11. April 2008
http://www.atimes.com/atimes/China/JD11Ad01.html

Nicht autorisierte Übersetzung

Tibet – Eine wichtige Frage für China

Von Francesco Sisci

Vorwort Sisci untersucht die Tibetkrise von einer ungewohnten Position her. Er hinterfragt den ideologischen Rahmen der Volksrepublik zur Bewältigung von Krisen und stellt dabei fest, daß China an seinen lieben Gewohnheiten, die selbst Geschichte geworden sind, festhält und mitnichten nach der Staatsgründung ein neues Interpretationsschema hat. Die Geschichte soll als Begründung dienen, doch da hapert es an allen Enden. Nähme China seine Geschichte wirklich ernst, müßte es von Kublai Khan lernen. China ist jetzt ein modernes, die Weltpolitik mitbestimmendes Land, doch seine Rolle in der Welt interpretiert es nach dem alten Muster. Die Moderne fing mit Umwälzungen im Denken an und genau da will China nicht mitmachen. Die Toleranz, einer der Schlüsselbegriffe der Moderne, entwickelt aus religiösen Streitigkeiten und Kriegen in Europa, ist in China noch nicht angekommen.

Eine ganze Reihe historischer Landkarten Asiens aus diversen Epochen, auf denen Tibet figuriert, gibt es auf der Website “Alternative Tibétaine”:

Selbst wenn man an die Geschichte mit der besten Absicht herantritt, gibt es keinen historischen Beweis, der die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Tibet und Peking rechtfertigen würde – oder von tibetischer Seite aus gesehen, keinen Gegenbeweis. Tatsache ist, daß China aus der Geschichte, die ihm seit Hunderten von Jahren als ideologisches Werkzeug dient, seine heutigen Territorialansprüche nicht mehr rechtfertigen kann.

Eigentlich braucht China gar nicht auf die Geschichte zu verweisen, um sein heutiges Staatsgebiet für rechtsmäßig zu erklären. Die Geopolitik würde ein ausreichendes Motiv liefern. Wenn man aber bei der Tibetfrage die Geschichte beiseite läßt, hinterläßt das eine Lücke in der modernen chinesischen Ideologie und es könnte sehr gefährlich werden, wenn man Geschichte durch simple Geopolitik ersetzte: Es muß eine Politik geben, die in und außerhalb von China konsensfähig ist. Letzten Endes ist der Kern der Tibetproblematik nichts anderes als die falsche Regierungspolitik – und dazu gehört auch, daß Peking nicht damit zurechtkommt, daß zahlreiche Tibeter sich dem Dalai Lama verbunden fühlen.

Jahrhundertelang stellte die Geschichte, ihre Behandlung und Manipulierung den Rahmen für die Schaffung der notwendigen ideologischen Paradigmen dar, um China zu regieren. Möglicherweise beruhte die Faszination für den Marxismus Anfang des vergangenen Jahrhunderts auf dessen historischem Materialismus, der mit den Schlüsselaspekten des kulturellen Nationalcharakters Chinas übereinstimmte: Leidenschaft für Geschichte und eine sehr praktische Natur. Die beiden Elemente, Geschichte und Praxis, gingen offenbar viele hundert Jahre lang Hand in Hand.

Die gegenwärtige Tibetkrise, die sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit ereignet, stellt diesen Rahmen jedoch in noch nie dagewesener Art und Weise in Frage, und sie könnte China dazu zwingen, nach einem neuen Ausschau zu halten. Praxis und praktische Gründe sind offenbar nicht mehr im Einklang mit der Geschichte und ihrer Manipulation zu bringen, die bis zu dem Punkt strapaziert wurden, dass sie nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Eine durch den Sinn für das richtige Maß und Harmonie geleitete geopolitische Begründung könnte China ein besseres Paradigma für die Betrachtung der modernen als auch der alten Geschichte liefern.

Der Aufstand vom 14. März 2008 in Lhasa und die anschließenden Demonstrationen in den von Tibetern bewohnten Regionen Chinas haben in der Tat Fragen aufgeworfen, die für die Zukunft des Landes überaus bedeutsam sind. Diese Herausforderungen gehen über das bloße Ausmaß des Protestes und über das akute Problem, die friedliche Vollendung der Olympischen Sommerspiele im August zu gewährleisten, weit hinaus. Die Themen sind von grundlegender Art, es geht um die Geschichte, die Geographie und die Rolle Chinas in der Welt.

Historische Schlaglichter

Nach offizieller chinesischer Lesart gehört Tibet schon seit der Yuan-Dynastie oder gar noch früheren Zeiten zu China. Die offizielle Geschichte Tibets liest sich kurz gesagt so:

Dem Tubo-Stammesführer Songtsan Gambo gelang es, mehr als 80 separate Stämme zusammenzubringen und so das Königreich Tubo zu gründen, das einen großen Teil dessen umfaßte, was später als Tibet bekannt wurde. Zweimal schickte er Gesandte mit der Forderung an den Hof der Tang-Dynastie, daß ihm jemand von der kaiserlichen Familie zur Gemahlin gegeben werde. Im Jahr 641 wurde schließlich Prinzessin Wencheng, ein Mitglied von Kaiser Taizongs Familie, für diese Rolle auserkoren. (1)

Nach der offiziellen Geschichtsschreibung wurde diese Beziehung einige Jahrhunderte später systematisch ausgebaut.

