Januar 2009

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD)Top Floor, Narthang Building, Gangchen Kyishong, Dharamsala 176215, H.P., India
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Human Rights Update

Resümee des Jahresberichts 2008: Die Menschenrechtslage in Tibet

2008 war für Tibet ein Jahr, das in die Geschichte eingehen wird! Am 49. Jahrestag des tibetischen Volksaufstands am 10. März kam es in der sogenannten Autonomen Region Tibet (TAR) und den tibetischen Regionen außerhalb davon – Sichuan, Qinghai und Gansu – zu spontanen Massenprotesten in einem Ausmaß, wie man es noch nie erlebt hatte. Dieser tibetweite politische Aufstand war ein Ausbruch der Frustration des Volkes über die seit fünf Jahrzehnten anhaltende Herrschaft der Chinesen in Tibet, in Folge dessen es in jedem Lebensbereich zu schweren Menschenrechtsverletzungen kam. In diesem Jahr wurden China und der Rest der Welt daran erinnert, dass die Tibetfrage dringend gelöst werden muss. Das klägliche Scheitern der von der weit entfernten Zentralregierung in Peking formulierten und angeordneten Tibetpolitik liegt klar auf der Hand. Die jahrzehntelang betriebene staatliche Propaganda über die Fortschritte in Tibet, die in den Jahren vor den Olympischen Spielen besonders aggressiv daherkam, wurde ad absurdum geführt. Die Tibeter in Tibet sehnen sich nach Menschenwürde und den Grundrechten und sie haben ihr Verlangen danach durch die friedlichen Proteste, die das ganze Land erfassten, im vergangenen Jahr unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.

Schon zu Anfang des Jahres war es klar, dass das Jahr der Sommerolympiade in Peking für die VR China wegen ihrer notorisch schlechten Menschenrechtsbilanz ziemlich geräuschvoll verlaufen würde. Keiner sah jedoch einen Aufstand von solch riesigem Ausmaß in Tibet voraus. Ganz offensichtlich hat der Rest der Welt die Stimmung der Tibeter in Tibet nicht richtig eingeschätzt. In manchen Kreisen der internationalen Gemeinschaft war man der Ansicht, in Tibet wären einige positive Veränderungen zu verzeichnen. Der Aufstand in Tibet hat ein für alle Mal diesen Mythos zerstört. Die Tibeter in Tibet leiden ungeheuer, und sie haben klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, was sie wirklich denken und fühlen.

Bei dem Aufstand von 2008 wurden mindestens 120 namentlich bekannte Tibeter durch Polizeischüsse getötet, mindestens 6.500 weitere verhaftet, ca. 1.000 sind unfreiwillig verschwunden, mindestens zehn namentlich bekannte Tibeter starben an der Folter und mindestens 190 wurden zu  Haftstrafen verurteilt, die von neun Monaten bis lebenslänglich reichen. Das TCHRD ist jedoch davon überzeugt, dass die tatsächlichen Zahlen angesichts des Umfangs der Proteste ein Vielfaches der genannten betragen könnten. Die strikte Informationsblockade der Regierung und die Androhung langjähriger Haftstrafen wegen „Verrats von Staatsgeheimnissen“ und „Gefährdung der Staatssicherheit“ für die ganz normale Praxis der Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen haben den Informationsfluss fast zum Erliegen gebracht. Um der internationalen Verurteilung zu entgehen, hat die Regierung die verschiedenen Kommunikationskanäle systematisch blockiert. Diejenigen, die wegen Kommunikation mit dem Ausland vor Gericht gestellt wurden, wurden schwer bestraft.

Der brutale Einsatz bewaffneter Kräfte zur Niederschlagung der Proteste in Tibet wurde weltweit verurteilt. Mitfühlende Einzelpersonen und Tibetunterstützer haben den Ruf nach Gerechtigkeit überall dort eindrucksvoll erschallen lassen, wo die Olympische Fackel um die Welt getragen wurde.

