6. Februar 2003

Tibet Information Network
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Trotz Wirtschaftsbooms bleibt in den ländlichen Gebieten der TAR der Lebensstandard noch unter dem Niveau von 1992

Nach Schätzungen in den unlängst von dem staatlichen Amt für Statistik herausgegebenen Berichten hat die Wirtschaft der Autonomen Region Tibet (TAR) im Jahre 2002 alle anderen westlichen Provinzen Chinas an Wachstum übertroffen. Doch derartige statistische Kurzzeit-Berichte verschleiern in Wahrheit die Realität, das heißt für die Tibeter wurden besonders im letzten Jahrzehnt die Lebensbedingungen immer härter. 1992 verkündete Deng Xiaoping, daß reich werden etwas "Lobenswertes" sei. Die Küstenregionen Chinas verzeichneten bald ein phänomenales Wachstum. Aber in der Provinz, also den ländlichen Gegenden der TAR, wo etwa 85% der Tibeter leben, stiegen die Lebenshaltungskosten schneller als die Haushaltseinkommen an. Trotz des außerordentlichen wirtschaftlichen Wachstums sowohl im Stammland China als auch in den anderen Provinzen liegt die derzeitige Kaufkraft der ländlichen Einkommen in der TAR sogar noch unter dem Niveau vom Anfang der 90er Jahre. Chinesische Regierungsquellen schätzten damals, daß jeder fünfte Tibeter auf dem Lande in "absoluter Armut" (1) lebt. In diesem Zusammenhang ist es irreführend, wenn die Behörden von einem "beachtlichen Fortschritt" des Lebensstandards und der Armutsbekämpfung sprechen.

Die jüngsten Berichte der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua lassen ein wenig ahnen, wie die Ergebnisse der statistischen Erhebungen für 2002 in der TAR ausfallen werden. Diesen Berichten zufolge veranschlagt das "Regionale Amt für Statistik" für 2002 einen Anstieg des Bruttoinlandprodukts (2) der TAR um 12,4%. Weiter heißt es dort, daß sich das durchschnittliche Jahreseinkommen der Haushalte auf dem Lande (3), pro Kopf berechnet, von dem Vorjahreswert von 1.404 Yuan (103 GBP oder 170 USD) in diesem Jahr um 8,6% auf 1.525 Yuan (etwa 112 GBP oder 185 USD) erhöhte.

Selbst wenn man diesen geschätzten Zuwachswert als sicher annimmt, bedeutet er nur eine Erholung von den schweren wirtschaftlichen Rückschlägen in den Neunzigern. Während die Wirtschaft der TAR insgesamt schnell gewachsen ist, konzentriert sich die Dynamik auf die urbanen Gegenden oder den staatlichen Sektor, wodurch nur eine geringe Anzahl tibetischer Haushalte davon profitiert. Die Einkommenswachstumsrate der Haushalte auf dem Lande, wo die meisten der Tibeter wohnen, verzeichnete im letzten Jahrzehnt keine reale Steigerung. Der Lebensstandard des Durchschnittstibeters kann nicht in formellen Wachstumsziffern wiedergegeben werden, sondern sollte an der tatsächlichen Kaufkraft gemessen werden. Nach diesen Kriterien berechnet, lassen die offiziellen Statistiken der chinesischen Regierung auf eine katastrophale Lage schließen. 2002 lag das tatsächliche Einkommen in den ländlichen Gebieten der TAR beträchtlich unter dem von 1992.

Der Verbraucherpreisindex in ländlichen Gegenden, der von dem offiziellen "Amt für Statistik in Tibet" geliefert wird, zeigt, daß die Lebenshaltungskosten in der ländlichen TAR von 1992 bis 2001 um 97% gestiegen sind. Das Einkommen auf dem Lande wuchs in demselben Zeitraum jedoch um nur 69%. Daher war die tatsächliche Kaufkraft des ländlichen Einkommens 2001 um 14% geringer als sie es 1992 war. Selbst wenn man für 2002 eine Inflationsrate von Null ansetzt, würde gemäß den zuvor genannten Schätzungen das ländliche Einkommen 2002, was die Kaufkraft anbelangt, immer noch fast 7% unter dem Niveau von 1992 liegen. Wenn das ländliche Einkommen mit einem ähnlichen Faktor zunimmt, wird der durchschnittliche Lebensstandard der Bauern und Nomaden 2003 kaum das Niveau von 1992 erreichen. Die TAR ist die einzige Provinz Chinas, die in der von außerordentlichem Wachstum gekennzeichneten vergangenen Dekade einen solchen Rückgang zu verzeichnen hatte.