Im Jahr 1271 wählten die mongolischen Eroberer für ihre Dynastie den Namen Yuan. 1279 einten sie schließlich ganz China. Die neu gebildete Zentralregierung übte weiterhin Kontrolle über Tibet aus und schloß es als direkt regierte Verwaltungseinheit ins Reich ein. Unter Berücksichtigung des konkreten Charakters der örtlichen geschichtlichen Tradition, der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Umweltbedingungen, der Ethnizität und Religion ordneten die Yuan-Herrscher spezielle Maßnahmen für die Verwaltung Tibets an, die sich von der in den anderen zehn Verwaltungsbezirken praktizierten Politik unterschieden.

1) 1270 verlieh Kaiser Kublai Khan dem Lama Pagba, dem Oberhaupt der Sakya-Schule, den offiziellen Titel eines Kaiserlichen Beraters. In der gesamten chinesischen Geschichte nahm niemals ein Mönch eine höhere offizielle Position ein.

Von da an war der Kaiserliche Berater ein hochrangiger Würdenträger in der Zentralverwaltung, der direkt vom Kaiser ernannt wurde. Er war für die Buddhisten in ganz China zuständig und für alle Angelegenheiten, die Tibet betrafen.

2) Kurz nach Errichtung der Yuan-Dynastie wurde der Zongzhi Yuan gebildet, der dann für die buddhistischen Belange der ganzen Nation und die Militär- und Verwaltungsangelegenheiten Tibets verantwortlich war. 1288 wurde er in Xuanzheng Yuan umbenannt. Für gewöhnlich war der Premierminister der Vorsitzende des Xuansheng Yuan, während gleichzeitig ein vom Kaiserlichen Berater ernannter Mönch die Position des Vizepräsidenten einnahm. Dies war das erste Mal in der chinesischen Geschichte, daß ein zentrales Gremium gebildet wurde, um sich mit tibetischen Angelegenheiten zu befassen.

3) Tibet wurde in mehrere Verwaltungsbezirke aufgeteilt und es wurden Beamte unterschiedlichen Ranges damit beauftragt, die Verwaltung effizient zu organisieren. Die Verantwortung lag beim Kaiserlichen Berater. (2)

Dennoch sind die Begründungen für die heutige Inkorporation Tibets in den chinesischen Staat aus zwei Gründen schwach: Zum einen gibt es Kontroversen darüber, inwieweit die Yuan-Dynastie überhaupt zur chinesischen Tradition gehört. Die Herrscher waren Mongolen, die offizielle Hofsprache war Mongolisch oder Farsi und die ethnischen Chinesen waren Bürger zweiter Klasse.

Außerdem kann man geteilter Meinung darüber sein, ob es in Tibet und dessen Verwaltung tatsächlich eine echte Machtausübung durch die Mongolen gab. Sie intervenierten, um die eine oder andere Fraktion in den innertibetischen Machtkämpfen zu stärken, aber es ist zweifelhaft, ob sie dadurch jemals zu tatsächlicher Herrschaft über Tibet gelangten. Sogar in der Ming-Zeit wurde Tibet als außerhalb der traditionellen Provinzen des „Ureigensten Chinas“ behandelt. Wie Thomas Bartlett das Thema zusammenfasst: „Die mongolische Yuan-Dynastie übte nur durch die tibetischen religiösen Oberhäupter Kontrolle über Tibet aus. Die Mongolen haben Tibet niemals erobert oder beherrscht.“

Erst während der Qing-Dynastie (1644-1912) änderte sich die Sachlage gravierend. Damals war Tibet ein wichtiger Teil eines großen Spiels um die Macht zwischen den Mandschu, den Zunghar-Mongolen und den Russen. Jahrzehntelang stritten die Mandschu und Zungharen über die Kontrolle über Tibet.

Für die Mandschu war politisch essentiell, eine Allianz zwischen den spirituellen Oberhäuptern in Tibet und der mongolischen Militärmacht aus der Steppe zu verhindern. Bei zeremoniellen Dialogen verglich sich der Kangxi-Kaiser seinem tibetischen buddhistischen Lehrmeister Phagspa gegenüber, der selbst als Wiedergeburt des Lebendigen Buddhas der Gelben Sekte am Hof der Qing galt, mit einer Reinkarnation von Kublai Khan (1260-1294).

Dieser Vergleich war nicht angemessen: Kublai Khan war von seinen religiösen Anschauungen zutiefst überzeugt, während die Behauptung des Mandschu-Kaisers ausschließlich politisch motiviert war. Es gilt als sicher, daß er in den Mord am VI. Dalai Lama im Jahr 1706 verwickelt war; er hatte ein Motiv und die nötigen Mittel. Als der VI. Dalai Lama 1708 als der VII. wiedergeboren wurde, wurde er in der Region Kham gefunden (chin. Xikang, gegenwärtig Lithang im äußersten Westen von Sichuan, wo damals Mandschu-Garnisonen die Kontrolle ausübten). Das kam den Mandschu sehr zupass. Der Kangxi-Kaiser wurde der Pate des Knaben, überwachte seine ersten Lebensjahre und ließ ihn 1720 nach Lhasa eskortieren, um dort seinen Sitz einzunehmen.

