April 2008
Heinrich Böll Stiftung, New Delhi

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Die gegenwärtige Volkserhebung in Tibet: Fragen und Antworten

von Gabriel Lafitte

1. Was geschieht derzeit in Tibet und was sind, Ihrer Meinung nach, die wahren Hintergründe der gegenwärtigen Krise?

Die Hauptursache für die tiefsitzende Verbitterung der Tibeter ist, daß hier zwei Nationen mit sehr unterschiedlichen Lebensauffassungen dasselbe Land beanspruchen. Vor fast einem Jahrhundert wandte sich die Volksrepublik China (VRC) von ihrer bisherigen Vergangenheit ab und dem sich dem westfälischen Frieden verdankenden europäischen System des Nationalstaats und der Industrialisierung zu, damit sie mit den anderen Weltmächten in Wettbewerb treten kann. Die Abwendung von den traditionellen chinesischen Werten, darunter auch dem Leben in Harmonie mit der Natur, hat eine tiefe Kluft zwischen den beiden Völkern, den Tibetern und den Chinesen, geschaffen. Diese Kluft wuchs noch viel mehr, als sich die revolutionäre kommunistische Regierung Chinas gewaltsam Tibets bemächtigte. Von Anfang an wollte die chinesische Besatzungsmacht, daß in Tibet mehr Fleisch und Getreide produziert würde, obwohl das Klima in Tibet, das den Chinesen unvertraut war, dies gar nicht zuläßt. Das tibetische Klima ist gänzlich ungeeignet für die intensive Landwirtschaft nach klassischem chinesischem Vorbild. Die Ideologie der "Produktivität " – eine Fetischisierung der materiellen Produktivität als einzigem Lebenszweck – hat sich trotz des enormen Wandels in der Politik Chinas in den letzten 50 Jahren gehalten. Bis zum heutigen Zeitpunkt fordert China von den Tibetern, immer noch mehr Tiere, größere Ernteerträge und noch mehr Mineralien zu erbringen, und sieht sie als rückständig an, nur weil sie es vorziehen, im Einklang mit der Natur zu leben. Marx nannte so etwas eine Wirtschaft des Gebrauchswertes im Gegensatz zu einer modernen Wirtschaft des Tauschwertes, wo nichts einen inhärenten Wert hat und nur als ein Mittel zum Zweck von Bedeutung ist.

Die gegenwärtige Krise in Tibet hat tiefe Wurzeln und geht weit in die Geschichte zurück. Chinesische Wissenschaftler haben in den letzten Jahrzehnten Tibet in jeder Hinsicht erforscht, vermessen und alle seine Aspekte quantifiziert; doch haben sie die Tibeter nicht ein einziges Mal gefragt, wie sie ihre Flüsse, ihre Wolken, ihre Pflanzen, ihre Tiere oder ihren Boden verstehen (Die tibetische Sichtweise der Naturressourcen und zu den oben behandelten Themen siehe http://www.tibet.net/en/diir/pubs/edi/tib2007/content.html).

Diese wissenschaftliche Erfassung Tibets stützt den Anspruch Chinas, Modernisierung, Fortschritt und materielle Entwicklung habe Tibet allein ihm zu verdanken. Jedoch wurde den Tibetern dabei niemals die Möglichkeit zur Mitsprache oder zur Einbringung ihres über Generationen angesammelten Erfahrungsschatzes über ihr Land und dessen Grenzen der Belastbarkeit gegeben.

Bereits in den 1950ern kamen chinesische Modernisten nach Tibet und erklärten die Tibeter für rückständig, ignorant, abergläubisch, unproduktiv und unzivilisiert. Diese arrogante Sichtweise hat sich in den letzten Jahren bei den Chinesen noch mehr verstärkt. Vielleicht ist es damit vergleichbar, wie die Briten in Indien die Inder immer weniger leiden konnten, je länger sie sie regierten, und es schließlich einem Deutschen, nämlich Max Mueller, überließen, in die Tiefe der heiligen indischen Traditionen vorzudringen.

