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Mein Neffe, der sich selbst verbrannte - von Tsering Kyi
Tsering Kyi ist eine tibetische Journalistin und Autorin, ihr Essay wurde zuerst auf Tibetisch bei Khabdha.com veröffentlich und dann von Dhondup Tashi Rekjong and Tenzin Dickyi übersetzt. Am 29. Januar 2013 erschien er in ähnlicher Form in der Washington Post.
Am Samstagmorgen schlief ich noch, als mein Mobiltelefon mehrere Male läutete. Ohne auf die Nummer des Anrufers zu schauen, hob ich ab. Durch das Handy hörte ich in meinem Heimatdialekt der Stadt Amchok Schreie und Protestgeräusche: „Jungs, seid nicht traurig, bleibt stark, geht euren Weg, geht vorwärts! Om mani padme hum, Gyalwa Tenzin Gyatso (1)“. Aber da war niemand, der mit mir sprechen wollte, und ich begriff, daß etwas Schreckliches geschehen war. Ich rief sofort jemand anderen aus dem Dorf an, der sagte: „Ich bin so traurig, der reizende Sohn Deines Bruders ist gestorben“. Ich verstand nichts, und fragte: „Was ist passiert?“. Die Antwort lautete: „Der Sohn Deines Bruders Dukar Kyab setzte sich heute um etwa 2 Uhr nachmittags auf der Hauptstraße von Amchok in Brand“.
Wie kam dieser bescheidene und nette Junge nur auf so eine Idee? Als ich vor ein paar Tagen mit meinem Bruder am Telefon sprach, war mein Neffe auch dort und sagte, „Vater, wenn Du mit Deiner Schwester Kaka genug gesprochen hast, dann gib mir bitte das Telefon, ich möchte ihr was sagen“. Als ich dann mit ihm sprach, hatte er mir nichts Besonderes mitzuteilen und sagte nur: „Wie geht es Dir jetzt? Ich sehe Dich oft im Fernsehen, aber mit dem zurückgekämmten Haar schaut Dein Gesicht wie ein Mond aus. Hast Du nicht irgendeine hübsche tibetische Chuba zum Anziehen?“ Scherzend antwortete ich ihm, wenn er später nach Kachigar (chin. Linxia) ginge, sollte er doch einige Chubas für mich machen lassen. Das war mein letztes Gespräch mit dem Neffen, den ich viele Jahre lang nicht mehr gesehen hatte.
Mein Bruder Dukar Kyab und seine Frau Tsering Dolma haben drei Kinder, einen Sohn namens Tsering Tashi und zwei Töchter namens Tamdrin Tso und Tsethar Kyi. Die zwei Mädchen sind verheiratet und weggezogen, weshalb bei den Eltern nur Tsering Tashi und seine junge Frau Yumtso Kyi wohnten.
Als ich in der Vergangenheit über die Selbstverbrennungen in den Medien sprach oder für sie darüber schrieb, war es kaum möglich auch nur ein wenig über die tatsächlichen Schwierigkeiten, denen die Angehörigen eines Selbstverbrenners sich gegenübersehen, herauszubringen. Aber heute, wo es in meiner Familie geschah und ich die Schreie und das Klagen, den Verlust und das Leiden eines jeden einzelnen über das Telefon vernehmen konnte, fällt es mir schwer, die Agonie zurückzuhalten, die mich befällt, denn dann sehe ich den Körper eines meiner Lieben, der sich lebendig verbrannte, vor mir.
Ein Viehhirte, der Tsering Tashi kannte, sagte, an jenem Morgen hätten sie noch zusammen die Yaks und Schafe gehütet, aber dann habe Tsering Tashi gesagt, er müsse nach Hause gehen und habe die anderen gebeten, nach seinen Tieren zu schauen. Als er zu Hause ankam, fragte er seine Mutter: „Heute will ich meine tibetische Chuba tragen. Welche ist die bessere?“ Die Mutter antwortete: „Es ist heute recht kalt, trage deshalb die dicke wollene Chuba“. Er habe dann die dicke wollene Chuba angezogen und sei wieder gegangen. Dann kehrte er zu den anderen Viehhirten zurück, die später berichteten, daß er gesagt habe: „Ich habe etwas Wichtiges in der Stadt zu erledigen. Ich bin gleich zurück“. Unter seiner Chuba hatte er einen größeren Gegenstand versteckt, aber sie wußten nicht, was es war. Er habe auch sein Mobiltelefon abgestellt.
Ein Beamter bei der chinesischen Regierung, der den Vorgang der Selbstverbrennung vor dem Stadthospital in Amchok mitbekam, sagte: „Ein Tibeter in einer Chuba, ganz in Flammen, die seinen mit Draht umwickelten Körper umzingeln, rief ‚Ki hi hi! Gyalwa Tenzin Gyatso“ und fiel dann um, ohne den Satz zu beenden. Er stand wieder auf und rannte die Straße entlang. Bei der Kreuzung sah er das Militär und die Polizei wie gewöhnlich ihre Runden drehen, und lief weg. Wieder fiel er zu Boden und etwa fünf Minuten später war er tot. Die Tibeter auf der Straße waren zuerst schockiert. Aber als sich dann die Polizei näherte, warfen sie Steine, weshalb die Polizei und die Soldaten auf Abstand blieben.“
Meiner Familie sagte man, ein Mann habe sich verbrannt und sei gestorben, und dieser Mann schien ihr Sohn Tsering Tashi zu sein, doch jemand müsse hingehen und ihn identifizieren. Mein Bruder ging hin. Obwohl er kaum hinschauen konnte und der Körper kaum mehr zu erkennen war, identifizierte er seinen Sohn an der Form des Gesichts. Die anderen Tibeter holten ein Fahrzeug und den Körper umstellend konnten sie die Polizei fernhalten. Den Leuten gelang es, den Körper in einer Prozession nach Hause zu bringen.