Manche Qing-Dokumente datieren die Annexion Tibets auf diesen Zeitpunkt, aber dabei handelt es sich um eine raffinierte Übertreibung. Die Mandschu wollten die Dalai Lamas ohne jeden Zweifel zu ihren Marionetten machen, in einem Dekret, das der Kangxi-Kaiser 1721 herausgab, behauptete er fälschlicherweise, Tibet habe schon seit über 80 Jahren der „Oberlehnsherrlichkeit“ der Mandschu unterstanden und er versuchte, die Beziehung nun in engere Begriffe zu fassen. Die Tibeter „interpretierten dies in ihrem traditionellen Konzept vom Schutzherrn und Geistlichen“. Das heißt, sie erfaßten das politische Konzept der angeblichen Verbindung des Kaisers mit dem Dalai Lama gar nicht. In der damaligen Situation sowie auf lange Sicht waren die Manchu nicht erfolgreicher als ihre Vorgänger auf dem chinesischen Thron. In allen innenpolitischen Bereichen war Tibet vom China der Qing-Zeit völlig unabhängig, und die regierenden Lamas hatten auch keine weiterführenden politischen Interessen. (3)

Die Feststellung von Frederick W Mote, daß der für mongolische und russische Angelegenheiten zuständige Lifan Yuan auch tibetische Fragen behandelte, unterstreicht das noch. Die Mongolei gehörte zum Qing-Reich oder schloß sich dessen Rivalen in Zentralasien, den Zungharen an; Russland war die aufsteigende Macht in Zentral- und Nordwestasien.

Es wird sogar noch verzwickter. Perdue schreibt:

Neu aufflammende interne Konflikte [in Tibet] veranlassten den Kaiser [Yongzhen] entgegen seiner ursprünglichen Absichten die zweite schwerwiegende militärische Intervention in Tibet zu genehmigen. Die 1720 von der Invasionsarmee der Qing eingesetzte Militärregierung wurde von den Tibetern begrüßt, denn sie waren froh, daß die brutalen Zungharen-Soldaten aus dem Land gejagt wurden. Der von den Zungharen ausgeplünderte Potala-Palast wurde renoviert und mit kaiserlicher Unterstützung sogar ausgebaut. Die Regentschaft wurde abgeschafft und der damals zwölfjährige VII. Dalai Lama fungierte als Galionsfigur für die Herrschaft der führenden tibetischen Adligen. Die beiden mächtigsten waren Sonam Stobgyal, das Haupt der Polha in Westtibet, die auch als Polhanas bekannt sind, und Kancennas. Beide hatten den Widerstand gegen die Zungharen geleitet. Den drei als Asaham Amba bezeichneten Mandschu-Beamten, die die Verwaltung überwachten, stand eine Garnison von 3000 Mann zur Verfügung. Die Regierungsgewalt lag jedoch in der Hand der lokalen Herrscher, deren Machtausübung recht instabil war und die nicht in der Lage waren, einen funktionierenden Zentralrat einzurichten.

Die chinesische Besatzungsarmee erwies sich für die Tibeter als schwere Last. Der Getreidepreis stieg ständig, obwohl die Qing immense Summen dafür ausgaben, Getreide aus Tausenden von Kilometern entfernten Gegenden im Inneren Chinas herbeizuschaffen. Die Generäle Nian Genyao und Yanxin hatten mit Kangxi die baldmöglichste Reduzierung des Militärs in Lhasa vereinbart. Weil der Kaiser den Frieden mit den Zungharen erhalten und die Zivilbevölkerung entlasten wollte, befahl er den schnellen und vollständigen Rückzug der Truppe. Auf diese Weise sollten die von ihm angestrebten Ausgabenkürzungen realisiert werden. Kancennas bat den Kaiser eindringlich, den Truppenabzug nochmals zu überdenken. (4)

Diese Zusammenfassung steht nicht in Widerspruch zu Motes Darstellung. Sie lässt Raum für die Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Rolle der Mandschu in den innertibetischen Angelegenheiten und betont die Stellung des tibetischen Adels. Sie zeigt auf, daß Yongzhen vor allem an der Beschwichtigung der Zungharen gelegen war und er deshalb kein Interesse an der Aufrechterhaltung der vollen Kontrolle über Tibet hatte. Das hätte nämlich zu neuen Konflikten, sowohl mit den kriegerischen und in einer schwierigen Auflösungsphase befindlichen mongolischen als auch mit den sich westwärts ausbreitenden Russen, führen können. All dies zeigt, daß es zwei Gründe für den chinesischen Rückzug aus Tibet gab: Tibet war zu arm, um eine große chinesische Truppe ernähren zu können, und es war damals sehr schwer und kostspielig, genügend Nahrungsmittel für die Soldaten aus den benachbarten Provinzen herbeizuschaffen.

Aktuelle Geopolitik

Jetzt könnte China behaupten, daß die Lage sich heute völlig anders darstellt. Die Logistik funktioniert, und China ist reich genug, um seine Garnisonen in Lhasa und anderswo in Tibet zu unterhalten. Es muss keine Zungharen und andere lokalen Rivalen mehr beschwichtigen und ist nicht mit vorrückenden ausländischen Mächten wie Russland im 18.Jahrhundert konfrontiert. Deshalb kann China heute tun, was es sich damals nicht leisten konnte – die vollständige Kontrolle über Tibet ausüben. Dennoch lässt sich das politische Verhältnis zwischen Tibet und China als seit damals unverändert beschreiben.