Ein weiterer Faktor, der den Konflikt verschärfte, ist die neue Eisenbahnlinie nach Lhasa. Nicht nur brachte sie einen nicht abreißenden Strom armer chinesischer Glücksritter nach Tibet, auch die offizielle chinesische Propaganda verkündete immer wieder, welche großen Vorteile die Tibeter durch die Eisenbahn  hätten – die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Möglichkeit für die Nomaden, ihr Fleisch an Abnehmer in weiter Ferne zu verkaufen. Statt dessen boxten die chinesischen Zuwanderer die Tibeter selbst aus den niedrigstbezahlten Gelegenheitsjobs auf den diversen Baustellen in Lhasa hinaus, wo neue Hotels, Bürohäuser und Bordelle emporschießen. Auch wurden die Tibeter durch ein System der Konzessionserteilung, das gute Sprachkenntnisse in Chinesisch voraussetzt, aus dem Taxi-Geschäft in ihrer eigenen Hauptstadt verdrängt.

Sogar viele junge Tibeter, die unter dem chinesischen Regime ohne Vertrautheit mit dem Buddhismus aufgewachsen sind, waren tief befremdet, als sie sahen, daß all die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die durch die Eisenbahnlinie geschaffen wurden, von den nicht-tibetischen Immigranten usurpiert wurden. Diese verfügen nämlich über die Beziehungsnetzwerke zu der Beamtenschaft und überholen die Tibeter: Diese wurden zu einer ausgegrenzten Unterschicht in ihrem eigenen Land.

Tibet ist mittlerweile eine Region großer sozialer Unterschiede geworden, mit bitterer Armut auf dem Lande und Enklaven chinesischen Wohlstandes in den Städten. Die Ungleichheit in Tibet ist noch viel extremer als in Brasilien, dabei gilt Brasilien eigentlich als das Land mit den größten sozialen Diskrepanzen. Und obwohl China auf dem Wege ist, die „Entwicklungsziele des Millenniums“ (Millennium Development Goals) zu erreichen, liegt Tibet in seiner Entwicklung weit zurück.

2. Wie schätzen Sie den Status derjenigen Tibeter ein, die in der Autonomen Region Tibet (TAR,) leben und worin unterscheiden sich die Sorgen derjenigen in der Autonomen Region Tibet (TAR) von denen ihrer Landsleute im Exil?

Die Erfahrungen, die ich während meiner praktischen Arbeit sammeln konnte, erstrecken sich ausschließlich auf Tibeter, die in China außerhalb der Autonomen Region Tibet (TAR) leben. Es lassen sich drei Gruppen von Tibetern unterscheiden, die in ganz unterschiedlichen Umgebungen leben: Der eine Teil der Tibeter lebt in der Autonomen Region Tibet (TAR), der andere in den offiziellen Autonomen Tibetischen Präfekturen außerhalb der TAR und etwa 5 % leben im Exil. In der TAR sind die Überwachung und das Mißtrauen seitens der chinesischen Behörden sehr hoch; der Staat mischt sich massiv in die Bereiche des privaten städtischen Lebens der Tibeter ein, ist aber bis vor kurzer Zeit noch nicht in den Lebensraum der Nomaden vorgedrungen. In den 75 Tibetischen Autonomen Bezirken, die sich außerhalb der TAR in den Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan befinden, leben hingegen annähernd drei Millionen Tibeter Seite an Seite mit vielen Chinesen. Sie erweisen sich in ihrem täglichen Leben gegenseitig Respekt oder tolerieren die Andersartigkeit der anderen zumindest. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, daß die Tibeter in den östlichen Provinzen Kham und Amdo die Chinesen in gewissem Maße "gezähmt" haben und sie es, trotz enormer Schwierigkeiten, geschafft haben, die tibetische Kultur und ihre Integrität zu bewahren. Seit einigen Jahren dringt der Staat jedoch gewaltsam in die Weidegebiete vor und zwingt die Nomaden, sowohl ihr Land als auch ihren Viehbestand aufzugeben. Sie werden dann zwangsweise in neuen ärmlichen Häuserkolonien angesiedelt, wo ihre Erfahrung als Nomaden nutzlos ist und sie auch keine Möglichkeit haben, etwas Neues zu erlernen und ihnen lediglich das Notwendigste zum Überleben zur Verfügung gestellt wird. Folglich sitzen sie den ganzen Tag untätig und gelangweilt herum.

