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Chinesische Kader lernen tibetisch und ziehen westwärts: Die Auswirkungen der Urbanisation
Die ersten 70 chinesischen Kader, die an der Tibet University tibetische Sprache studierten, haben im Juli graduiert; sie werden jetzt in Städte und Gemeinden in die Gegend von Lhasa geschickt, um dort in offizieller Stellung tätig zu sein. In der chinesischen Presse wurde des weiteren berichtet, 6.000 chinesische Universitätsabsolventen hätten sich freiwillig verpflichtet, in den westlichen chinesischen Provinzen, wozu auch Tibet gehört, in den Bereichen Hygiene, Gesundheit, Landwirtschaft und anderen zu arbeiten. Diese beiden Schritte sind ein Zeichen dafür, daß die Behörden im Zuge der Durchführung ihrer weitreichenden Pläne für die Entwicklung des Westens bestrebt sind, gut ausgebildete Arbeitskräfte zur Einwanderung in die Region zu bewegen. Die gegenwärtige Reform der Wohnsitz-Registrierung (der zufolge chinesische Arbeitnehmer sich in tibetischen Gebieten als Einwohner registrieren lassen und gleichzeitig den in ihrer Heimatregion eingetragenen Wohnsitz behalten können) gibt dem anhaltenden Transfer von chinesischen Fachkräften in die tibetischen und sonstigen westlichen Gebiete der VR China nun eine offizielle Form.
Viele der chinesischen Kader, die diesen Sommer den dreijährigen Studiengang in tibetischer Sprache abgeschlossen haben, werden vermutlich in gehobener Position im gegenwärtigen chinaweiten Urbanisationsprogramm für die ländlichen Regionen eingesetzt werden. Hierzu gehört auch die Zusammenfassung kleinerer Gemeinden zu größeren Verwaltungseinheiten. Gemeinden (chin: xiang), die nahe einer Stadt liegen oder die bereits selbst eine Kleinstadt bilden (chin: zhen), werden mit benachbarten Gemeinden vereint und erhalten einen anderen Namen. Es handelt sich hierbei um die Umsetzung des im 15-Jahres-Plan für die TAR vorgesehenen Aufbaus von 106 neuen städtischen Zentren bis zum Jahr 2005. In dem zehnten 5-Jahres-Plan der TAR (2001-2005) heißt es: "Das Tempo der Entwicklung der Kleinstädte wird sich beschleunigen, wobei die Urbanisation wird bei ungefähr 19 % liegen wird". Die Ressourcen werden in den jeweiligen Verwaltungszentren konzentriert, und das Gesundheits- und Erziehungswesen von dort aus gesteuert. Bei der Bevölkerung besteht die Befürchtung, daß tibetische Kader nun ihre Posten verlieren und durch chinesische Kader - etwa durch solche, welche die tibetische Sprache erlernt haben - ersetzt werden könnten. Diese Ängste spiegeln die allgemeine Verunsicherung der Tibeter angesichts der anhaltenden Bedrohung ihres Lebensunterhalts - hervorgerufen durch den Zuzug sowohl gelernter wie auch ungelernter chinesischer Arbeitskräfte in tibetische Gebiete - wider, ebenso wie die Probleme, denen sie sich im Hinblick auf die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gegenübersehen.
Laut Aussage der Behörden ist der Zweck der Urbanisierung der ländlichen Gebiete die Verbesserung der sozialen Leistungen, die Gründung neuer Produktionsstätten, die Anhebung des Lebensstandards der Landbevölkerung und die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen für tibetische Landbewohner. Obwohl die Mehrzahl der Tibeter auf dem Lande wohnt, hat sich das wirtschaftliche Wachstum bisher auf die städtischen Regionen konzentriert, und hier hauptsächlich auf den Bau- und Tertiärsektor, wozu Handel, Transport, Dienstleistungen und Verwaltung bzw. der Parteiapparat zählen. Andrew Fischer, ein Wirtschaftswissenschaftler für Entwicklung mit Fachgebiet Tibet, sagt: "Die radikale Umstrukturierung der Wirtschaft in der TAR, die seit dem Beginn der Western Development Strategy im Jahr 1999 noch rasanten vonstatten geht, entfremdet die Landwirtschaft und Kleinindustrie und bewegt sich in Richtung städtische Dienstleistungen und große Bauprojekte. Dem ist so ungeachtet der Tatsache, daß die TAR neben Yunnan die ländlichste Provinz Chinas ist" (s.a. TIN News Update, 31. Mai 2003 "The Rich get Richer, and the Poor? Rural poverty and Inequality in Tibet - Indications from recent official Surveys"). Trotz offizieller chinesischer Statistiken zum Wachstum in der TAR war die Rate extremer Armut, gemessen an der offiziellen chinesischen Armutsgrenze, bis Ende der Neunziger Jahre im Steigen begriffen und wies im Jahr 1999 mit das höchste Niveau in der VR China auf - ein wenig höher noch als in Qinghai.