Auch die Anerkennung der „Oberlehnsherrlichkeit“ Chinas über Tibet durch die Briten zur Zeit des Kaisers Qianlong ist in Betracht zu ziehen. Dieses Konzept der „Oberlehnsherrlichkeit“ war gewiss schwach und wurde zu undifferenziert auf die politischen Beziehungen zwischen Peking und anderen „Territorien“ wie Korea oder Siam (das heutige Thailand) angewendet, die sich heute „in Sicherheit“ außerhalb des chinesischen Machtanspruchs befinden. Aber dieser schwache und vage Begriff passte offenbar recht gut zu den Ambitionen der Briten, die Zugriff auf China erlangen wollten. Die Russen schwächten das Qing-Reich von Norden aus, die Franzosen nisteten sich im Süden ein und strebten von Vietnam aus nach Norden, die Engländer wollten sich von Indien aus den Himalaya aneignen. Es lag also im Interesse all dieser Mächte, die Schwäche der chinesischen Herrschaft über Tibet und andere Gebiete zu zementieren, gleichgültig ob de jure oder de facto.

Aus der Perspektive der neuesten Geschichte betrachtet, hat es etwas wie die umfassende Herrschaft, welche die chinesischen Kommunisten seit 1950 über Tibet ausüben, vorher noch niemals gegeben. Es hat allerdings auch nie etwas gegeben wie die umfassende Herrschaft der chinesischen Kommunisten über ganz China. Die vorausgehenden Dynastien waren zufrieden mit der Herrschaft einiger 100.000 Beamter über eine Bevölkerung von 400 Millionen wie beispielsweise in der Qianlong-Ära. (5)

Selbst wenn wir die Anzahl der Beamten mit 20 multiplizieren, weil wir annehmen, daß der durchschnittliche Beamte über ca. 20 Schreiber, Wachen und Sekretäre verfügte, kommen wir immer noch auf nur einen Beamten für je 200 Menschen.

Zudem war es ein zweipoliges System. Die Mandarine unterstanden direkt der Zentralregierung, während die Wachen und Sekretäre Untergebene der örtlichen Verwaltung waren. Deshalb war es für die Zentralregierung kaum möglich, einen Lokalbeamten zu umgehen, der in seinem Bereich handeln konnte wie ein Kaiser. So kam es, daß die Verwaltung der Dörfer in erster Linie in der Hand der örtlichen Granden und der Mitglieder reicher Familien lag, die mit einem derzeitigen oder verstorbenen Beamten verwandt waren.

Im Gegensatz dazu richteten die Kommunisten in jedem Weiler Parteizellen ein und bauten die Parteistruktur rasch aus. Sie setzten eine strikte Parteidisziplin durch, führten Schulungen durch und verschufen Peking auf diese Weise umfassenden Zugriff auf jede Region des Landes. Die moderne Telekommunikation unterstützte diese Politik zusätzlich. Bei etwas unter 1,4 Milliarden Menschen gibt es heute über 70 Millionen Parteimitglieder. Das ist ein Kader auf knapp 20 Personen und somit eine zehnfache Vermehrung des Verhältnisses gegenüber der Vorgängerdynastie.

Ferner unterstehen heutzutage alle Beamten zumindest theoretisch der Zentralregierung und können auch zentral kontrolliert werden. Theoretisch kann sich niemand lange als Lokalkaiser gerieren, denn die Zentralregierung verfügt über die Mittel und Organisationsstrukturen, um mittlere oder niedere Ränge auszuschalten. In gewisser Weise kann man die Gewalt der Partei über Tibet mit ihrer Gewalt über ganz China vergleichen.

Die folgenden Argumente sind wichtig, denn sie liefern die notwendige Legitimierung für die gegenwärtige chinesische Herrschaft über Tibet. Ohne sie bliebe vom chinesischen Anspruch auf Tibet nur die rohe Gewalt, und das würde Chinas Ansehen im Ausland und im eigenen Land schaden. Die Idee dafür stammt aus den Jahren nach 1950.

Mit der Errichtung der VR China verfügte das Land erstmals seit dem Zusammenbruch der Qing-Dynastie über eine Regierung mit der Fähigkeit und dem Willen, sich die Herrschaft über Tibet zu sichern. Für die Führung der VR China – insbesondere die Intellektuellen darunter – boten die wahllosen Eroberungen früherer Zeiten kein sinnvolles historisches Konzept für die Zukunft; im Umfeld der vom dialektischen Materialismus geprägten Geschichtsschreibung musste die Einbeziehung Tibets in den chinesischen Staat geltend gemacht, belegt und wissenschaftlich legitimiert werden. Der ideologische Imperativ zwang die VR China dazu, sich genauer mit der Natur der historischen Zugehörigkeit Tibets zu China zu befassen. Das ist der Ursprung für die in den letzten Jahrzehnten gültige Lesart: die Erklärung, Tibet sei im mongolischen Kaiserreich zum untrennbaren Bestandteil Chinas geworden, als die mongolischen Herrscher über China Tibet und China vereinigten. (6)

Für die damalige Ideologie war die Expansion Chinas aus rein geopolitischen Gründen nicht akzeptabel. Deshalb musste ein ideologischer Diskurs hergestellt werden, anhand dessen die Kontrolle der VR China über Tibet gerechtfertigt wurde – sowohl im Hinblick auf die Befreiung der Tibeter (gemäß dem kommunistischen Ideal) als auch im Hinblick auf die historischen Bedingungen (gemäß der chinesischen Geschichte, deren Erbe die VR China sein wollte).