Tibeter im Exil genießen Freiheit, doch in Indien sind sie Gäste, was ihnen viele Kompromisse abverlangt. Im Exil haben die Tibeter mehr Klöster errichtet als es auf der Höhe des Klosterbaus im mittelalterlichen Europa gab. Doch die landwirtschaftlichen Siedlungen, die vor 50 Jahren geschaffen worden sind, um auf lange Sicht ein Leben im Exil zu ermöglichen, müssen heute darum kämpfen, neue Märkte für ihre Produkte zu erschließen und die jungen Tibeter in der Gemeinschaft zu halten, die es eher auf eine erfolgreiche Karriere im boomenden Indien abgesehen haben, selbst, wenn sie in diesem Land, in dem ein Exiltibeter auf 10.000 Inder kommt, dafür gewisse Kontakte zu ihren tibetischen Landsleuten aufgeben müssen.

Auch wenn die TAR dem Namen nach autonom ist, so ist der Status der Tibeter doch ein von Ohnmacht, Überwachung und ständiger Furcht geprägter. Nominell hat die TAR ihre eigene, vom Volk gewählte Provinzregierung, doch ist diese so schwach, daß sie nicht in der Lage ist, den Zustrom von Immigranten aus dem Kernland China durch den Erlaß entsprechender Gesetze zu stoppen oder auch nur Bestimmungen für den Tourismus zu erlassen, die verhindern würden, daß Touristen Pilger, die ihrer religiösen Praxis nachgehen, mit ihrer aufdringlichen Knipserei regelrecht belästigen.

3. In den vergangenen Jahren hat die chinesische Regierung gewaltige Summen in Tibet investiert. Wie würden sie die Entwicklungspolitik Chinas in Tibet einschätzen?

Das Grundproblem Chinas ist, wie aus einem Imperium eine Nation werden soll. In der Inneren Mongolei und in Xinjiang war es möglich, Millionen von verarmten chinesischen Kleinbauern anzusiedeln, was oft mit Hilfe von riesigen Staatsfarmen und der Infrastrukturentwicklung für die Grenzgebiete geschah. In Tibet hat sich dies als unmöglich erwiesen. Ein Modell der Assimilation, das sich auf Militärgarnisonen stützt, welche die Siedlungen der chinesischen Kleinbauern beschützen und das im Laufe von Jahrhunderten zur Perfektion ausgebaut wurde, versagte in Tibet, das ein Viertel des chinesischen Territoriums ausmacht und so groß ist wie Westeuropa von Berlin bis Lisabon.

Die Entwicklungspolitik Chinas hat sich an diesen Problemen orientiert: Wie kann Tibet integriert, wie können die Grenzen gesichert werden und wie kann man sich der Loyalität der Bevölkerung vergewissern? Frühere Versuche, Ödland wie z. B. die Überschwemmungsgebiete der wilden Bergflüsse urbar zu machen, die Getreideproduktion anzukurbeln oder Viehherden zu vergrößern und die Nutzung der Weiden und die Fleischproduktion zu intensivieren, wirkten sich verheerend aus und beschworen die erste Hungersnot in der Geschichte Tibets, die 1959 begann und bis 1961 anhielt, herauf.