Tibetunterstützer und andere Menschenrechtsaktivisten haben die miserable Menschenrechtslage in Tibet und insbesondere den brutalen Einsatz von bewaffneten Truppen gegen friedlich demonstrierende Tibeter unüberhörbar angeprangert. Als Gegenmaßnahme heizte Peking den Nationalismus der chinesischen Bürger in China und im Ausland an. Zur Unterstützung der Regierungsmaßnahmen griffen chinesische Nationalisten die westlichen Medien schwer an, richteten Dutzende von antiwestlichen Websites ein und starteten Internetkampagnen. Die Behörden merkten jedoch schnell, dass diese durch sie selbst eröffneten Möglichkeiten den normalen Chinesen eine einzigartige Gelegenheit boten, zu protestieren und ihr Recht auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen, was sich in Zukunft tatsächlich zum Boomerang für die Regierung entwickeln könnte. Diese im Namen des Nationalismus geförderte Ablehnung, Kritik anzunehmen und Konflikte zuzulassen, führt unweigerlich zu dem Schluss, dass China die erforderlichen Qualitäten fehlen, um eine globale Supermacht zu werden. Schlüsselqualitäten globaler Supermächte sind Redefreiheit und Vertrauen in die eigenen Bürger, doch China mangelt es an beidem. Die Welt muss China auf seinem Weg zur globalen Supermacht miteinbeziehen, und China muss im Gegenzug die Kritik durch andere Länder mit Würde bedenken.

Informations- und Kommunikationsmedien spielten bei den politischen Unruhen von 2008 in Tibet eine bedeutende Rolle. Im Gegensatz zu den früheren Massenprotesten in den späten 80er und frühen 90er Jahren, die vor allem Lhasa betrafen, verbreiteten sich die aktuellen Proteste, die am 49. Jahrestag des tibetischen Volksaufstands von 1950 losbrachen, wie ein Buschfeuer. Innerhalb von wenigen Tagen erfassten sie das gesamte tibetische Plateau. Die modernen elektronischen Kommunikationsmedien und die digitale Technologie waren eminent wichtig für den Informationsfluss innerhalb des Landes und ins Ausland. Angesichts der mittels Handyfilmen und digitalen Fotos verbreiteten Beweise für die exzessive Anwendung von Gewalt durch die bewaffneten Sicherheitskräfte, wurde es schwierig für die Regierung, diese Vorfälle abzustreiten. In Reaktion darauf wurden sehr schnell die Kommunikationskanäle unterbrochen.

Als den unabhängigen Medienvertretern, die über die Proteste berichten wollten, der Zugang zu Tibet verwehrt wurde, machten sich mutige Einzelpersonen die moderne Technologie zunutze und berichteten auf diesem Weg über die aktuelle Lage, obwohl ihnen langjährige Haftstrafen und Folter drohten, wenn sie gefasst wurden. In Abwesenheit der unabhängigen Medien nahmen diese tapferen Menschen diese Gefahr bewusst auf sich. Das Videozeugnis des Mönchs Jigme Guri aus Labrang über die erlittene Folter und die Videodokumentation „Leaving Fear Behind“ von Dhondup Wangchen sind die bekanntesten filmischen Dokumente dieser Art, und sie sind ein Meilenstein für die Beweisführung über die Menschenrechtsverletzungen in Tibet.

Bekannte, vertrauenswürdige Menschenrechtsorganisationen versuchten nach den März-Protesten zu intervenieren, sie alle wurden jedoch von den chinesischen Behörden zurückgewiesen. Anfang April ersuchte die damalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, um eine Einreiseerlaubnis nach Tibet, um sich vor Ort und aus erster Hand ein Bild über die Lage zu machen. Die chinesische Regierung lehnte ihr Ersuchen mit der Begründung ab, der Zeitraum sei nicht passend. Sieben weitere UN-Sonderberichterstatter veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, in der sie ihrer tiefen Sorge wegen der Berichte über Schüsse der Sicherheitskräfte auf gewaltlose Demonstranten zum Ausdruck brachten. In ihrer Erklärung forderten sie alle Beteiligten zu Zurückhaltung und Gewaltlosigkeit auf; ferner forderten sie besseren und ungehinderten Zugang zu allen betroffenen Gebieten für Journalisten und unabhängige Beobachter, Garantien für freien Informationsfluss und die volle Einhaltung internationaler Standards beim Umgang mit Demonstranten und Verhafteten in China und allen anderen Ländern, in denen es zu Protesten kam.