Diese Begründungen führten zu einer drastischen Veränderung des für Tibet benutzten Vokabulars. Das nationalistische China sprach hocherfreut von Tibet als unter chinesischer Oberhoheit (zhuquan) (7) stehend oder als „Vasall“ (fanshu). (8)

Beide Definitionen hatten jedoch einen politisch nicht korrekten kolonialen Unterton und waren somit für das revolutionäre China offiziell nicht tragbar. In den 50er Jahren prägte China den Begriff, der auch heute noch auf Tibet angewandt wird: zhongguo de yi bufen (ein Teil Chinas). Das ist vage genug, um einer eingehenden Untersuchung der tatsächlichen Natur der geschichtlichen Beziehungen zwischen China und Tibet standzuhalten. Andererseits ist er präzise genug, um der damit verbundenen politischen Absicht dienlich zu sein: Der Bestätigung, daß Tibet zur VR China gehört. Mit den von der VR China herausgegebenen Büchern, die diese historischen Vorgänge dokumentieren, kann man ganze Bibliotheken füllen.

Dennoch werden die Dinge gerade durch diesen starken Bezug auf die Vergangenheit noch komplizierter. Gewalt und gewaltsame Siege bieten keine solide Grundlage für breite Zustimmung. Es muß also fundiertere und überzeugendere Begründungen geben; am besten interpretiert man die Geschichte als Ansammlung von Tatsachen, die sich durch Präzedenzfälle rechtfertigen lassen. Diese Vorgehensweise ist sicherlich „zivilisierter“ und funktioniert in der Regel auch besser, als nur mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Es sind dafür allerdings komplizierte Manipulationen der Geschichte und des Bildungswesens vonnöten, die viele Hintertüren für miteinander wetteifernde Geschichtsinterpretationen offenlassen können. Je länger der untersuchte historische Zeitraum ist, desto mehr Hintertüren wird es geben. Westliche Geschichtswissenschaftler haben mehrfach darauf hingewiesen, daß es zum Beispiel während der Ming-Dynastie keine chinesische Herrschaft über Tibet gab. Genauer gesagt: Es gab damals in Tibet keine von den Ming erlassene Verordnungen, Gesetze oder von ihnen erhobene Steuern usw.“ (9)

Dieser Sachverhalt wirft seine Schatten auf die Behauptung des angeblichen Vasallentums Tibets. Traditionell wurden diese Hintertüren in China mittels Durchsetzung eines politisch zweckdienlichen Umgangs mit der Geschichte verschlossen, durch den alle abweichenden Geschichtsinterpretationen unterdrückt wurden. In einem streng überwachten, für alle konkurrierenden Meinungen undurchdringlichen Umfeld ist das möglich.

Das funktionierte bis Mitte des 19. Jahrhunderts, denn bis dahin war der Rest der Welt für China und die Chinesen nicht von Belang. Aber das moderne China ist in dieser Welt nicht mehr länger von außen undurchdringbar und der Versuch, die „wohlbegründete Geschichtsinterpretation“ durchzusetzen, schwächt das allgemeine Ansehen offizieller Darstellungen. Das heißt, wenn jemandem Chinas Besitzanspruch auf Tibet zweifelhaft wird, wird er auch alle anderen offiziellen Behauptungen anzweifeln.

Auf Grund der zahlreichen historischen Kontroversen über Tibet ist es Chinesen wie Ausländern bewußt, daß die Sachlage unklar ist. Es mag mehr Gründe geben, Vietnam – ein Land, das jahrhundertelang die chinesische Schrift benutzte, dessen Sprache den südchinesischen Dialekten ähnelt und das während der Han-Dyanstie „erobert“ wurde – als Bestandteil Chinas zu betrachten als Tibet. Schrift und Sprache der Tibeter sind vollkommen verschieden vom Chinesischen, und es gibt erst seit jüngerer Zeit nähere Kontakte zu China. Aber die aktuelle Geschichte wollte es anders und so gehört Tibet zu China und Vietnam ist unabhängig. Ähnliches wäre auch zu Korea anzumerken.

Allerdings ist Vietnam von besonderem Interesse. 1950, als China nach Tibet griff und die Truppen die vietnamesische Grenze erreicht hatten, wurde Vietnam von Frankreich beherrscht. Übergriffe hätten zu einem Krieg mit einem mächtigen Land führen können. Im Gegensatz dazu war Tibet schutzlos. Großbritannien hatte sich 1947 aus Indien zurückgezogen, aber es hatte nach wie vor starke Interessen in Asien und hätte in Tibet eine Art Protektorat errichten und sonstige Hilfen – auch militärische – leisten können. Es hätte Truppen auf dem tibetischen Plateau stationieren können, in deren Blickfeld die ausgedehnten chinesischen Steppen gelegen hätten. Es ist verständlich, daß das neue maoistische China das zu verhindern suchte.