Zweimal gab es besonders heftige wirtschaftliche Rückschläge in den Neunzigern: 1994 fiel der reale Wert des ländlichen Einkommens in der TAR um fast 16%, und 1997 fiel er wieder um über 16%. Der Rückgang von 1994 war teilweise einer Inflation von über 30% in den ländlichen Gegenden zuzuschreiben. Der starke Rückgang von 1997 ist wahrscheinlich mit den extremen Wetterverhältnissen Ende jenes Jahres zu erklären. Diese Zahlen geben ein eindrucksvolles Bild der wirtschaftlichen Stagnation und Depression, unter der die Mehrheit der Tibeter in der TAR Mitte der Neunziger zu leiden hatte. Sie zeigen auch die zunehmende Anfälligkeit der Landwirtschaft in der TAR gegenüber wirtschaftlichen und umweltbedingten Schocks.

Angesichts des tristen Bildes, welches die ländlichen Gegenden der TAR wirtschaftlich gesehen bieten, ist kaum einzusehen, daß sich die Armutsquoten bedeutsam verringert haben sollen. In mehreren Berichten behauptet die chinesische Regierung, die Anzahl der in absoluter Armut lebenden Personen in der TAR habe sich von 480.000 Anfang der Neunziger 2002 auf 70.000 verringert. Ausgehend von dem tatsächlichen Wert des ländlichen Einkommens in dieser Zeitspanne scheint es, daß die Zählung der in Armut lebenden Personen keinen Anstieg in den Lebenshaltungskosten anzeigt. So kommt es, daß die Nomaden und Bauern, die früher als "in absoluter Armut lebend" bezeichnet wurden, statistisch gesehen "reicher" erscheinen, weil ihr Einkommen mehr geworden ist. Wahrscheinlich sind sie jedoch genauso arm wie zuvor, wenn nicht gar noch ärmer, wenn man bedenkt, daß die Kosten für Grundnahrungsmittel und Gebrauchsgüter gestiegen sind, ganz zu schweigen von den rapide zunehmenden Gebühren für Erziehung und Gesundheitsfürsorge.

Diese Einkommenszahlen stellen nicht etwa andere westliche Provinzen Chinas in den Schatten, sondern sie unterstreichen, verglichen mit dem übrigen China, den starken Rückgang bei dem Lebensstandard in ländlichen Gebieten der TAR während des letzten Jahrzehnts. Bis 1992 entsprachen die offiziell genannten Zahlen über die Einkommen ländlicher Haushalt in der TAR dem nationalen Durchschnitt und übertrafen sogar alle anderen westlichen Provinzen. Zwischen 1993 und 1997 fielen sie rasch, so daß sie zu den niedrigsten in ganz China gehörten und sogar noch unter denen von Guizhou lagen, das üblicherweise als die ärmste Provinz Chinas gilt. Dieses wenig beneidenswerte Niveau behielten sie bis 2001 bei. Nach den kürzlich veröffentlichten Zahlen für 2002 würden nur noch Guizhou und Shaanxi der TAR den letzten Platz streitig machen. Alle anderen westlichen Provinzen hatten bereits 2001 ländliche Einkommen von über 1.500 Yuan genannt. Wenn es also heißt, das tibetische ländliche Einkommen würde schnell wachsen, so ist zu bedenken, daß dieses Wachstum von dem niedrigsten Niveau in der Region ausgeht.

1 "Absolute Armut" bedeutet, daß eine Person nicht genügend Einkommen hat, um etwa 2100 Kalorien pro Tag an Nahrungsmitteln zu verzehren, was als das Minimum zum Überleben für einen Menschen gilt.

2. Bruttoinlandprodukt: Die Gesamtheit der wirtschaftlichen Tätigkeit in einer Provinz, die ausländische Handelsbilanz nicht einbezogen.

3. Der spezifische Begriff lautet "pro Kopf Nettoeinkommen ländlicher Haushalte". "Pro Kopf" bedeutet, daß das Einkommen eines Haushaltes durch die Anzahl seiner Mitglieder geteilt wird. "Nettoeinkommen" bedeutet, daß die Kosten von den Bruttoeinkünften des Haushaltes abgezogen wurden. Das ist besonders in der TAR wichtig, weil das ländliche Einkommen meistens aus Haushaltserträgen und nicht aus Lohnzahlungen resultiert.