Diese gemeinsame Erklärung der UN-Experten wurde nicht einmal zur Kenntnis genommen. Dem mit der Überwachung der weltweiten Haftbedingungen beauftragte Internationalen Komitee des Roten Kreuzes wurde kein Zugang zu Tibet gewährt. Die Weigerung der VR China, UN-Menschenrechtsexperten nach Tibet einreisen zu lassen ist zum einen eine Herabsetzung ihrer Funktion im Allgemeinen und untermauert zum anderen den von den Menschenrechtsgruppen geäußerten Verdacht auf schwere Menschenrechtsverletzungen. Die Verweigerung der Zusammenarbeit mit dem UN-Komitee gegen Folter während der Auswertung des Vierten Periodischen Berichts über die Einhaltung der UN-Konvention gegen Folter (CAT) und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen durch China machte die vollständige Missachtung, welche die Volksrepublik gegenüber den UN-Menschenrechtsmechanismen zum Schutz der Menschen hegt, deutlich, obwohl sie doch selbst Unterzeichnerstaat der Konvention ist.

Zentrale Komponenten bei der Niederschlagung der Massenproteste in Tibet waren die Null-Toleranzstrategie und die Inkaufnahme von Toten. Die Behörden haben bei mehreren Gelegenheiten das Feuer auf friedlich demonstrierende Tibeter eröffnet; zahlreiche unschuldige Tibeter sind dabei ums Leben gekommen. In Lhasa und den Tibetisch-Autonomen Präfekturen (TAP) Kardze und Ngaba waren die Vergeltungsmaßnahmen der bewaffneten Kräfte und die durch sie verursachten Verluste an Menschenleben besonders drastisch. Während der Unruhen vom 14. März 2008 hingen Rauchschwaden über Lhasa. Die Sicherheitskräfte schossen mit scharfer Munition auf die Demonstranten und töteten ca. 80 Tibeter. Unbestätigten Berichten zufolge sollen Geheimpolizisten im Schutz der Dunkelheit wahllos auf Tibeter geschossen haben. Am 3. April 2008 wurden mindestens 14 Tibeter erschossen, als bewaffnete Sicherheitskräfte in der Umgebung des Klosters Tongkhor (chin. Donggu) in der Gemeinde Zithang, Bezirk Kardze, TAP Kardze, Provinz Sichuan, das Feuer auf Demonstranten eröffneten, die die Freilassung von zwei Mönchen forderten, die verhaftet wurden, weil sie sich der chinesischen Kampagne zur Patriotischen Umerziehung in ihrem Kloster widersetzt hatten. Die Leichen der Erschossenen wurden den Familien nicht zur Bestattung übergeben.

Am 16. März 2008 übten die chinesischen Sicherheitskräfte blutige Vergeltung für eine Demonstration im Bezirk Ngaba, an der sich Tausende Tibeter beteiligt hatten. Acht namentlich bekannte tibetische Demonstranten starben an Schussverletzungen. Die tatsächliche Anzahl der Todesfälle dürfte um einiges höher sein, Augenzeugenberichten zufolge wurden mindestens 30 Personen von den Sicherheitskräften erschossen. Die jüngste Tote ist die 16jährige Lhundup Tso. In der Rubrik „Empfehlungen“ im  Abschlussbericht zum Vierten Periodischen Bericht über die Einhaltung der Folterkonvention durch China bittet das UN-Komitee gegen Folter um eine detaillierte Aufstellung der Ereignisse in Lhasa und den Bezirken Kardze und Ngaba. Dem internationalen Recht gemäß ist China als Unterzeichnerstaat der Konvention zur Angabe dieser Einzelheiten verpflichtet, und daher wird Chinas Reaktion auf diese Forderung von allen betroffenen Parteien einschließlich des TCHRD mit Spannung erwartet.

