Seit Jahren keine Spur mehr von einem ranghöheren Mönch und Lehrer im Kloster Drepung, der zu 20 Jahren verurteilt wurde
Der ehrwürdige Kunchok Nyima ist ein angesehener buddhistischer Gelehrter der monastischen Universität des Klosters Drepung.
Im April 2008 wurde er festgenommen, weil er angeblich der „Rädelsführer“ und Hauptinitiator der Demonstrationen, die Lhasa im März jenes Jahres erschütterten, gewesen sein soll. Die nächsten zwei Jahre blieb er „verschwunden“ und niemand wußte, wo die Behörden ihn festhielten.
Im April 2010 machten einige chinesische Regierungsbeamte im Kloster Drepung plötzlich Andeutungen, bei denen sie zum ersten Mal einräumten, daß sie den ehrwürdigen Nyima in Gewahrsam hielten. Er sei unter der Anklage der „Aufhetzung und Anstiftung“ zu den Protestaktionen der Mönche von Drepung zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden, so sagten sie.
Irgendwann im Jahr 2009 suchten ein paar Offizielle die Angehörigen des ehrw. Nyima an seinem Heimatort Thewo auf und gaben ihnen eine CD, auf der angeblich eine Botschaft von Kunchok Nyima aufgezeichnet war. Darin sagte er seinen Angehörigen, es ginge ihm gut und er pflege einen freundlichen Umgang mit den Aufsehern und Polizisten. Er bat sie auch, sich keine Sorgen um ihn zu machen und trug seinem Bruder und seiner Schwester auf, für seine Eltern zu sorgen. Doch ist es fraglich, ob die CD authentisch war oder nicht.
Einige Zeit später riefen die Behörden Kunchok Nyimas Eltern nach Lhasa und wiesen sie an, ihren Sohn im Gefängnis zu besuchen und ihn in gebührender Weise über die Vorteile zu informieren, die es mit sich bringe, wenn man seine Verbrechen gestehe. Der ehrw. Nyima vermied es jedoch, seine Eltern zu treffen und schickte ihnen statt dessen eine Botschaft, daß er sich freue, daß sie gekommen seien, aber ihnen nichts Besonderes zu sagen habe. Ein Schüler des ehrw. Nyima, der im Exil in Indien lebt, meint, dieser habe wohl geahnt, warum die Behörden seinen Eltern einen Besuch bei ihm gestatteten. „Statt sie also zu enttäuschen, indem er ihren Ratschlag abgelehnt hätte, weigerte er sich überhaupt, sie zu treffen“.
Am 10. März 2008 veranstalteten Mönche des Klosters Drepung einen Protestmarsch gegen die chinesische Regierung, Am folgenden Tag rief der ehrw. Nyima die Mönche zu einer Versammlung ein, bei der er sagte: „Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß wir als Tibeter alle die Verantwortung dafür tragen, daß unsere Identität bewahrt bleibt. Man sollte jedoch vermeiden, aus Verärgerung zu reagieren, weil das vielen Mönchen das Leben kosten und zur Zerstörung des Klosters führen könnte, womit dann noch mehr Mönche ihr Leben verlieren und die uralte tibetische Religion und Kultur gewaltigen Schaden nehmen würden“. Seine Rede wurde mit Respekt und Beifall aufgenommen.
Am 12. März beriefen Mitarbeiter des Public Security Bureau (PSB) und Offizielle der Regierung ein Meeting in Drepung ein und erteilten dem ehrw. Nyima und anderen monastischen Beamten den Befehl, dafür zu sorgen, daß die Mönche ihre Proteste einstellten.
Doch die Mönche in Drepung, die so aufgebracht waren über das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen friedlich protestierende Tibeter, führten erneut eine Demonstration durch, die daraufhin eine ganze Welle von Protesten in ganz Tibet entfachte.
Am Morgen des 11. April 2008 drangen Militärpolizisten und einige Regierungsbeamte in die Wohnräume von Kunchok Nyima ein und durchsuchten zwei Stunden lang seine persönlichen Gegenstände. Während die Polizei ihn abführte, sagte er noch zu den vor seiner Tür stehenden Mönchen: „Studiert eifrig, mir wird nichts passieren!“.
Während der folgenden zwei Jahre suchten seine Eltern, Verwandten, Freunde und Schüler überall nach dem ehrw. Nyima und sie ersuchten die zuständigen Regierungsstellen um eine Auskunft über seinen Aufenthaltsort und seinen Zustand. Doch sie erhielten keine Antwort, alles war vergebens.
Der ehrw. Kunchok Nyima wurde 1969 in der Nomadensiedlung Bhochewa in der Gemeinde Thewo Saru, Bezirk Dzoege (chin. Ru’ergai), TAP Ngaba (chin. Aba), tibetische Provinz Amdo, geboren. In jungen Jahren ging er zur dortigen Grund- und Mittelschule, wo er Tibetisch und auch Chinesisch perfekt erlernte.