Nachdem das System der Kommunen in den 1970ern zusammenbrach, verlor der Staat das Interesse an dem ländlichen Tibet, was den Bauern und Nomaden eine Chance bot, wieder zur Subsistenzwirtschaft zurückzukehren, ihre Herden wurden wieder ihr Eigentum und sie erhielten langfristige Pachtrechte an ihrem Land. In der chinesischen Propaganda wurde viel über die Notwendigkeit der Industrialisierung Tibets, der Ausbeutung der Bodenschätze, der Intensivierung der Getreideproduktion und der Seßhaftmachung der Nomaden gesprochen, doch in der Praxis wurde wenig getan. Die massiven Investitionen Chinas gingen in die Urbanisierung, in die Schaffung nicht-tibetischer Enklaven und den Überbau der Verwaltung. All dies ist von gewaltigen zentralen Subventionen abhängig, denn die TAR war nicht mehr in der Lage, Einnahmen zu generieren, die über 10% der jährlichen Staatsausgaben hinausgehen. Die verbleibenden 90 % kamen und kommen noch immer direkt aus Beijing.

Da die Wirtschaftspolitik von einer so weit von Tibet entfernten Hauptstadt aus bestimmt wurde und sie Projekte großen Maßstabs bevorzugte, so wie sie in den offiziellen Fünfjahres-Plänen aufgelistet waren, erfolgte fast die gesamte Entwicklung von oben nach unten und konzentrierte sich auf einige wenige favorisierte Gegenden; sie war stark zentralisiert und die Tibeter hatten dabei hinsichtlich dessen, was wirklich erforderlich gewesen oder wie die Projekte umzusetzen gewesen wären, nichts zu sagen. Obwohl die Tibeter angeblich die Begünstigten sind, so hatten sie doch kein Mitspracherecht bei der Gestaltung und Umsetzung der Entwicklungsprojekte. Es gab einige wenige internationale Entwicklungsprojekte, wie z.B. das EU-integrierte Entwicklungsprojekt im Kreis Panam in der TAR unter der Leitung von Uwe Wissenbach, wo den chinesischen Partnern praktisch gezeigt wurde, wie Entwicklungsprojekte unter Mitwirkung der Bevölkerung durchgeführt werden können. Das Paradoxe daran ist, daß Beijing eine Menge in Tibet investiert hat, Tibet jedoch bitterarm bleibt.

4. Was sehen Sie als das schwerste Defizit der chinesischen Entwicklungspolitik in Tibet und wie könnte hier am besten Abhilfe geschaffen werden?

Abgesehen von dem grundlegenden Mangel der Nicht-Miteinbeziehung der Tibeter betrachte ich die radikalen und nicht aufrechtzuerhaltenden Veränderungen in den landwirtschaftlichen Strukturen als wesentliche Schwäche dieser Politik. Die traditionelle Nutzung des Landes in Tibet war extensiv; Menschen und Viehherden waren, der nomadischen Wirtschaftsform entsprechend, großflächig über das ganze Land verteilt und zogen weiter, noch ehe die örtlichen Ressourcen erschöpft waren.

China hingegen richtete seine Anstrengungen vor allem darauf, von einer extensiven zu einer intensiven Nutzung des Landes überzugehen, obwohl die durch das rauhe Klima gesetzten ökologischen Grenzen Tibet – und das trifft auch auf Sibirien und Kanada zu – für eine intensive Entwicklung von Enklaven ungeeignet machen, die den Bergbau, die Errichtung von städtischen Zentren, Kommunen, Staatsfarmen und Transportkorridoren, die diese miteinander verbinden, forciert.

Hier könnte Abhilfe geschaffen werden, indem den Tibetern echte Autonomie gewährt wird. Wenn die Tibeter als Gleichberechtigte an der Gestaltung und Verwirklichung der Entwicklungsprojekte mitarbeiten und wenn Entwicklung so bestimmt wird, daß dabei der Aufrechterhaltung der Mobilität ein hoher Stellenwert einräumt wird, anstatt sie als primitiv hinzustellen, könnten diese Defizite ausgeglichen werden.