Eine bevorzugte Taktik der chinesischen Behörden zur Unterdrückung von Protesten der Tibeter ist die systematische Folter auf Polizeiwachen, in Haftzentren und Gefängnissen. Sie wird angewandt um das Nationalgefühl der Tibeter zu brechen und ist zugleich eine Botschaft zur Einschüchterung an die Adresse derjenigen, die es wagen sollten, den Staat und seine Vertreter in Frage zu stellen. Zahlreiche Tibeter wurden gefoltert, um ein Exempel für andere zu statuieren und sie auf diese Weise von der aktiven Teilnahme an Protestaktionen abzuhalten. In einigen Regionen sind Tibeter an den Folgen der Folterungen gestorben, die sie im Gewahrsam der staatlichen Justizorgane erleiden mussten.

Als direkte Folge der unbarmherzigen Unterdrückung durch die chinesischen Sicherheitsorgane bei der Niederschlagung der friedlichen Proteste haben zahlreiche der betroffenen Tibeter die drastische Entscheidung getroffen, sich das Leben zu nehmen, um sich so von der ständigen physischen und psychischen Folter durch die Behörden zu befreien. Im tibetischen Buddhismus gehört der Selbstmord zu den schwersten aller Sünden, nämlich zu denjenigen, welche gegen die grundlegenden Prinzipien des Buddhismus verstoßen. Die buddhistischen Mönche Tibets sind für ihr Mitgefühl, ihre Geduld und ihre Standhaftigkeit im Angesicht der Not bekannt. Die Tatsache, dass sich buddhistische Mönche in Tibet das Leben nehmen, ist schon an sich Beweis genug für die grausamen Foltermethoden der Behörden.

Abgesehen von der Folterproblematik ist die Zahl von Tibetern enorm, die auf erzwungene und unfreiwillige Weise verschwanden. In einem gewissen Ausmaß erfreut sich dieses Phänomen staatlicher Förderung, denn die Regierung versucht bewusst, Abweichler von der offiziellen Linie zu eliminieren, indem sie diese Personen einfach verschwinden lässt. Die Verweigerung von Informationen über Verhaftete ist die übliche Praxis der chinesischen Gefängnisbehörden. Ungeachtet der gesetzlich festgelegten Informationspflicht lässt man die Angehörigen auf der Suche nach ihren Lieben von Polizeiwache zu Polizeiwache pilgern. Ein derartiger Fall ist offensichtlich das Verschwinden der beiden Mönche Thabkey und Tsundue aus dem Kloster Labrang. Sie verschwanden, nachdem sie am 9. April 2008 Medienvertretern auf einer von der Regierung organisierten Pressetour mutig die Wahrheit zugerufen hatten. Mitternächtliche Aktionen, bei denen man Menschen massenhaft verschwinden ließ, griffen überall um sich, insbesondere in den Klöstern. Der vielleicht bedeutendste Fall von Verschwindenlassen ist der des Panchen Lama, Gedhun Choekyi Nyima. Er wurde 1995 von der chinesischen Regierung entführt und ist bis heute nicht mehr gesehen worden.

Nach der unmittelbaren brutalen Niederschlagung der massiven Proteste in Tibet griffen die Behörden gewissermaßen als weiterer Gegenmaßnahme zu einer Neuauflage der üblen Kampagne für Patriotische Erziehung, um die Unterdrückung auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.