Die Tendenz zu weniger, dafür aber kompakteren Gemeinden wird vermutlich dramatische Auswirkungen auf die Lebensführung der Landbevölkerung haben - eine Folge wird zum Beispiel die Umsiedelung von Tibetern aus weiter entfernten ländlichen Gegenden in die neuen Städte sein. Vor kurzem liefen in allen Präfekturen der TAR experimentelle Pilotprogramme zur Umsiedelung von Landbewohnern in die neuen Gemeinden an, um die Realisierbarkeit dieser Politik zu prüfen. Sie beinhaltet auch "Vorzugsbehandlung", wie z.B. leichteren Zugang zu Krediten für den Aufbau neuer Unternehmen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind ein paar ganze Familien zu den Standorten des Pilotprojekts umgezogen, in den meisten Fällen handelt es sich aber um ein bis zwei Familienmitglieder.
Ein Artikel im einflußreichen Magazin Qiu Shi (Wahrheitssuche), einem alle zwei Wochen in Peking erscheinenden Journal des Parteikomitees, betonte die Wichtigkeit derartiger Urbanisierungsprogramme für die Western Development Strategy (Strategie zur Entwicklung des Westens). In dem Artikel von Shi Peijun und Liu Xuemin zum Thema "Neue Ideen für die Entwicklung des Westens" stand folgendes: "Die Urbanisation ist ein wichtiges Verbindungsglied, das man nicht vernachlässigen darf. Mittels industrieller Entwicklung sollten wir die verstreut lebenden Bauern und Hirten in den westlichen Regionen in die Lage versetzen, in geschlossenen Gemeinden zu leben, auch nicht-landwirtschaftlichen ökonomischen Tätigkeiten nachzugehen und an dem modernen Lebensstil teilzuhaben. In der Zwischenzeit sollten wir weiterhin an der Wiederherstellung des Ökosystems, dem Umweltschutz und der wirtschaftlichen Entwicklung arbeiten und die äußerst verstreut lebende Bevölkerung in ökologisch fragilen Gegenden zur Migration in die neuen Dörfer und Kleinstädte bewegen" (Qiu Shi in chinesischer Sprache, 16. Februar 2003).
Dieselben politischen Richtlinien für die Urbanisierung von Landgebieten, die Vereinfachung des Procedere für Arbeitssuchende, vom Land in auf Gemeindebene werden gegenwärtig überall in China, nicht nur in den tibetischen Gebieten, umgesetzt.
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Chinesische Universitätsabsolventen verpflichten sich freiwillig in die westlichen Regionen
Im August berichtete die chinesische Presse über die Bewerbung von 43.763 Universitätsabsolventen, die freiwillig im Westen Chinas arbeiten wollen. 6.000 davon wurden eingestellt. Es ist dies ein Teil des vom Zentralkomitee der chinesischen kommunistischen Jugendliga sowie vom Erziehungsministerium veröffentlichten neuen Jahresprogramms, dessen Ziel es ist, Hochschulabsolventen anzuwerben, die "bei der Entwicklung der verarmten Regionen Chinas mithelfen" (Xinhua, 10. Juni). Nachdem sie in verschiedenen Bereichen wie Erziehung, Gesundheitswesen, Armutsbekämpfung oder Agronomie tätig gewesen sind, "bleibt es ihnen selbst überlassen, ob sie weiterhin im Westen arbeiten oder lieber ihre Chancen in anderen entwickelten Regionen des Landes wahrnehmen wollen", ließ Zhao Yong, Sekretariatsmitglied des Zentralkomitees der chinesischen kommunistischen Jugendliga, verlauten. Die große Anzahl der Bewerber für diese Volontärstellen spiegelt die schwierige Arbeitsmarkslage für chinesische Hochschulabsolventen wider - der Xinhua-Artikel berichtet von 2,12 Mio. Studienabgängern im laufenden Jahr, das sind 602.000 mehr als letztes Jahr, als die höheren Bildungsinstitutionen in China begannen, die Einschreibequoten zu erhöhen.
Eine Gesamtzahl von 6.000 Freiwilligen mit Hochschulabschluß ist angesichts der gewaltigen Ausdehnung der westlichen Regionen der VR China relativ gering - es handelt sich hierbei um die Stadt Chongking, die Provinzen Sichuan, Guizhou, Yunnan, die TAR, die Provinzen Shaanxi, Gansu und Qinghai, die Autonome Region Ninxia-Hui, die Uighurische Autonome Region Xinjiang, die Innere Mongolei und Guangxi Zhuang (die beiden letzteren gehören zwar nicht zu den westlichen Regionen der PRC, wurden jedoch im Hinblick auf die "Western Development Strategy" als westliche Gebiete eingestuft). Die Absicht der Regierung, im Rahmen der "Western Development Strategy" mehr gut ausgebildete Arbeitskräfte nach Tibet und in andere westliche Regionen zu locken, ist indessen eindeutig zu erkennen.