New Delhi – das damals mit der Abspaltung Pakistans und dem ersten indisch-pakistanischen Krieg beschäftigt war – hätte gar nicht genug Energie und Willen aufbringen können, um Anspruch auf Tibet zu erheben. Das soeben von Großbritannien unabhängig gewordene Indien hatte zudem mehr als nur einen Grund, die Präsenz Chinas der Rückkehr eines massiven Aufgebots an Briten im Himalaya vorzuziehen, der im übrigen auch einen großzügigen Ausblick auf die indischen Ebenen bietet. Sogar noch nach der Flucht des Dalai Lama nach Indien im Jahr 1959 soll Jawarharlal Nehru mit Mao Zedong über die Möglichkeit einer sicheren Zuflucht für die tibetischen Flüchtlinge besprochen haben. Mao hat Nehru angeblich gesagt, es sei, alles in allem, für die Tibeter wohl besser im freundlichen Indien zu bleiben statt im unfreundlichen Amerika.

Das war Grund genug, um chinesische Truppen nach Tibet zu schicken. Insbesondere auch deshalb, weil territoriale Expansion damals nicht in demselben Maß als Blasphemie galt, wie das in der heutigen politischen Weltsicht der Fall ist.

Territorium oder Kolonie?

Das wirft auch ein anderes Licht auf das, was die Briten damals als chinesische „Oberlehnsherrlichkeit“ über Tibet bezeichneten und hilft uns dabei, eine zeitgenössische politische Übersetzung für diesen Begriff zu finden. Wir sollten uns auch erinnern, daß „Oberlehnsherrlichkeit“ für Peking in Siam und Korea und somit auch in Tibet eine jeweils unterschiedliche Bedeutung hatte. Was bedeutete „Oberlehensherrlichkeit“ im Vergleich zu den Kolonien jener Zeit? Wir haben heute keine Kolonien mehr, aber große Länder wie Russland und die USA haben Regionen in ihr Staatswesen integriert, die man als ehemalige „koloniale Expansionsgebiete“ bezeichnen könnte.

Dies wurde ihnen durch eine territoriale Kontinuität ermöglicht, die in den britischen oder französischen Kolonien nicht gegeben war. Hier gibt es durchaus Ähnlichkeiten mit dem chinesischen Anspruch auf Tibet. Tatsächlich wird der für tibetische Angelegenheiten zuständige Lifan Yuan im allgemeinen als „Büro für Kolonialangelegenheiten“ übersetzt, und chinesische Schriftsteller der damaligen Zeit verglichen die Bemühungen der Qing in Tibet mit den zeitgenössischen kolonialen Unternehmungen der Briten, Amerikaner, Franzosen und Holländer. (10)

Wie wir gesehen haben, war es in den 50er Jahren, die eine Zeit der Entkolonialisierung waren, für die VR China nicht unbedingt angebracht, erneuten Anspruch auf eine ehemalige Kolonie zu erheben. Wir können jedoch – im Fall von Russland, Amerika und anderen Ländern – auch erkennen, daß territoriale Kontinuität hilfreich war, um sich in der Kolonialzeit eroberte oder beanspruchte Territorien oder Kolonien zu sichern, die durch die ursprünglichen Bewohner „unterbevölkert“ waren.

In der Tat unterschied sich im 19. Jahrhundert die Organisation der Staaten deutlich von den heutigen Verhältnissen und sogar die Staatsgrenzen wurden anders gesehen. Es gab die europäischen Staaten mit klar definierten Grenzen und gemeinsamen Rechten und gegenseitigen Verpflichtungen. Und es gab Territorien, welche die Grundbegriffe der europäischen Politik nicht anerkannten, und somit in den Augen der westlichen Länder zur Eroberung freigegeben waren. Das China der Qing-Dynastie war ein besonderer Fall: zu mächtig, um einfach überrollt zu werden, aber nach politischen Vorstellungen organisiert, die gänzlich anders waren als die in Europa. Zu dieser Zeit versuchten ausländische Diplomaten (und später vermutlich auch manche Historiker) die politischen Ansprüche Chinas so zu übersetzen, daß sie für sie selbst nützlich waren. Diese „Übersetzungen“ waren sehr wichtig, denn durch sie konnten alle möglichen territorialen Übergriffe auf das Qing-Reich für gesetzmäßig erklärt werden.

Als eine Art Antwort auf diesen Prozess formulierten Anfang des vergangenen Jahrhunderts Sun Yat-sen und seine Nationalistische Partei gegenüber heimischem und ausländischem Publikum ihre Ansprüche bezüglich der territorialen Position Chinas, was einer „Rückübersetzung“ gleichkam. Diese Ansprüche wurden zu Meilensteinen bei der Definition der Grenzen des modernen Chinas und schlossen Tibet, Xinjiang und die Mongolei mit ein. Um zudem noch die Überlegenheit der Chinesen gegenüber den aggressiven „Barbaren“ aus dem Westen zu betonen, sprach Sun Yat-sen von der 5000 Jahre alten chinesischen Kultur und machte China somit einige tausend Jahre älter als die westliche Zivilisation, die sich im ersten Jahrtausend v. C. in Griechenland und Rom entwickelte. Dieser Kunstgriff wurde künftig standardmäßig angewandt, um die Würde anderer Nationen zu beurteilen. Länder, die nur ein paar hundert Jahre alt waren, wurden als jung und somit unwürdig erachtet und man konnte auf sie herabsehen.