NGOs und Entwicklungsgesellschaften auf der ganzen Welt haben ein großes Maß an Erfahrungen zusammengetragen, sowohl hinsichtlich der Beteiligung der Bevölkerung als auch bei der Unterstützung der nomadischen und nachhaltigen Erwirtschaftung des Lebensunterhalts. China ist um Jahrzehnte zurückgeblieben und hat noch viel zu lernen, um das zu erreichen, was weltweit als die optimale Praxis gilt. Es gibt viele Gelegenheiten, bei denen China lernen kann, wie anderswo mit der Entwicklung umgegangen wird, vorausgesetzt allerdings, daß sich offizielle chinesische Organe finden lassen, die wirklich dazulernen wollen. In Tibet gibt es viele internationale NGOs und bilaterale Hilfsprojekte, die jedoch daran scheiterten, daß die chinesischen Behörden einzig und alleine daran interessiert waren, sich einen Zugriff auf die Gelder aus dem Ausland zu sichern; sobald diese Gelder nicht mehr flossen, brachen die Projekte zusammen.

Chinas Investitionen für die Entwicklung gingen in die harte Infrastruktur, in den Bau von Eisenbahnen, Fernstraßen, die Urbanisierung, den Bergbau und die Kraftwerke. Weiche Infrastruktur wie z.B. das Bildungswesen, die medizinische Grundversorgung der Landbevölkerung, die Ausbildungsförderung, die Risikoversicherung für Viehzüchter, ja sogar die ganz normale Wasserversorgung in den Dörfern wurden vernachlässigt. Wenn Tibeter weiterhin bildungsarm, bzw. Analphabeten bleiben, werden sie nie in der Lage sein, mit chinesischen Zuwanderern um Arbeitsplätze zu konkurrieren. Als Folge von Chinas Vernachlässigung der weichen Infrastruktur und der humanitären Entwicklung sind die Tibeter in ihrem eigenen Land zu ausgegrenzten und mittellosen Bürgern geworden, die am Rande der Gesellschaft dahinvegetieren.

Dorit Lehrack von der Heinrich Böll Stiftung half chinesischen NGOs, sich für bedrohte Tierarten und Umweltprobleme in Tibet einzusetzen, denn die Tibeter selbst haben keine Möglichkeit, eigene NGOs zu bilden. Das Mißtrauen der chinesischen Behörden gegenüber den Tibetern ist nämlich so groß, daß sie einen jeden, der auf irgendeine Weise ins öffentliche Leben tritt, des Separatismus verdächtigen. Den tibetischen Lamas wird jeglicher Beitrag zum öffentlichen Leben verwehrt, so daß Chinas Stimme die einzige war, die man hören konnte, bis vor kurzer Zeit die Tibeter unter Einsatz ihres Lebens wagten, dagegen zu protestieren.

5. Wie können zwischen Chinesen und Tibetern Grundlagen für einen offenen Dialog geschaffen werden?

Normale Chinesen sind im großen und ganzen gegenüber Unterschieden ziemlich tolerant, und ca. eine Million Chinesen glauben heute an den tibetischen Buddhismus, der in Chinas Städten recht populär geworden ist. Tibet zieht auch die Aufmerksamkeit reicher städtischer chinesischer Touristen auf sich, für die Tibet oft gleichbedeutend mit einem romantischen Shangri-La ist.

Ein offener Dialog ist dringend erforderlich. Es ist die Parteiführung, die in einer Raum-Zeit-Falle steckt, die immer noch gefangen ist in den stalinistischen Definitionen von ethnischer Zugehörigkeit, Fortschritt und den Stadien der menschlichen Evolution – ein Modell, in welchem China der Inbegriff der Zivilisation ist und die Tibeter primitiv sind, Sklaven einer feudalen Mentalität, Opfer eines falschen Bewußtseins, Leute, die um jeden Preis industrialisiert werden müssen.

Bis zur jüngsten Krise in Tibet war es den NGOs möglich, diesen hochkarätigen Stillstand zu umgehen, indem sie kleine Entwicklungsprojekte in Tibet als exemplarische Prototypen betrieben, und hofften, die Beamtenschaft auf diese Weise zum Umdenken zu bewegen. Sie bauten Schulen, ambulante Krankenstationen in den Dörfern etc. In Wirklichkeit aber sind die Beamten auf Gemeindeebene und aufwärts für gewöhnlich korrupt, habgierig, kriechen vor ihren Vorgesetzten und sind desinteressiert am Wohl der Tibeter. Ist die momentane Krise erst einmal vorbei, könnten, obwohl die Beamten gegenüber Ausländern skeptischer als je zuvor eingestellt sein werden, vielleicht Vorzeigeprojekte in kleinem Umfang wieder möglich sein.