Li Dezhu, eines der Gründungsmitglieder der "Führungsgruppe des Staatsrats zur Entwicklungsplanung für den Westen", sagte im Juni 2000, der "Bevölkerungsfluß in beide Richtungen" sei eine "unvermeidliche Begleiterscheinung" bei der Entwicklung des Westens. In einem Artikel in Qiu Shi vom 1. Juni 2000 bezeichnete er die Abwanderung von Menschen aus den westlichen Regionen in Richtung Osten als eine Folge des rapiden Fortschritts in den chinesischen Küstenregionen und fuhr fort: "Durch die Umsetzung des groß angelegten Entwicklungsplans für den Westen wird sich der Fortschritt in den westlichen Gebieten erheblich beschleunigen, und viele talentierte Fachkräfte werden westwärts strömen, wenn die westlichen Regionen von Politik und Kapital begünstigt werden. Wenn der Westen in großem Maßstab entwickelt wird, könnte man vielleicht gar die Metapher 'Der Pfau fliegt nach Westen' anwenden".
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Die Wohnsitz-Reform erleichtert weitere Zuwanderung von chinesischen Arbeitskräften
Die im Gang befindliche Reform des chinesischen Haushalts-Registrierungssystems wird vermutlich zur vermehrten Zuwanderung von gelernten und ungelernten chinesischen Arbeitskräften sowie Hochschulabgängern in die tibetischen Gebiete führen. China ist eines der wenigen Länder, welche die Wohnsitz-Registrierung praktizieren, was dazu führt, daß die Bürger ihre Registrierung bei jedem Umzug ändern müssen. Die diesbezügliche Neuordnung betrifft ganz China - es heißt, der einflußreiche Hardliner Luo Gan, ein Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros des Zentralkomitees der KP sei einer von denjenigen, welche diese Reformen initiiert hätten. Sie stehen in engem Zusammenhang mit der Western Development Strategy. Die Behörden wollen es der chinesischen Bevölkerung erleichtern, im Hinblick auf Arbeit in den Westen zu ziehen: Die Leute können dort, sofern sie es wollen, ihren Wohnsitz anmelden und trotzdem ihren bisherigen Wohnsitz in ihrer Heimatregion beibehalten, damit sie gegebenenfalls dorthin zurückkehren können.
Im August kündigte das Ministerium für öffentliche Sicherheit an, der Staat würde die Bestimmungen für die Haushalts-Registrierung in den westlichen Regionen lockern, "um Universitätsabsolventen und Investoren zum Umzug und zu Investitionen zu ermutigen". (China Daily, 8. August). Die neuen Regelungen ermöglichen Hochschulabsolventen und Investoren, die Registrierung ihres Wohnsitzes in die westlichen Region, wo sie arbeiten, und wieder zurück in ihre Heimat zu verlegen, während Arbeitnehmer, die ihren Wohnsitz in großen oder mittleren Städten angemeldet haben und beschließen, zu Arbeitszwecken in Kleinstädte oder Landgebiete umzuziehen, ihren ursprünglich registrierten Wohnsitz beibehalten dürfen.
Die chinesische Presse berichtete bereits vor einigen Jahren von der geplanten Reform der Wohnsitz-Ordnung; anscheinend ist mittlerweile das Durchführungsstadium erreicht. Am 4. Juli 2000 schrieb Xinhua: "Die neuen Richtlinien sollen die Grundlage für die Umsetzung der Western Development Strategy schaffen und eine vernünftige und geordnete Zuwanderung bewirken." Ein am 27. Dezember 2001 von Xinhua herausgegebenes Zirkular des Staatsrates zur Durchführung der Richtlinien bezüglich der Entwicklung der westlichen Regionen unterstrich die Bedeutung der Reform der Haushalts-Registrierung und der Verstärkung des "Kader-Austauschs zwischen den westlichen und östlichen Gebieten". Weiter hieß es in dem Rundschreiben: "Alle Personen mit legalem und ständigem Wohnsitz sowie einer festen Anstellung oder einer anderen gesicherten Einkommensquelle in einer Stadt unterhalb von Präfekturebene (einschl. der Präfektur-Städte) oder in Kleinstädten in den westlichen Regionen können einen regulären städtischen Wohnsitz beantragen, falls sie es wünschen. Ein sinnvoller Transfer von überzähligen ländlichen Arbeitskräften und eine Migration zwischen den Regionen werden ausdrücklich ermutigt".
Die Wohnsitz-Reform formalisiert die in China schon seit Jahren zu beobachtende Bevölkerungsverschiebung. Sie fördert damit eine zeitweise Form der Migration, bei der den Arbeitnehmern die Sicherheit ihres heimatlichen Wohnsitzes erhalten bleibt, während sie sich anderswo für eine bestimmte Zeit niederlassen können und trotzdem die Möglichkeit haben, nach Hause zurückzukehren. In der Praxis wird es bestimmt leichter sein, einen Wohnsitz in den Regionen im Westen zu erhalten, wo die Behörden Arbeiter hinlocken wollen, als beispielsweise in Großstädten wie Peking. Die neuen Regelungen erleichtern chinesischen Arbeitnehmern auch die permanente Niederlassung in tibetischen Gebieten - gemäß den im Oktober 2000 erlassenen Regelungen können Investoren und Studenten nach drei Jahren einen permanenten Einwohnerstatus erhalten. Dies könnte langfristig gesehen das ethnische Gleichgewicht in den tibetischen Gebieten negativ beeinflussen.
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