Später als Teenager, trat er ins Kloster Shedrup Dhargyeling in Thewo ein. Er legte seine Ordinationsgelübde bei dem großen Meister Kunchok Pelden Tsang des Klosters Taktsang Lhamo in Ngaba ab, der ihm den Mönchsnamen Kunchok Nyima verlieh. Nachdem er die monastischen Lehrgänge im Kloster Shedrup Dhargyeling durchlaufen hatte, begab er sich zu höheren Studien ins Kloster Taktsang Lhamo.
1989 unternahm der ehrw. Nyima zusammen mit gleichgesinnten Mönchen eine Pilgerfahrt zu Fuß nach Lhasa. Dort angekommen, beschloß er zu bleiben und im Kloster Drepung weiter zu studieren. Er erhielt Unterweisungen von so großen buddhistischen Gelehrten wie Gyen Lamrimpa Ngawang Phuntsok, Sokpo Gyen Tenzin, Tsoka Choephel Namgyal, Ngagchang Rinpoche usw. Viele seiner Lehrer sahen in ihm ein kompetentes und perfekt geeignetes Oberhaupt des großen Klosters Drepung für die Zukunft.
2001 begann er, jüngeren Mönchen im Gomang Kolleg von Drepung die Schriften zu erklären. Innerhalb kurzer Zeit strömten über 400 Schüler zu ihm, und er unterrichtete bald auch Mönche aus anderen Kollegs in Drepung.
Zur Zeit seiner Festnahme hatte er über 700 Schüler aus allen drei Provinzen Tibets. Das war eine außerordentliche Leistung für einen einfachen Nomadenjungen aus dem weit entfernten Thewo in Amdo. Für die chinesische Regierung war er ein Störfaktor, denn sie sah in ihm eine einflußreiche Persönlichkeit, die eine große moralische Autorität besaß, nicht nur bei den drei monastischen Universitäten von Lhasa - Sera, Drepung und Ganden -, sondern auch bei dem allgemeinen Publikum in Lhasa.
2003 wurde er formell im Gomang-Kolleg in Drepung in sein Amt eingesetzt. Unter den Besuchern des Klosters war er bekannt für seine Herzlichkeit und Gastfreundschaft, er bot ihnen Schutz und Unterstützung. Ebenso war er bekannt für sein großes Geschick als Vermittler in Streitigkeiten zwischen Tibetern und den Vollzugsbehörden der chinesischen Regierung.
2005 wurden auf eine plötzlich durchgeführte patriotische Umerziehung hin fünf der besten Studenten von Drepung des Klosters verwiesen. Es kam zu einem offenen Streit zwischen den Tibetern und den chinesischen Offiziellen. Da intervenierte der ehrw. Nyima und erklärte den Tibetern, daß die Konfrontation mit den Offiziellen und der bewaffneten Polizei dem Kloster unzählige Verluste und großen Schaden verursachen würde, und drängte sie, einer Einigung zuzustimmen. Die Angelegenheit wurde friedlich beigelegt.
Später begann die chinesische Regierung ihn nicht nur wegen seines spirituellen Einflusses, sondern auch wegen vermeintlicher politischer Aktivitäten argwöhnisch zu beäugen.
2006 wählten die Behörden ihn zusammen mit anderen Mönchen und Laien für eine Rundtour chinesischer und tibetischer Städte aus. Am Ende der Reise antwortete der ehrw. Nyima auf die Fragen seines chinesischen Guide über seine Eindrücke der Reise: „Die Ansicht einzelner Tibeter wie einiger von uns ist unwichtig. Meiner Meinung nach ist es wichtig, die Lage der Tibeter in ländlichen Gegenden auf dem Gebiet der Bildung, der Gesundheit und was die wirtschaftlichen Umstände angeht, zu verbessern“. Er legte der chinesischen Regierung auch nahe, die tibetische Sprache, das religiöse Wissen, die Geistes- und Gewissensfreiheit zu achten und zu schützen.
„Es ist genauso wichtig, die Gedankenfreiheit und die Umgebung der religiösen Institutionen zu garantieren, denn sie sind die Zentren der lebendigen tibetischen Kultur“, fügte er hinzu.
Als er 2007 seinem heimatlichen Thewo einen kurzen Besuch abstattete, führte er neue Kurse in seinem Stammkloster Shedrup Dhargyeling ein. Den dortigen Mönchen und der Bevölkerung gab er Belehrungen über tibetischen Buddhismus.
Ein im Exil lebender ehemaliger Schüler des ehrw. Nyima rief zu einer internationalen Kampagne auf, um Auskunft über den Verbleib seines Lehrers zu erhalten, ebenso wie seine baldige Freilassung. Dieser Mönch, der in einem tibetischen Kloster in Südindien studiert, sagt: „Die grundlosen Beschuldigungen gegen unseren Lehrer und seine ungerechte Verurteilung haben seinen Angehörigen, seinen Freunden, Verwandten und allen, die an die Grundsätze von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden glauben, ungeheuren inneren Schmerz verursacht. Und noch schlimmer, die Verurteilung und das Verschwinden des ehrw. Nyima, der ein vollendeter buddhistischer Meister mit Tausenden von Schülern war, ist ein Angriff auf den Kern der lebendigen tibetischen Kultur, Religion, Sprache und Identität“.
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