Das wirkte wie Salz auf die frischen Wunden der Tibeter, die häufig bei den Protesten Freunde oder Verwandte verloren hatten oder deren Angehörige verhaftet oder verschwunden waren. Die Patriotische Erziehung traumatisierte die tibetische Gesellschaft und insbesondere die klösterlichen Gemeinschaften noch mehr. Die Kampagne ist ein politisches Werkzeug zur Erniedrigung der Tibeter, durch die ihr Nationalgefühl gebrochen werden soll. Anfang April wurde die Kampagne über die Klöster hinaus auf die gesamte tibetische Gesellschaft in den ländlichen Gebieten des Bezirks Ngaba ausgedehnt. Arbeitsgruppen für Patriotische Erziehung fielen in die Häuser der Tibeter ein und verlangten von ihnen, die jüngsten Proteste zu verurteilen, den Dalai Lama zu verdammen und ihre Loyalität zur Kommunistischen Partei zu geloben. Vor einer Videokamera mussten sie acht Punkte wiederholen und wurden mit Haft bedroht, falls sie sich weigerten, es zu tun. Einer der wichtigsten Bestandteile der Kampagne für Patriotische Erziehung ist die Schmähung des Dalai Lama. Opposition gegen den Dalai Lama und Kritik an ihm ist schon seit jeher die Politik der Führung in Peking. Durch diese Strategie sollte die moralische Autorität des Dalai Lama zerstört und er selbst als legitimes Oberhaupt der Tibeter diskreditiert werden. Da China gegenüber den Tibetern in Tibet ein System strikter Informationskontrolle und -blockade aufrechterhält, ging die chinesische Führung davon aus, durch die Herabwürdigung des Dalai Lama könnte sie die Tibeter schließlich auf ihre Seite ziehen. Dem sollte jedoch nicht so sein.

Nach fast 50 Jahren chinesischer Herrschaft hat gehören Herz und Verstand des tibetischen Volkes immer noch dem Dalai Lama. Bei den tibetweiten Frühjahrsprotesten von 2008, zu denen ca. 300 separate Ereignisse in über 90 Bezirken in der sogenannten TAR und den außerhalb davon gelegenen tibetischen Gebieten gerechnet werden müssen, erschallte einstimmig der Ruf nach der Rückkehr des Dalai Lama. Zu dem Zeitpunkt, als die Proteste in Tibet gewalttätig, zu werden drohten, rief der Dalai Lama unverzüglich zur sofortigen Einstellung der Gewalt auf und drohte sogar seinen Rücktritt an, falls die Tibeter bei ihrem Freiheitskampf den Pfad der Gewaltlosigkeit verlassen sollten. Die Aufrufe zur Gewalt fanden schlagartig ihr Ende, denn es ist den Tibetern nicht möglich, den Worten des Dalai Lama entgegen zu handeln. Der im Exil lebende Dalai Lama hat ihnen den Pfad der Gewaltlosigkeit gewiesen und er führt den tibetischen Freiheitskampf auch in dieser entscheidenden Phase weiterhin ohne jede Gewalt.

Peking hat die Natur des tibetischen Protestes wiederholt verzerrt dargestellt und auf kriminelle Aktivitäten wie Plünderung, Sachbeschädigung, Brandstiftung, Diebstahl und Randalieren reduziert. Peking weigert sich, die tatsächliche politische Natur der tibetweiten Proteste zur Kenntnis zu nehmen. Am 17. März 2008 forderte Zhang Qingli, der Parteisekretär der TAR schnelle Verhaftungen, schnelle Verhöre und schnelle Urteile gegen die an den Protesten beteiligten Personen. Das war eine unverblümte politische Direktive, die Garantien für faire, unparteiliche und den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Verfahren zu ignorieren. Infolge derartiger Express-Anordnungen sprachen Schnellgerichte in offensichtlichen Massenprozessen summarisch ihre Urteile.

Die  Natur der Rechtssprechung im chinesisch besetzten Tibet erklärt sich selbst, wenn man sich ansieht, wie in dem geradezu rekordverdächtigen Zeitraum von eineinhalb Monaten lebenslange und langjährige Haftstrafen bis zu 20 Jahren verhängt wurden. Angesichts des Vorgehens der Justiz und der offiziellen Interpretation der tibetischen Protestaktionen stellt sich die Frage nach der Kompetenz der Gerichte und dem Herunterspielen der Vorgänge durch die Behörden. Tatsächlich entsprach kein einziger Prozess den Vorschriften des internationalen Rechts. Die Urteile der Schnellgerichte sprechen eindeutig dem Gesetz und jedem fairen Verfahren Hohn. Der Sinn und Zweck des Gerichtshofs in Lhasa besteht offenbar nur darin, den vorfabrizierten Urteilen ein legales Mäntelchen umzulegen. Das Prinzip der Unschuldsvermutung findet dabei keinen Raum. Gerichte in China dienen offenkundig nicht dem Schutz und der Förderung des Rechts, sondern sie sind ein Vehikel für die Legitimierung staatlicher Handlungen.

