und den Exportmarkt bestimmt. Mit der Entwicklung von Märkten würden die Produktion für den eigenen Bedarf und der Tauschhandel durch Geldwirtschaft ersetzt werden, die einer potentiellen künftigen Kundschaft angepaßt wäre. Die wiederholte Forderung nach Entwicklung von Exportstrategien für landwirtschaftliche Erzeugnisse hat mit der langfristigen Wirtschaftsplanung für die TAR zu tun und steht in enger Beziehung zu der derzeitigen Förderung des Grenzhandels mit Nepal und ganz besonders zu der bevorstehenden Wiedereröffnung des Nathu-La-Passes für den Handel mit Indien. Das Programm sieht in der Steigerung des Konsums in den ländlichen Gegenden einen Katalysator für die erwünschte Marktentwicklung.

Der bemerkenswerteste und zentrale Punkt des Programms ist jedoch die "Entwicklung der Migration" aus den ländlichen Gebieten in die städtischen Siedlungen des Bezirks Lhasa, insbesondere in die Stadt selbst: "Diejenigen Bauern und Nomaden, die in die Stadt ziehen wollen, müssen angemessen untergebracht werden und Wohlstand erwerben können". "Es sollten mehr Landarbeiter als bisher in die Städte geschickt werden, damit die Quote der Migration von Arbeitern zunimmt". Weiter wird ausgeführt, daß "diese Thematik in die jährlichen Haushaltspläne der Gemeinden und Distrikte mit einbezogen werden sollte", wodurch die Urbanisation der Landbevölkerung zu einem Indikator für den Fortschritt wird.

Jahrzehntelang richtete sich die offizielle Politik der VR China darauf, die Abwanderung vom Land in die Stadt strikt zu verhindern. Obwohl diesbezügliche Richtlinien in den 90er-Jahren wesentlich lockerer gehandhabt wurden, gilt theoretisch immer noch das Haushaltsregistrierungssystem (chin: hukou, tib: themto), wo jeder Person ihr Herkunftsort, sowie ein "landwirtschaftlicher" oder "nicht-landwirtschaftlicher" Status zugeordnet wird. Expertenschätzungen zufolge leben auf Grund dieses Systems heutzutage Millionen vom Land zugewanderter Arbeiter in den Randbezirken der chinesischen Städte in einem praktisch rechtsfreien Raum und meistens unter abschreckenden Lebensbedingungen.

In der tibetischen Hauptstadt Lhasa gibt es, wie man weiß, ebenfalls eine riesige "Wanderbevölkerung" aus allen Teilen Tibets, die nicht offiziell erfaßt ist. Die von TIN im Laufe der Jahre gesammelten Daten zeigen, daß diese Migranten auf Grund ihres faktisch illegalen Status von den wenigen verbliebenen Vorteilen des öffentlichen Sozialsystems (Lebensmittelkarten, reservierte Schulplätze für ihre Kinder usw.) ausgeschlossen sind. Weil sie keinen offiziellen Status haben, sind sie der Willkür der oft korrupten örtlichen Behörden vollkommen hilflos ausgeliefert.

Obwohl sie eine gewisse Veränderung darstellt, scheint diese Politik der Begünstigung der Zuwanderung vom Lande eher eine Anpassung an die ökonomischen und politischen Notwendigkeiten zu sein, als ein endgültiger Abschied von dem Haushalts-Registrierungssystem, denn die Migration wird lediglich innerhalb des Bezirks Lhasa gefördert. Es ist nichts über ähnliche Absichten in anderen Präfekturen der TAR bekannt. Der Bericht führt weiterhin aus, die in Aussicht gestellte Zuwanderung müsse unter "korrekter Anweisung" und "sorgfältiger Überwachung" stattfinden.

Die Erleichterung der Zuwanderung wird in dem Bericht wie folgt begründet: "Zur Ankurbelung einer arbeitsintensiven Wirtschaft sollte die Abwanderung ländlicher Arbeitskräfte in die Städte beschleunigt werden, so daß in den ländlichen Regionen das Einkommen steigt". Entwicklungsexperten erklären jedoch, daß eine nennenswerte Abwanderung in die Städte das statistische Pro-Kopf-Einkommen auf dem Land zwar erhöhen würde, ein echtes Wachstum auf dem landwirtschaftlichen Sektor jedoch nur durch bessere Vergütung der Erträge erreicht werden könne. Der Erfolg des Programms wird daher von der beabsichtigten Entwicklung der landwirtschaftlichen Erträge und deren Markttauglichkeit abhängen.

Die Bauern und Nomaden, die jetzt "zum Umzug in die Städte ermutigt werden", sollen dort einen "Arbeitsplatz suchen oder sich geschäftlich niederlassen". Deshalb soll jetzt ein Programm zur "Entwicklung und Expansion der Landkreise und Gemeinden" gestartet werden. Auf kurze Sicht sollen die Zuwanderer in solchen Infrastrukturprojekten in Lhasa beschäftigt werden, die zum "Western Development Programme" gehören und die mit Subventionen und Krediten der Zentralregierung finanziert werden. Es handelt sich dabei um den Ausbau der städtischen Wasserleitungen, die Einbeziehung der Lhalu-Sümpfe und des Zentralkanals, die Restauration von Häusern in der Altstadt, einen neuen Flügel für "allgemeinärztliche Behandlung" im städtischen Krankenhaus, die Uferbefestigung des Kyichu-Flusses, den Bau von Kraftwerken in ländlichen Gebieten, den Ausbau des Kommunikationsnetzes von Lhasa und eine ganze Reihe weiterer Projekte in Verbindung mit der Qinghai-Lhasa-Eisenbahn (einschließlich mehrerer Brücken, dem Bau eines Tunnels und des Bahnhofs, sowie von Stromverteiler- und Konverterstationen).