Das war eindeutig eine neumodische Konstruktion, die die Chinesen moralisch aufbauen sollte, denn sie fühlten sich damals von den jungen, energischen, hochentwickelten und modernen Ausländern regelrecht überrollt. Sun sagte, eine junge Kultur sei nichts wert – nur eine alte, sogar antike Kultur könne eine echte Zivilisation entwickeln. Diese Haltung spiegelte auch die chinesische Tradition mit ihrer Verehrung des Alters wieder: Es gab kein älteres und somit wertvolleres Land als China.

Nationalistische Geschichtsbetrachtung und Geographie waren die Basis für die sogenannten „chinesischen Eigenschaften“, auf die sich Maos Kommunisten schon auf ihrem Weg zur Macht beriefen. Entgegen der offiziellen nationalistischen Position war jedoch seit dem Fall der Qing-Dynastie (1912) kein chinesischer Herrscher stark genug, um ganz China angemessen zu regieren, ganz zu schweigen von den anderen beanspruchten Regionen. Nach 1949 verfügten die Kommunisten über die erforderliche Macht – und das war der Unterschied.

Auf der tibetischen Seite ist die Lage nicht viel klarer. Im Gegensatz zu den Unmassen der von der chinesischen Seite produzierten Dokumente, können die Tibeter für ihren Anspruch auf Unabhängigkeit nur spärliche historische Belege vorweisen. Der springende Punkt ist in dem besonderen zentralasiatischen Priester-Schutzherren-Verhältnis begründet: Die Tibeter waren die Priester und die Chinesen die Schutzherren.

Der präzise politische Gehalt dieses Priester-Schutzherren-Verhältnisses mag sich im Lauf der Zeit und je nach den gegebenen Umständen verschoben haben, aber es handelte sich dabei zumindest der Theorie nach immer um eine Beziehung zwischen Gleichen. Politisch konnte es sich dabei um ein Vasallenverhältnis, eine Verbindung zwischen zwei voneinander unabhängigen Partnern oder um eine Form von Abhängigkeit handeln. Tatsächlich ist die tibetische Definition von den gegenwärtigen politischen Umständen noch weiter entfernt als die vagesten chinesischen historischen Darstellungen. Die Tibeter spielen die historischen Argumente Chinas herunter und kontern mit den angeblichen Verbindungen zwischen einem religiösen Würdenträger und einem Laien. Diese Beziehung wird jedoch von China nicht anerkannt. Von diesem Punkt wird es zu einem Dialog zwischen zwei Parteien, die ihre Ohren vor der Position des jeweils anderen verschließen.

Stärkere politische Begründungen für die tibetische Unabhängigkeit lassen sich aus der Entwicklung in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ableiten, als Tibet auf Grund der Schwäche Chinas de facto unabhängig war. Allerdings trifft das auch auf zahlreiche andere chinesische Provinzen zu. Kein Staat erkannte damals die Unabhängigkeit Tibets oder der betreffenden Provinzen an.

In Anbetracht dieser Umstände könnte man die geopolitischen Gründe für die Entsendung von Truppen nach Tibet im Jahr 1949 als ausreichend für die Rechtfertigung der Eingliederung Tibets ins moderne China erachten. Der in China als allgemeingültig anerkannte Fünftausend-Jahres-Rahmen bewirkt jedoch die Notwendigkeit, die territorialen Ansprüche diesem Rahmen anzupassen. Wenn fünftausend Jahre der Standard sind, denn war Tibet zumindest während 20% seiner Existenz chinesisch. Das entspräche den eintausend Jahren seit der Yuan-Dynastie.

Allerdings hat sich die Lage seit der Zeit des gedemütigten China von Sun Yat-sen und der frühen Tage der kommunistischen Herrschaft dramatisch geändert. Die Idee von der fünftausendjährigen Geschichte ergibt heute keinen Sinn mehr. Damals stärkte sie die Moral eines niedergedrückten Volkes, heute macht sie die Chinesen übermäßig arrogant. Die Chinesen, die in wenigen Jahren oder Jahrzehnten eine der führenden Wirtschaftsmächte der Welt sein werden, benötigen jetzt eine neue Kultur der Bescheidenheit und Unauffälligkeit, wenn sie Wert auf eine friedliche Weiterentwicklung legen. Das gegenwärtig von China beanspruchte Staatsgebiet macht ihm nicht eine Regierung auf der Welt streitig.

Tatsächlich ist China alt und neu zugleich, wie Israel oder die USA. Es ist neu, weil sein gegenwärtiger Status in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts begründet wurde, und es ist alt, weil die Wurzeln des modernen China Tausende Jahre zurück reichen. Der Staat Israel wurde ungefähr zur selben Zeit gegründet und kann sein Erbe bis auf Moses und die Ägypter zurückführen. Die USA sind jung, sie wurden 1776 gegründet, aber sie gehen auf Europa zurück, dessen Geschichte Tausende von Jahren alt ist.

Eine neue historische Zeitachse wäre letztlich der politischen und rechtlichen Legitimation von Chinas Gebietsansprüchen dienlich: Mit einer kürzeren Zeitachse wären weniger Lücken in dieser äußerst unbeständigen kulturellen Umgebung zu erklären.

Damit gerät die heikle politische Frage bezüglich der Rolle des Dalai Lama ins Blickfeld. Sogar die KP, sowohl unter Mao als auch unter seinen Nachfolgern, räumte dem Dalai Lama und dem Panchen Lama den höchsten Rang unter allen tibetischen Lamas ein – und ihr Ansehen im kulturellen und religiösen Leben in Tibet ist immens.