So wurden 21 chinesische Rechtsanwälte, die öffentlich angeboten hatten, die tibetischen Demonstranten zu verteidigen, von den Justizbehörden in Peking gezwungen, ihr Angebot zurückzuziehen, da ihnen sonst Disziplinarmaßnahmen bis zum Entzug ihrer Anwaltslizenz angedroht wurden. Die Behörden behaupteten, bei den tibetischen Demonstranten handele es sich nicht um normale, sondern um sicherheitsrelevante Fälle. Wie das TCHRD dokumentiert hat, wurden 2008 mindestens 190 Tibeter im Alter zwischen 16 und 80 Jahren zu Haftstrafen von neun Monaten bis lebenslänglich verurteilt. Sieben der Verurteilten wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, während 90 Personen Haftstrafen von 10 und mehr Jahren erhielten. Die meisten der verurteilten Tibeter wurden der „Gefährdung der Staatssicherheit“ angeklagt. Dieser Paragraph ist äußerst umstritten, denn er wurde niemals exakt definiert und auch die Bandbreite seiner Anwendung ist nirgendwo festgelegt. Er wird als Universalwaffe gegen jeden angewandt, der es wagt, die Staatsmacht herauszufordern.

Im Anschluss an die Proteste wurde die Loyalität von ethnisch tibetischen Parteimitgliedern und Behördenmitarbeitern überprüft. Wie das chinesische Tibet Information Centre am 10. Juli 2008 angab, wurden 13 tibetische Parteimitglieder aus der KP ausgeschlossen, weil sie an den Unruhen vom 14. März beteiligt gewesen seien bzw. sie sich nicht an die drei Leitmotive der neu aufgelegten Kampagne für patriotische Erziehung gehalten hätten. Ferner wurde den tibetischen KP-Mitgliedern und Behördenmitarbeitern am 14. Juli 2008 ein zweimonatiges Ultimatum gestellt, damit sie ihre Kinder, die eine Ausbildung in den der  tibetischen Zentralverwaltung [Exilregierung in Dharamsala] unterstehenden Schulen erhielten, von dort zurückholen. Andernfalls drohte man ihnen mit Parteiausschluss und Verlust des Arbeitsplatzes. Infolgedessen wurden mindestens 24 Schüler aus Schulen in Indien abgemeldet und eine ähnliche Anzahl plant die Rückkehr. Jedes Jahr wieder stellen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren den Hauptanteil der neu eingetroffenen Flüchtlinge aus Tibet. Sie streben eine umfassende, moderne Ausbildung in den vom Dalai Lama und der tibetischen Zentralverwaltung in Indien eingerichteten Schulen an. Im Gegensatz zu den sonst üblichen ca. 2000 Flüchtlingen aus Tibet, konnten dieses Jahr nur 627 Tibeter nach Indien entkommen.

