6. Dezember 2010 |
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Rückkehr nach Lhasa, um die aktuelle Lage in Augenschein zu nehmenvon Tsering Woeser High Peaks Pure Earth übersetzte einen von Tsering Woeser verfassten Blogbeitrag, der ursprünglich zur Aussendung am 17. November 2010 auf Radio Free Asia erstellt worden war und am 25. November auf ihrem Blog veröffentlicht wurde. Dieser Beitrag stellt eine Reflexion über ihren Aufenthalt in Lhasa dar und zeichnet ein lebendiges Bild der Militärpräsenz und der Veränderungen im Gesicht der Stadt. Nach einem koordinierten Cyber-Angriff auf Woesers Blog, ihre Profilseiten bei Twitter und Facebook und ihre Gmail-Adresse am 23. November 2010 war dieser Beitrag der erste, der auf ihrem Blog hochgeladen wurde. Zum Zeitpunkt seiner Abfassung waren alle ihre Internetseiten, außer dem Gmail-Konto, wiederhergestellt. Anfang Oktober verließ ich Beijing und reiste nach Lhasa zu meiner Familie. Ich verbrachte über einen Monat dort. Während meines Aufenthalts erhielt ich aus erster Hand Informationen über deutliche und weniger offenkundige Entwicklungen und Veränderungen, die in Lhasa im Laufe einiger Tage, Wochen und Monate voller Anspannung vor sich gingen. Diese Veränderungen waren in der ganzen Stadt spürbar. So hatte ich zum Beispiel während meiner ersten Tage in Lhasa den Eindruck, dass sich in allem eine Wende zum Besseren abzeichnete, seit die Wachposten an der Kreuzung der Sholgrong Sar Road nicht mehr da waren (1). Wenn man mitten in der Nacht den Barkhor entlangging, begegnete man zwar immer noch Wachen, die Rücken an Rücken standen, oder auch über sechzig bewaffneten Soldaten; und auch auf dem Weg von der Tsemonling Road zur Shonnu Road traf man auf über dreißig bewaffnete Soldaten, die durch die Straßen patrouillierten. Es waren jedoch immer noch sehr viel weniger als im März, als man sich einer Unmenge Soldaten gegenüber sah. Doch schon bald herrschte erneut eine angespannte Atmosphäre in Lhasa. Die Wachen an der Sholgrong Sar Road kehrten natürlich alle wieder zurück, auch der Bereich um den heiligen Lukhang war wieder voller bewaffneter Polizei, und noch weniger überraschend auf dem Barkhor und in den von Tibetern bewohnten Bezirken, z. B. in Karma Kunsang, ging es zu wie in Bagdad, wie die Bewohner von Lhasa sagen würden. Etwa eine Woche lang kreisten täglich in der Morgendämmerung sehr tief fliegende Militärhubschrauber am Himmel über Lhasa. Selbst vom zweiten Stock aus konnte ich diese Hubschrauber sehen, wie sie donnernd an meinen Fenstern vorbeiflogen. Wir alle wussten, dass das Militär uns terrorisierte, und es waren nicht wenige, die sich durch diese ungeheure militärische Aktion terrorisiert fühlten es war offensichtlich, dass sich diese Aktion gegen all jene richtete, die „nicht zu uns gehören“. Eines Nachmittags, als Wang Lixiong und ich von der nördlichen Lugu Alley (Lugu Lu) in den Barkhor einbogen und die Tsemonling Road, die Beijing East Road (Beijing Donglu) und am Lukhang entlanggingen, sahen wir überall Wachen, patrouillierende bewaffnete Polizisten, Polizei-Spezialeinheiten, Sicherheitsbeamte, Türsteher, Polizisten in Zivil und so weiter. Grob geschätzt, müssen über tausend solcher Leute dort gewesen sein. Als wir an der Polizeistation am Barkhor vorbeikamen, erblickten wir Dutzende junger bewaffneter Soldaten, die innen zwei Kolonnen bildeten und trainierten, boxten und miteinander rangen. Die Luft war erfüllt von Kampfgeschrei, und an ihren Köpfen prangte in grellroter Farbe der Slogan: „Armee und Volk vereinigt euch - baut gemeinsam Harmonie auf“, der uns ziemlich paradox erschien. Viele Touristen blieben stehen, um zuzusehen, darunter