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Aus: TRIN-GYI-PHO-NYA: TIBET'S ENVIRONMENT AND DEVELOPMENT DIGEST
Vol. 2, Issue 5
Osttibet: Entwicklung und die rauhe Wirklichkeit
(Ein häufiger Besucher Tibets, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, richtete diese Botschaft an die internationale Gemeinschaft der Tibet-Unterstützer)
Wenn man auf der Straße von Dartsedo westwärts in Richtung Lhasa reist, wird recht bald sichtbar, daß die Regierung in Peking keine Kosten scheut, im Namen der Entwicklung die Städte und Dörfer von Kham in Nullachtfünfzehn-Kopien ihrer Pendants im Osten des Landes umzugestalten. Mehrstöckige Gebäude mit den üblichen Läden im Untergeschoß, welche die gleichen Haushaltswaren, Autoersatzteile, Nahrungsmittel, Kleidung und pharmazeutische Produkte verkaufen, schießen überall aus dem Boden. Zuerst werden Arbeiter von auswärts für den Bau herbeigeholt, dann folgen Kaufleute, die ihre Geschäfte und Gaststätten einrichten.
Was bei dieser ganzen Geschäftigkeit fehlt, ist allerdings irgendeine Art von Partizipation der tibetischen Bevölkerung. Je weiter man nach Westen kommt, desto krasser wird der Unterschied zwischen den tibetischen Bauern und Nomaden, welche die Region ursprünglich besiedelten, und den meist chinesischen Geschäftsmännern und -frauen, den Inhabern der Läden, Gaststätten und Hotels, die auch das meiste von dem Bargeld einnehmen, das in diesem Bereich fließt. Die Tibeter sind wieder einmal nicht beteiligt und bald werden sie vollständig von der Entwicklung ausgeschlossen sein.
Während wir als Außenstehende eine beachtliche Menge an Zeit und Energie aufwenden, um die einzelnen Punkte einer partizipierenden, unterstützenden Entwicklung zu erörtern, ist die rauhe Wirklichkeit, daß die Tibeter im Begriff sind, ihre letzte Chance an der Wirtschaft teilzuhaben, zu verlieren - sonst werden sie zu ihren Opfern. Ist eine solche Entwicklung nach chinesischem Stil denn wünschenswert? Gewiß nicht! Sollten die Tibeter das Recht haben, zu entscheiden, wie ihr Land und ihre Ressourcen entwickelt werden? Aber ja! Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist jedoch viel wichtiger, daß die Tibeter überhaupt weiter existieren können. Denn heutzutage ist ihr Überleben in den östlichen Teilen Tibets, in denen die "Entwicklungs-Maschine" der chinesischen Regierung direkt über sie hinwegrollt, in bedrohlicher Weise gefährdet.
Das einzige, was die Auslöschung der Tibeter als ein eigenes Volk verhindern könnte, ist eine intensive Bildungsanstrengung. Ohne ausreichende Bildung sind die Tibeter dazu verurteilt, in einer der unwirtlichsten geographischen Zonen des Planeten um ihr reines Überleben zu kämpfen. Soviel wir auch den traditionellen Lebensstil der Nomaden Tibets glorifizieren mögen, ist doch nichts so Romantisches an einem monatelangen Leben in einem rauchgefüllten Yak-Haar-Zelt bei 35 Grad unter Null. Ebenso wenig ist dieser traditionelle Lebensstil unter der gegenwärtigen chinesischen Regierung zukunftsfähig, es sei denn man bezeichnet das "Gerade-so-Überleben" als einen akzeptablen Stand der Dinge. Eine große Zahl von Kindern in Kham ist unterernährt. Sie leiden und sterben an Krankheiten, die mit grundlegender Hygiene und Schutzimpfungen leicht vermeidbar wären. Die jungen Männer verbringen eine Menge Zeit mit Trinken und Glücksspiel oder indem sie am Straßenrand Pool spielen. Die jungen Frauen gehen ins Sex-Geschäft, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihr Leben ist weder glücklich noch bequem, und es gibt keinerlei Anzeichen, daß die "Entwicklung", wie sie hier in Kham und in anderen Regionen stattfindet, eine Änderung herbeiführen würde.
Wenn die Tibet-Unterstützungsgemeinde den Tibetern helfen möchte, in sinnvoller Weise an der Entwicklung teilzuhaben, ist es am allerwichtigsten, die Bemühungen zu verstärken, den Tibetern innerhalb Tibets Bildung anzubieten, damit sie überhaupt eine Überlebenschance gegenüber der weit leistungsfähigeren und zahlreicheren chinesischen Bevölkerung haben. Dies alles muß in subtiler Weise geschehen, etwa indem Personen und Organisationen unterstützt werden, die bereits hier engagiert sind, so daß die chinesische Regierung sich nicht versucht fühlt, derartige Ansätze im Ansatz zu ersticken. Wenn es uns nicht gelingt, den Tibetern in ihrem eigenen Lande dazu zu verhelfen, daß ihre Teilnahme an der ökonomischen Entwicklung gewährleistet ist, wäre die Erlangung der Freiheit für Tibet weiter nichts als ein Pyrrhussieg.
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