Auf der Höhe der politischen Repression in Tibet im Jahr 2008 riefen verschiedene Staatsoberhäupter und weltweite Organisationen wie die UNO immer wieder zur Zurückhaltung auf. Vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele von Peking im August 2008 nahmen die Aufrufe zur Verbesserung der Menschenrechtslage in China und insbesondere zum Dialog zwischen China und dem Dalai Lama mit dem Ziel der Lösung der Tibetfrage weiter zu. Themen wie die Luftverschmutzung in Peking und der freie Zugang für ausländische Journalisten wurden zwar angegangen, aber in der Tibet-Frage passierte gar nichts. Chinas Weigerung, sich mit dieser Thematik zu befassen, ist ein verheerendes Signal für alle heutigen gewaltlosen Bewegungen weltweit, denn es zeigt ihnen, dass sie für irrelevant gehalten werden. China hält stur an seiner Entscheidung fest, Druck auf politische Führungen überall auf der Welt auszuüben, damit sie sich nicht mit dem Dalai Lama treffen und tut dies auch öffentlich. China sagte den EU-China-Gipfel Ende November 2008 ab, weil der Dalai Lama zu diesem Zeitpunkt Europa besuchte und in diesem Rahmen den damaligen EU-Präsidenten Sarkozy treffen sollte. Ein derartig offensichtliches politisches Muskelspiel Chinas hatte es bis dahin noch nie gegeben.

Der sino-tibetische Dialog, der 2002 begonnen hatte, wurde nach bislang acht Runden wieder eingestellt. Auf dem Höhepunkt der Massenproteste in Tibet besuchten die Gesandten des Dalai Lama China, um dafür zu plädieren, daß den verhafteten Tibeter kein Leid angetan werde und die Spannungen in Tibet abzubauen. Nach den jahrelangen Unterredungen zwischen den beiden Seiten hofften die Tibeter in Tibet und außerhalb auf greifbare Resultate. Doch ihre Hoffnung trog – die Gespräche erwiesen sich erneut als fruchtlose diplomatische Übung.

Die achte Gesprächsrunde kann man als Lackmustest der Ernsthaftigkeit der chinesischen Seite betrachten, denn sie fand nach den Spielen von Peking statt und China stand dabei unter keinerlei Druck. Chinas Strategie war die bisher noch nie erfolgte Bekanntgabe der Gesprächsinhalte, scharfe Angriffe auf den Dalai Lama und die Zurückweisung der tibetischen Forderungen als „dem Ruf nach Unabhängigkeit“, „halber Unabhängigkeit“ oder der „versteckten Forderung nach Unabhängigkeit“ usw. Kurz darauf fanden sich die Exiltibeter zu einer fünftägigen Sonderkonferenz in Dharamsala zusammen, der ersten ihrer Art, und dabei war die freie Meinungsäußerung der Anwesenden ausdrücklich erwünscht. Rund 560 Delegierte aus 19 Ländern beschlossen die Verhandlungen so lange auf Eis zu legen, bis China echten politischen Willen für neue Gespräche zeige. Die tibetische Seite arbeitete entschieden auf einen ergebnisorientierten Dialog hin, während die Chinesen nur bis zum Ende der Olympischen Spiele die Oberhand behalten wollten und bis dahin gegenüber  den Gesandten des Dalai Lama Engagement simulierten. Auf diese Weise sollte jegliche Kritik zumindest bis nach den Spielen verzögert werden. Gekrönt wurde diese Strategie mit einer Pressekonferenz direkt nach Ende der achten Gesprächsrunde, was es bis dahin noch nie gegeben hatte.

Die Kette der Ereignisse im Jahr 2008 macht es zu einem historischen Jahr für Tibet. Die Tibeter im chinesisch besetzten Tibet haben unter großen Opfern ihr Herz ausgeschüttet. Im Angesicht extremer Bedrohung haben diese tapferen Menschen den Geist der Gewaltlosigkeit vertreten. In das Jahr 2008 fiel auch der 50. Jahrestag im Exil für die Tibeter. In dieser an Konflikten reichen Welt stellt die tibetische Frage, vor allem nach den Protesten vom Frühjahr 2008, eine ernsthafte moralische Herausforderung dar. Sie ist eine Prüfung für das globale Gewissen im Hinblick auf die Bedeutung des gewaltlosen Kampfes, des Friedens und des Dialogs. In diesem kritischen Augenblick seiner Geschichte braucht Tibet die Unterstützung der ganzen Menschheit, und die Menschheit braucht Tibet, damit es ihr weiterhin zeigt, dass Gewaltlosigkeit die einzige Hoffnung auf die Lösung lang anhaltender politischer Konflikte ist.

Fußnoten siehe englischer Orginaltext