auch einige aus westlichen Ländern, die erstaunt dreinblickten. Wang Lixiong sagte, beim Anblick solcher Szenen müssten westliche Touristen den Eindruck gewinnen, Tibet stehe unter Kolonialherrschaft. Die Kommunistische Partei meint jedoch, sie sei mächtig genug, um sich nicht damit abgeben zu müssen, etwas zu verbergen. Natürlich ist die Szenerie um den Potala herum eine völlig andere; von Bewohnern Lhasas wird diese Gegend scherzhaft als „Han-Chinesen-Bezirk“ bezeichnet. Eine ähnliche Situation finden wir auch in der Dekyi Road und der Namtso Road mit all ihren lebhaften Lokalen und kulinarischen Düften. Sie sind Lhasas berühmte Restaurantstraßen, obwohl die Preise dort ebenso hoch sind wie in Beijing. Eigentlich könnte man sie auch als „Korruptionsmeile“ bezeichnen, wo Leute mit angsteinflößender Ausstrahlung auf Kosten der Öffentlichkeit essen und trinken. Zur Essenszeit mittags und abends ähnelt die gesamte Straße einer Autoausstellung, vollgepackt mit extravaganten Fahrzeugen. Doch eine richtig kostspielige Korruption durch wirklichen Luxus findet an verborgenen Treffpunkten statt; Berichten zufolge sind es häufig Restaurants, die von Militärangehörigen und Kadern besucht werden. Einer dieser Versammlungsorte befindet sich neben dem Restaurant „Hunan Love“ 99 Prozent des Geldes, das dort ausgegeben wird, sind öffentliche Mittel. Kellner und Kellnerinnen behaupten, sogar den Geschmack bekannter Kader zu kennen, und richten die Speisen dementsprechend an. Ein Tisch kann leicht mehrere tausend oder sogar über zehntausend Yuan kosten. Als unvergessliche Erfahrung dieser unvorhersehbaren Tage in Lhasa wird mir in Erinnerung bleiben, wie ich bei Einbruch der Nacht über den Tsekor ging. Ein Hauch von Wacholder, den Gläubige am Tage darbringen, hing noch in der Luft ein Duft, der zum Glauben gehört und einem ein Gefühl der Sorglosigkeit und der Entspannung vermittelt. Es ist allerdings eine Schande, dass der Lukhang mittlerweile schon zu einer Art han-chinesischem Park umgewandelt worden ist. Die Gebetsfahnen, die über dem See hingen, sind schon vor langer Zeit verschwunden; stattdessen befinden sich nun am Haupteingang „Neun-Drachen“- Wände. Die Han-Architektur ist überall dominierend. Inzwischen wird der außerordentlich schöne Potala-Palast als „reaktionärstes, dunkelstes, grausamstes und barbarischstes“ Bauwerk des „Alten Tibet“ stigmatisiert. Doch in den 51 Jahren Herrschaft der vereinigten Chinesischen Kommunistischen Partei, die in lobhudelnder Weise als „Inbegriff des Fortschritts“ bezeichnet wird, ist es den Chinesen nicht gelungen, ein Gebäude zu errichten, das auch nur annähernd so schön ist wie der Potala-Palast. Stattdessen haben sie sich dadurch, dass sie den Potala-Platz als Imitation des Tiananmen-Platzes (Platz des Himmlischen Friedens) kreierten, sozusagen ins eigene Fleisch geschnitten. Dieses Jahr kamen noch zwei weitere völlig überflüssige unterirdische Luxuspassagen hinzu. Außerdem haben sie den Pilgerweg mit Gebetsmühlen um den Potala mit Steinplatten gepflastert, die an beiden Seiten hervorstehen; und sie nutzen jede Gelegenheit, um den Palast noch mehr zu kommerzialisieren und damit Geld zu verdienen. Noch beunruhigender ist der Umstand, dass die alten Pflastersteinplatten vor dem Potala, die von zahlreichen sich niederwerfenden Pilgern schon glatt und glänzend geworden waren und als Erinnerung hätten aufbewahrt oder zumindest fotografiert werden sollen, als Abfall betrachtet wurden und verschwunden sind. (1) Hier zwei Karten; allerdings sind nicht alle Straßen darauf: http://www.tibettravel.info/images/map/map-of-lhasa-x.jpg, http://www.travelchinaguide.com/images/map/tibet-lhasa.jpg |