Historisch gesehen fand der Dialog zwischen Tibetern und Chinesen immer von Person zu Person statt, zwischen individuellen Dalai Lamas und individuellen chinesischen Herrschern. Über die Jahrhunderte hinweg definierten sie immer wieder von neuem ihre Präzeptor-Schutzherr-Beziehung; es war eine Beziehung zwischen gleichen Partnern in ihrem eigenen Umfeld, wobei die politische und geistliche Macht sich gegenseitig ergänzten.

Schließlich könnte das Problem Tibets in dieser Weise gelöst werden, und nicht bei einer formellen Konferenz, bei der durch ein Abkommen die Aufteilung von Macht und Verantwortung festgelegt wird. Auf Außenstehende mag dieses Ergebnis instabil wirken, da es stark von der Überzeugungskraft einzelner Personen abhängig ist. Wir alle können jedoch mithelfen, indem wir den Dalai Lama unterstützen bei seinem Bestreben, direkt in Gespräche mit der chinesischen Führung zu treten.

6. Was hat das tibetische Volk davon, wenn wir in der westlichen Welt an seinem Kampf Anteil nehmen?

Über die Jahrzehnte hinweg hat sich in den westlichen Ländern durch den gewaltlosen Widerstandskampf der Tibeter langsam ein enormes Potential zu allgemeiner Unterstützung gebildet. Dies ist eine Form von sozialem oder moralischem Kapital, das in den letzten Jahren in einer Welt, die sich vornehmlich mit Gewalt und Terrorismus befaßt, aus den Augen verloren wurde. Bedauerlicherweise wurde die Existenz dieses sozialen Kapitals erst dann deutlich, als in Tibet die Gewalt ausbrach. Nun verfolgt die gesamte Welt sehr genau, was in Tibet passiert. Die tiefe Sympathie für Tibet, die in den täglichen Medienberichten so offensichtlich ist, ist das Ergebnis jahrelanger geduldiger Arbeit der im Exil lebenden Tibeter, wie beispielsweise des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD), das sich, als die westliche Welt nahezu keine Möglichkeit hatte, sich über Tibet zu informieren, einen Ruf als eine zuverlässige Informationsquelle über die Geschehnisse in Tibet erworben hat. Die Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung für das TCHRD brachte Früchte: Es wuchs eine neue Generation von tibetischen Fachleuten heran, die die aktuelle Situation in Tibet genau verfolgen, die Nachrichten auf ihre Authentizität hin überprüfen und dann aller Welt über sie Bericht erstatten.

Tibeter in Tibet und anderen Teilen der Welt sind nun in der Lage, dieses soziale Kapital zu mobilisieren, womit sie Druck auf ihre Kanzler und Premierminister ausüben können, sich für Tibet einzusetzen und China zu mahnen, die Tibeter als ebenbürtige Menschen zu behandeln.

Bis März 2008 schien es, als ob die ganze Sorge der westlichen Welt um Tibet keine sichtbaren Ergebnisse erbringen würde. Nun läßt sich klar erkennen, daß mit dem tibetischen Modell des aktiven gewaltlosen Widerstandes eine Menge erreicht werden kann, solange wir im Westen uns weiterhin um Tibet kümmern.

Ein Großteil der Welt blickt nur dann auf Tibet, wenn es dort Gewalt gibt. Aber diese ungeheure Welle von aufrichtiger Anteilnahme, die wir derzeit erleben, ist nur durch die jahrzehntelange geduldige Übung der Gewaltlosigkeit möglich geworden. Unter den Exiltibetern scheint Gewaltlosigkeit für viele zu dürftig, ausgereizt und sinnlos geworden zu sein. Nur mit der langfristigen geduldigen Unterstützung durch NGOs, wie beispielsweise die Heinrich Böll Stiftung, können die Verfechter der Gewaltlosigkeit die Oberhand behalten.