Die Polizei hielten nicht nur die Mönche des Klosters Amchok an, die sich auf den Weg zum Haus meines Bruders gemacht hatten, um zu beten, sondern als ich jetzt zu Hause anrief, hatten sie in den drei Hauptstraßen, die zu dem Dorf Kyi führen, schon viele Polizeifahrzeuge mit den in der Dunkelheit aufblitzenden Scheinwerfern postiert. Außer den Vertretern anderer Dörfer hielten sie alle Leute an, die in das Dorf kamen, um ihre Solidarität zu bekunden, und schickten sie zurück.
Ein älteres Familienmitglied sagte voller Wut und Verzweiflung zu mir: „Es ist so entsetzlich traurig, daß diese Regierung so brutal zu uns ist. Sie befahlen uns, den Verstorbenen sofort einzuäschern, und die Lamas zu vergessen, und dann drohten sie, wenn wir ihn nicht gleich bestatten würden, seien wir für alles, was dann geschehe, verantwortlich. Sie sind zu allem fähig. Es ist sehr schwer für die Lamas, zwischen der Regierung und dem Volk zu vermitteln. Wir haben unsere tibetische Tradition, wann wir eine Bestattung vorzunehmen haben. Wir informieren den Lama, und dann kommen die Mönche, um zu beten, und dann gibt es das rituelle Bankett und wir bringen dem Kloster Gaben dar, alles in dieser Reihenfolge, aber die Polizei kommt immer wieder und sagt, wir müßten ihn ganz schnell bestatten.“
Mein Neffe Tsering Tashi war sieben oder acht Jahre alt, als ich Tibet verließ. Er nannte mich „Acha Kaka“ (Schwester Kaka). Weil ich damals zur Schule ging und das tibetische Alphabet „Ka, Kha, Gha, Nga“ aufsagte, nannte er mich liebevoll Schwester Kaka. Die meisten Leute in meiner Familie waren ziemlich wilde Burschen, aber er hatte ein so sanftes Wesen, gar nicht so wie die anderen, und er sprach nicht viel. Er war niemals unartig als Kind. Mein Bruder Dukar Kyab hatte nur einen Sohn, und dieser wurde der Liebling der Familie. Dieser kleine Kerl, der mir zu Hause immer überallhin nachlief, wurde zu einem starken jungen Mann und brachte eine liebliche junge Frau, die Yumtso Kyi heißt, als seine Frau nach Hause.
Wie soll ich nun damit fertig werden, daß ein rechtschaffener und bescheidener junger Mann ohne familiäre Probleme oder Konflikte so plötzlich aus dieser Welt gegangen ist, oder mit dem Umstand, daß mein geliebter Neffe, indem er sich selbst verbrannte, zu Knochen und Asche geworden ist, so daß er nicht einmal mehr erkannt werden konnte? Wie soll ich seine Frau trösten, die eine Witwe geworden ist, und meinen Bruder und seine Frau, deren Hände und Herzen leer geworden sind? Indessen sorgte mein Bruder, der anders als ich ist, sich um mich und sagte etwas Bedeutsames: „Tsepa, mach Dir keinen Kummer. Ich glaube nicht, daß der Sohn meines Herzens ohne Bedeutung oder Grund gestorben ist“. Mein Bruder Dukar Kyab ist jemand, der jahrelang als Dorfchef tätig war und als ein Schiedsrichter, der Zwiste im Dorf schlichtete.
Wie kann ich Worte finden, um den Bruder zu trösten, einen Vater, dessen Hoffnungen und ganze Liebe jemandem galten, der nun zu Knochen und Asche geworden ist; den Bruder, der den Körper seines toten Sohnes identifizieren mußte, dessen Haut und Leib im Feuer verbrannt waren und der nur noch an seiner Körperform zu erkennen war; den Bruder, der stark sein muß für eine Mutter mit gebrochenem Herzen und eine verwitwete Frau? Wie kann ich den Bruder trösten, der unter der Tyrannei von Polizisten und Soldaten, die sie wie Hunde bewachen, nun in der verzweifelten und schrecklichen Lage ist, seinen Sohn nicht einmal so, wie er es möchte, bestatten zu können?
Mein lieber Neffe, Deine Schwester Kaka wird Deine letzten Worte in ihrem Herzen bewahren. Mein lieber Neffe, ruhe in Frieden! Mein lieber Neffe, den ich 13 Jahre lang nicht gesehen habe, und der nun auf immer von mir getrennt ist, und ich weiß immer noch nicht, ob es Wirklichkeit oder eine Einbildung ist, daß Du ohne an Deinem Vater, Deiner Mutter und Deiner Frau zu hängen, weggegangen bist. So wie ich euch seit nunmehr über 13 Jahren in meinem Herzen bewahrt habe, so werde ich mich Deiner Augen und Deiner Stimme erinnern, als Du zu Hause nach Deiner Schwester riefst, und ich will mir vorstellen, mein geliebter Neffe, daß Du weiterlebst.
(1) Seine Heiligkeit der Dalai Lama
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