17. Oktober 2002

TIBET INFORMATION NETWORK

City Cloisters, 188-196 Old Street, London EC1V9FR,
ph: +44(0)207 814 9011, fax +44(0)207 814 9015, e-mail: tin@tibetinfo.net, www. tibetinfo.net

Ngawang Sangdrol freigelassen

Heute wurde Ngawang Sangdrol, die von allen weiblichen politischen Gefangenen in Tibet im Augenblick zur längsten Haftstrafe verurteilt war, neun Jahre vor Ablauf ihrer Strafzeit aus dem Drapchi Gefängnis in Lhasa (Gefängnis No. 1 der Autonomen Region Tibet) wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Ngawang Sangdrol, die mit 13 und dann wieder mit 15 Jahren eingesperrt wurde, ist jetzt, wie es heißt, wieder bei ihren Angehörigen. Sie gehört zu den politischen Gefangenen in Tibet, um deren Entlassung sich westliche Regierungen und Menschenrechtsorganisationen am häufigsten bemüht haben. Seit Beginn dieses Jahres hat China sieben prominente tibetische politische Gefangene vor dem Ablauf ihrer Haftzeit freigelassen.

Die 1977 in Lhasa geborene Ngawang Sangdrol (Laienname Rigchog), war Novizin im Kloster Garu, als sie erstmals im Alter von nur 11 Jahren politisch aktiv wurde und 1987-88 an den Unabhängigkeitsdemonstrationen in Lhasa teilnahm. Mit 13 Jahren beteiligte sie sich zusammen mit anderen Nonnen erneut an politischen Protesten und wurde in der Haftanstalt Gutsa inhaftiert. In dieser Zeit soll sie so brutal geschlagen worden sein, daß sie an beiden Hände bleibende Schäden erlitt. Nach 9 Monaten wurde sie entlassen; in der Zwischenzeit war ihre Mutter gestorben, ihr Vater Namgyal Tashi und ihr Bruder Tenzin Sherab waren aus politischen Gründen verhaftet worden, während verschiedene andere Mitglieder ihrer Familie ins Exil geflohen waren. Als eine ehemalige politische Gefangene wurde sie nicht mehr in ihrem Kloster aufgenommen.

Nachdem sie im Juni 1992 mit 15 Jahren wegen eines Versuches zu demonstrieren erneut verhaftet worden war, wurde Ngawang Sangdrol im Herbst desselben Jahres zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt. 1993 nahmen sie und 13 weitere Nonnen mit Hilfe eines Cassetten-Recorders Lieder auf, in denen sie ihre Liebe zu ihren Familien und ihrem Heimatland ausdrückten. Die Cassette konnte aus dem Gefängnis geschmuggelt werden, aber die Folge davon war, daß Ngawang Sangdrols Haftstrafe um sechs Jahre verlängert und sie ebenso wie die anderen Nonnen schwer mißhandelt wurde.

Die zweite Urteilsverlängerung für Ngawang Sangdrol erfolgte 1996 wegen ihrer Beteiligung an verschiedenen Zwischenfällen im Drapchi-Gefängnis. Wie es heißt, gehörte sie zu einer Reihe weiblicher politischer Häftlinge, die im Frühjahr 1996 bei Meetings, die von der Gefängnisleitung einberufen wurden, gegen den offiziellen Panchen Lama Kandidaten protestierten. Ngawang Sangdrol weigerte sich auch aufzustehen, wenn ein Gefängnisaufseher ihre Zelle betrat, und als sie und andere Frauen zur Strafe, weil sie ihre Zellen nicht aufgeräumt hatten, im Regen stehen mußten, rief sie "Free Tibet".

Ngawang Sangdrols dritte Urteilsverlängerung wurde von dem Mittleren Volksgericht in Lhasa im Oktober 1988 verhängt - die exakte Länge der Strafe ist nicht klar, doch hieß es, daß ihr neues Entlassungsjahr 2013 sei, wobei ihre gesamte Haftzeit sich auf dann 21 Jahre beliefe. Diese neuerliche Verlängerung scheint eine Strafe für ihre Beteiligung an den Protesten im Drapchi Gefängnis im Zusammenhang mit dem Besuch einer Delegation von Botschaftern der EU im Mai 1998 und individueller Proteste im weiteren Verlauf desselben Jahres gewesen zu sein. Im September 2001 starb ihr Vater Namgyal Tashi bei sich zu Hause in Lhasa.

Laut der chinesischen Behörden wurde im Oktober 2001 Ngawang Sangdrols Haftzeit um 18 Monate reduziert, weil sie "echte Zeichen von Reue und den Willen zur Besserung" gezeigt habe. Auch wurde berichtet, sie sei von schwerer Arbeit befreit worden und man habe ihr "leichte, für weibliche Insassen angemessene Arbeit, wie Stricken und Weben" zugeteilt. Ngawang Sangdrols gesundheitlicher Zustand soll in den letzten Jahren immer schlechter geworden sein. Nach Aussagen John Kamms, des Direktors der Dui Hua Stiftung, der eine wichtige Rolle bei der Freilassung von Ngawang Sangdrols spielte, wurde sie nicht aus medizinischen Gründen entlassen, sondern wegen einer Sonderregelung, der zufolge Häftlinge, die als Jugendliche ins Gefängnis kamen, für eine vorzeitige Entlassung in Frage kommen. Aus der gleichen Verlautbarung der Dui Hua Stiftung geht ebenso hervor, daß die Entscheidung zur Entlassung auf Bewährung daher nicht alleine von dem Mittleren Volksgericht getroffen worden sein kann, sondern vom Oberen Volksgericht der TAR und dem Obersten Volksgericht der VR China bestätigt worden sein muß.

Auffällig ist, daß der Zeitpunkt von Ngawang Sangdrols Entlassung mit dem bevorstehenden Besuch von Präsident Jiang Zemin den USA zusammenfällt. Dessen ungeachtet ist dies die siebte Freilassung eines prominenten tibetischen Häftlings in diesem Jahr. Die daraus ersichtliche Tendenz könnte bedeuten, daß die chinesische Regierung nach neuen Wegen für den Umgang mit politischen Gefangenen in Tibet sucht. Den Untersuchungen von TIN zufolge hat die Anzahl der politischen Häftlinge in Tibet in den letzten Jahren stetig abgenommen. Dennoch betrug im Februar 2002 dem Kenntnisstand von TIN zufolge die Zahl der politischen Gefangenen immer noch 188, von denen sich vermutlich 100 im Drapchi Gefängnis befinden.

nach oben