4. Oktober 2003
Unabhängiger Bericht von Kate Saunders

Änderungen bei der offiziellen Formulierung der US Position in der Tibet-Frage

Der politische Standpunkt der US Regierung zu Tibet wurde durch eine neue Definition dessen, was tibetisches Territorium ist, bereichert. Bisher haben die USA Tibet stets als die "Autonome Region Tibet" definiert, womit die tibetischen Siedlungsgebiete in Kham und Amdo, die jetzt in die chinesischen Provinzen Qinghai, Sichuan, Yunnan und Gansu integriert sind, unberücksichtigt gelassen wurden. Die neue Formulierung bezieht sich indes sowohl auf die autonomen tibetischen Präfekturen und Distrikte als auch auf die Autonome Region Tibet (TAR). Einem von der "Exekutiv-Kommission des Kongresses zu China" (Congressional Executive Commission on China = CECC) am 2. Oktober veröffentlichten Bericht zufolge wird die neue Begriffsbildung erstmals in dem demnächst erscheinenden Bericht des State Departments (Außenministeriums) über Religionsfreiheit in aller Welt offiziell Verwendung finden. Was die Souveränität Chinas über tibetisches Territorium betrifft, hat die US Regierung ihre Position jedoch beibehalten. Nach wie vor betrachtet sie die TAR und die tibetischen Präfekturen und Distrikte als Teile der Volksrepublik China. Aber die neue Formulierung besagt, daß die US Regierung nun die Bedeutung der tibetischen Gebiete außerhalb der TAR anerkennt. Und eben dies ist wichtig im Hinblick auf einen eventuellen Fortschritt im Dialog zwischen China und dem Dalai Lama nach den beiden erst vor kurzem erfolgten Besuchen seiner Emissäre. Das Ziel des Dalai Lama ist eine tatsächliche Autonomie unter chinesischer Oberhoheit.

Bei der neuen Formulierung der USA wird vermieden, die tibetischen Siedlungsgebiete als ein einheitliches administratives Gebilde darzustellen. In dem unlängst veröffentlichten Jahresbericht der CECC wird den verschiedenen Interpretationen des Begriffes Tibet Rechnung getragen, wenn da steht, daß die TAR, welche etwa die Hälfte des gesamten tibetischen Siedlungsraums umfaßt, in etwa dem Territorium entspricht, das zum Zeitpunkt der Gründung der PRC 1949 der tibetischen Regierung in Lhasa unterstand. In dem Bericht des CECC (einem Gremium, das im Oktober 2000 vom US-Kongreß geschaffen wurde und von Gesetz wegen die Aufgabe hat, die Situation der Menschenrechte und die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in China zu verfolgen) heißt es: "Einer einzigen Hauptstadt zu unterstehen, ist für viele Tibeter entscheidend für den 'Begriff' Tibet, doch seit das tibetische Großreich im 9. Jahrhundert auseinandergebrochen ist, erlangte keine tibetische Hauptstadt jemals wieder Autorität über die Gesamtheit des Gebietes, das heute von China als 'tibetisches' bezeichnet wird" (www.cecc.gov/pages/annualRpt/annRpt2003.php).

In einem Interview mit dem chinesisch-sprachigen Hong-Konger Magazin Kai Fang ("Offen") räumte der Dalai Lama vor kurzem ein, daß die Regierung in Lhasa um 1951 nicht einmal das gesamte Zentraltibet kontrollierte. Als Antwort auf eine Frage hinsichtlich der "direkt der ursprünglichen tibetischen Regierung unterstehenden Gebiete", meinte er, daß sich die Frage wohl auf jene Gebiete beziehe, die zur Zeit der Unterzeichnung des 17-Punkte Abkommens unter die Kontrolle der tibetischen Regierung fielen. "Wenn ich nach Unabhängigkeit streben würde, dann würde ich mir über andere Regionen wie Qamdo (tib. Präfektur Chamdo) keine Gedanken machen, weil sie nicht in den Bereich der direkten Verwaltung [der ursprünglichen tibetischen Regierung] fielen, oder über das, was östlich des Yangtse Flusses als der Grenze liegt [gemeint ist der Jinshajiang Landstrich von Tongtianhe am Oberlauf des Yangtse]. Was ich meine, ist, daß wir in demselben Land wohnen wollen, innerhalb der Zuständigkeit Chinas, also in der Volksrepublik China. Ginge es mir unter dieser Voraussetzung nur um einen Teil und wären mir die anderen, welche dieselben Erwartungen haben, egal, dann wäre das völlig ungerechtfertigt, unvernünftig und unbegreiflich" (1. August 2003).

