16. März 2004

Tibet Information Network
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Nachruf auf "Tsemonling" Dawa

Am 22. Februar 2004 verstarb der betagte ehemalige politische Gefangene Dawa "Tsemonling" in Lhasa. Er steht für eine Generation von Männern und Frauen, die in den 80er und 90er Jahren das Schicksal vieler politischer Gewissensgefangener aus dem Raum Lhasa dadurch zu erleichtern versuchten, daß sie ihnen Lebensmittel ins Gefängnis brachten. Es gibt kaum Berichte hierüber und auch die Namen der meisten Beteiligten sind nicht bekannt. Erst mit dem Tod von Dawa ist einiges davon ans Tageslicht gekommen.

Der in Tsemonling, Lhasa, geborene Dawa war Mönch im Kloster Sera, also ein Angehöriger der sogenannten "alten Gesellschaft". Anders als viele andere frühere Mönche, die während der Kulturrevolution zwangsweise laisiert wurden und danach heirateten, blieb Dawa bis zu seinem Lebensende Mönch. Er verstarb am Abend des 22. Februar 2004, dem zweiten Tag des tibetischen Mondjahres, im Alter von 67 Jahren.

Wie die meisten Menschen aus dieser Epoche erlebte er die politischen Wirren ab 1959 während des "Großen Sprungs nach vorn" und der Kulturrevolution aus nächster Nähe mit. In den 60er Jahren wurde er zur Zwangsarbeit in das Wasserkraftwerk Nyachen im Bezirk Lhasa und zum Bau eines Elektrizitätswerks in Payi, Kongpo, abkommandiert. Nach seiner Rückkehr nach Lhasa konnte er sich durch Hilfsarbeiten beim Bau am Leben halten.

Als es in den achtziger Jahren in der TAR zu einer gewissen politischen Öffnung kam, und in der Zeit vor den Massendemonstrationen in den späten Achtzigern soll Dawa politisch recht aktiv gewesen sein. So soll er 1979, beim Besuch der ersten Delegation der tibetischen Regierung-im-Exil aus Indien, öffentlich ein freies Tibet gefordert haben. Daraufhin wurde er von den Behörden vernommen, aber nur vorübergehend eingesperrt. Mitte der 80er Jahre wurde er erneut festgenommen und sechs Monate lang im Haftzentrum Gutsa inhaftiert.

Am 5. März 1988, nachdem er ohne Erfolg versucht hatte, Mönche aus Drepung, für deren Sicherheit er fürchtete, von einer Demonstration abzuhalten, ging Dawa ganz alleine mit einer tibetischen Flagge in der Hand zum Barkhor, dem spirituellen und kulturellen Herzen des alten Lhasa. Er wurde verhaftet, in die Gutsa-Haftanstalt gebracht und später für eine dreijährige Administrativhaft ins Zwangsarbeitslager Trisam zur Umerziehung geschickt. Nach zwei Jahren Haft wurde er jedoch aus gesundheitlichen Gründen entlassen, da er unter einer Darmerkrankung litt, deretwegen er später operiert wurde.

Im Juli 1997 wurde Dawa erneut verhaftet, vermutlich, weil er Nahrungsmittel für die politischen Gefangenen in den Gefängnissen und Haftzentren in und um Lhasa gesammelt und verteilt hatte. Die Behörden verfolgten derartige Aktivitäten mit Mißtrauen und erschwerten sie zunehmend. Es könnte allerdings auch sein, daß er verhaftet wurde, weil die Behörden fürchteten, es könne während der Feierlichkeiten zur Übergabe von Hongkong oder während des Geburtstags des Dalai Lama zu Störungen kommen.

Im Juni 2000 wurde er entlassen und war fortan in Lhasa zu Hause. 2003 erlitt er einen Schlaganfall. Freunde in seinem Alter erinnern sich seiner als eines selbstlosen Mannes, der nicht auf Ruhm und Ansehen bedacht war. Einer von ihnen berichtete: "Er half den Leuten, egal, ob sie mit ihm verwandt waren oder nicht, und er war bekannt dafür, daß er anderen Gefangenen, die nicht genügend anzuziehen hatten, seine eigenen Kleider gab. Nach seiner Entlassung nahm er andere freigelassene Gefangene bei sich auf, die sich wiederum um ihn kümmerten."