Die CECC stellt in ihrem Jahresbericht fest, daß nur 90 % des Territoriums, welches die tibetische Regierung-im-Exil als "Tibet" bezeichnet, von China als Gebiete tibetischer Autonomie ausgewiesen wird: "Die Vorstellung der tibetischen Regierung-im-Exil von Tibet ist um etwa 100.000 Quadratmeilen größer als die Gesamtfläche der chinesisch definierten tibetisch-autonomen Gebiete. Abgesehen von einigen traditionellen tibetischen Enklaven in Qinghai besteht das meiste davon aus autonomen Präfekturen oder Distrikten, die einer ethnischen Volksgruppe zugewiesen wurden". Der CECC Bericht, welcher betont, daß China stets der nationalen Integration vor der lokalen Autonomie Vorrang gibt, erwähnt auch, daß fast 94 % der Tibeter in den als "autonom tibetisch" bezeichneten Gebieten wohnen.

Das Problem des tibetischen Territoriums wird von vielen Beobachtern als Schlüssel zu einer Beilegung der Kontroverse zwischen China und der tibetischen Regierung-im-Exil angesehen. Es gibt Anzeichen, daß Peking allmählich einsieht, wie wichtig es für den Dalai Lama und die tibetische Regierung-im-Exil ist, daß alle tibetischen Regionen zu Tibet gehören, und daß alle tibetischen autonomen Gebiete in die Diskussion miteinbezogen werden. Einer tibetischen Delegation unter der Leitung des Sondergesandten des Dalai Lama, Lodi Gyari wurde während ihres China-Besuches im Mai d.J. erlaubt, Gyalthang (chin. Zhongdian) in der TAP Dechen (chin. Diqing) in der Provinz Yunnan zu besuchen. Die TAP Dechen gehört zu der traditionellen Region Kham.

In seinem Interview mit dem Magazin "Offen", einer nicht staatseigenen Monatszeitschrift, die politische Themen in China behandelt, sagte der Dalai Lama: "Wenn ich nur die tibetischen Religionen und Kulturen in der derzeitigen Autonomen Region Tibet im Sinne hätte und die tibetischen Religionen und Kulturen außerhalb davon ignorierte, was für Folgen hätte dies? Alle Tibeter setzen große Hoffnung auf mich und haben ihren Halt in mir. Wenn ich sagen würde, daß ich mich um nichts außerhalb der TAR kümmere, was für Folgen hätte dies? Es ist doch ein Land. Was wäre, wenn ich nur an einige Teile denken und die anderen ignorieren würde? Wenn ich für die Unabhängigkeit eintreten und sagen würde, daß die von der einstmaligen tibetischen Regierung direkt verwalteten Gebiete unabhängig sein sollen, dann würde dies ja bedeuten, daß mir die Regionen außerhalb der TAR egal sind".

Die chinesische Regierung hat die von ethnischen Tibetern bewohnte geographische Region in 13 Verwaltungszonen aufgeteilt, die zusammen 2,24 Mio. qkm ausmachen. Die Autonome Region Tibet (TAR) (chin. Xizang Zizhiqu) wurde 1965 von der PRC errichtet und umfaßt das Gebiet westlich des Yangtse Flusses, das früher unter die Jurisdiktion der Regierung des Dalai Lama fiel und auf Englisch oft als Zentraltibet bezeichnet wird. In den frühen fünfziger Jahren wurden andere von Tibetern bewohnte Gebiete in die chinesischen Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan inkorporiert, und wo immer tibetische Gemeinden in diesen Provinzen ein "kompaktes Habitat" bildeten, wurden sie als Tibetisch Autonome Präfekturen bezeichnet.

Dies ist einer aus einer Reihe von unabhängigen Berichten von Kate Saunders [mailto:ks@insidetibet.net], beauftragt von Australia Tibet Council, Free Tibet Campaign und International Campaign for Tibet. Diese Berichte erscheinen auch auf den TSG-Listen, einem internationalen Mailservice für Tibet-Unterstützer, und in World Tibet News, einer Sammlung von Nachrichten zu Tibet, archiviert unter: www.tibet.ca/wtnnews.htm