Ein ehemaliger Gefangener, der 1990 im Haftzentrum Gutsa Freundschaft mit Dawa geschlossen hatte, schildert seinen Gefährten so: "Ich war 1990 einige Monate lang zusammen mit Gen Dawa-la in Gutsa. Er war damals zum Saubermachen der Zellen und Gießen der Blumenbeete eingeteilt. Als ich nach Sangyip verlegt wurde, war Gen Dawa-la bereits entlassen und pflegte mit Lebensmitteln in unser Gefängnis zu kommen. Er brachte uns gekochte Kartoffeln und getrocknetes Fleisch und manchmal auch süßen Reisbrei mit Butter, zuweilen sogar batsa magu, eine tibetische Spezialität aus gekochten Teigballen mit geschmolzener Butter und getrocknetem Käse. Anfangs kam er in einem gemieteten Fahrzeug und brachte riesige, mit Essen gefüllte Töpfe mit. Später untersagten ihm die Wachen das, weshalb er von da an mit großen Taschen, die in kleinere Plastiktüten verpackte Nahrungsmittel enthielten, ankam. Zwei oder drei Gefangene nahmen eine größere Anzahl der Plastiktüten an sich und verteilten sie unter die anderen politischen Häftlinge. Als ich später mit einer Verwaltungsstrafe belegt wurde, die ich in dem Lager Toelung zur Umerziehung-durch-Arbeit verbüßte, kam er auch dorthin und brachte uns Essen. Aber damit war nicht genug: Er ging auch zu den verschiedenen Haftanstalten, um die politischen Gefangenen dort zu besuchen.

Gen Dawa-la war immer heiter und machte gerne Witze, er lachte viel und war stets entspannt. Auch als er im Gefängnis war, wirkte er nicht wie ein Häftling. Das half uns sehr, denn wir waren noch jung, als man uns einsperrte und vermißten sehr unser Zuhause. Wenn wir ihn sahen und seinen fröhlichen Gesprächen zuhörten, wurden wir dadurch aufgeheitert, und wenn wir ihn anblickten, wurde uns bewußt, daß wir alle in der gleichen Lage waren. Scherzend sagte er, wir seien im Gefängnis doch gut aufgehoben. Hier brauchten wir uns nicht zu fürchten, wir hätten Wachen, die auf uns aufpaßten, keiner könne uns etwas antun, morgens bekämen wir etwas zu essen und wir seien nicht den Sorgen und Beschwernissen der Gesellschaft außerhalb dieser Mauern ausgesetzt. Als ich ihn nach seiner Entlassung in seinem Haus in Ramoche besuchte, war er immer noch derselbe heitere Mensch. Er erklärte mir, er würde sich gerade auf eine weitere Gefängnisstrafe vorbereiten, obwohl er nicht sicher wäre, wann er abberufen würde. Ansonsten war er immer aktiv, wenn er nicht gerade im Gefängnis saß. In Lhasa war er allen wohlbekannt und wurde häufig von tibetischen Familien gerufen, in denen jemand gestorben war. Gen Dawa-la wußte genau, welche Gebetszeremonien organisiert und was sonst noch für die Bestattungsriten zu tun war, was man den Mönchen, welche diese durchführten, geben mußte und so weiter. Dawa kümmerte sich um alles, und die Leute in Lhasa wußten, daß er am besten für diese Aufgabe geeignet war.

Gen Dawa-la half entlassenen politischen Gefangenen bei der Suche nach Arbeit und einem Dach über dem Kopf. Weil er so viele Menschen kannte, konnte er es manchmal bewerkstelligen, daß der eine oder andere bei einem seiner Bekannten Unterschlupf fand. Mit seinem Ableben haben wir ehemaligen politischen Gefangenen einen echten Freund verloren, jemand der uns aufrichtete, der vielen von uns zu einer Unterkunft und einer Arbeitsstelle verhalf und auch jemanden, dem wir voll und ganz vertrauen konnten. Ganz besonders wichtig ist es nämlich, in der schwierigen Zeit nach der Entlassung aus dem Gefängnis jemand zu haben, dem man sein Herz öffnen und dem man vollkommen vertrauen kann."