Der gegenwärtige Dalai Lama mit seinem legendären Status und weltweiten Ruhm genießt unter den Tibetern und sogar unter Chinesen unglaubliches Ansehen. Der Dalai Lama bedeutet den Tibetern noch mehr als den Katholiken der Papst. Zum einen repräsentiert der Papst nur Gott, er ist nicht selbst Gott. Er wird gewählt, wenn auch unter Mitwirkung des Heiligen Geistes und hat seine Position für maximal 20 oder 30 Jahre inne. Der Dalai Lama ist fast ein lebendiger Gott und zwar sein Leben lang, also zwei- bis dreimal länger als irgendein Papst. Zum zweiten verkörpert er die nationale und kulturelle Identität – Elemente, die vom Papst ganz bewusst ignoriert werden.

Wenn also Peking Mönche und Laien dazu nötigt, den Dalai Lama zu verurteilen – möglicherweise, um so eine stärkere Akzeptanz des peking-treuen jungen Panchen Lama zu erreichen – dann stellt es sich damit unter Umständen selbst ein Bein. Für einen Mönch ist es sehr schwer, sowohl seinem göttlichen und religiösen Oberhaupt als auch seiner Identität abzuschwören. Er müsste seinen Glauben und seine tibetische Identität verleugnen und das kann er nicht tun. Wenn er es könnte, warum wäre er dann überhaupt Mönch geworden? Und da er als Tibeter geboren wurde – wie kann er aufhören, Tibeter zu sein? Das wäre das gleiche, wie wenn man einen chinesischen Christen aufforderte, seinen Glauben an Jesus Christus und seine chinesische Identität zu verleugnen. Umgekehrt täte sich ein tibetischer Mönch sogar viel leichter, wenn er vorgäbe, er würde derartigem Druck nachgeben, während er in Wirklichkeit nur auf eine Gelegenheit wartet, seinem Haß auf seine Unterdrücker Luft zu machen.

Das könnte ein Spiel auf Zeit werden. Sollte der Dalai Lama bald sterben, und die Proteste der Tibeter soweit unter Kontrolle gehalten werden können, daß sie nicht eskalieren, kann Peking daran denken, seinen „eigenen“ Panchen Lama in den Vordergrund zu spielen, denn er wird dann mehr Prestige innehaben als die lebenden Buddhas im Exil. Sollte es dazu kommen, daß zwei neue Dalai Lamas auserwählt werden, ein von Peking und ein von den Exiltibetern kontrollierter, hätte Peking ca. 20 Jahre Zeit, um die Situation in den Griff zu bekommen. Bis dahin wäre der Exil-Dalai Lama aus allen innertibetischen Angelegenheiten ausgeschlossen und an seine Stelle wären der Panchen Lama und der Dalai Lama von Pekings Gnaden getreten.

Für Peking wäre das ideal: China hätte auf diese Weise ausreichend Zeit und Möglichkeiten, um Tibet vollständig zu sinisieren. Das würde die Chinesen und die Exiltibeter endgültig auseinanderdividieren. Für die Tibeter in China könnte das die „kulturelle Ausrottung“ oder zumindest die „kulturelle Verstümmelung“ bedeuten.

Tatsächlich hat der Dalai Lama China des kulturellen Völkermords in Tibet bezichtigt, weil das gesamte kulturelle Erbe zerstört oder untergraben werde. Die Chinesen sind allerdings gegenüber dieser Thematik taub. Schließlich hat die chinesische Führung in den letzten 60 Jahren einen kulturellen Genozid an ihrer eigenen Bevölkerung begangen, weil das als notwendig für die Modernisierung erachtet wurde und man der Auffassung war, China könne nur so zu den entwickelten Nationen aufrücken. Teilweise ist dieser brutale Prozess durch die Globalisierung begründet, dank derer sich immer mehr lokale Kulturen im globalen Schmelztiegel auflösen.

Den Chinesen mag es in Zukunft vermehrt vorkommen, als hätten sie mehr von der tibetischen Kultur übriggelassen als von ihrer eigenen. Schließlich war China immer ein historischer Schmelztiegel, der die mandschurischen Qing, die mongolischen Yuan und die turk-stämmigen Tang in sich aufgesogen hat – warum also nicht auch die Tibeter?

Sollten dem Dalai Lama jedoch noch einige Jahre beschieden sein und die Proteste eskalieren und sollte das internationale Augenmerk auch nach dem Ende der Olympischen Spiele auf China gerichtet bleiben, so wäre Peking gezwungen, in einen Dialog mit dem Dalai Lama einzutreten, wenn es sich nicht in Schwierigkeiten bringen will. Der Dalai Lama könnte der einzige Mensch sein, der zur Beruhigung der Lage beitragen könnte, denn er genießt den Respekt der Tibeter in Tibet und im Ausland.

Sollten die Proteste anhalten und China die Gespräche mit dem Dalai Lama weiterhin verschleppen, wird es darüber hinaus vor der internationalen Gemeinschaft als hartherzig und gefühllos dastehen. Die internationale Gemeinschaft schätzt den Dalai Lama als einen hochangesehenen religiösen Würdenträger. Gleichzeitig wächst die internationale Sorge bezüglich der Absichten, die China für die Zukunft verfolgt. Daher wird es Chinas Ansehen im Ausland nicht förderlich sein, wenn es sich dem Dialog mit dem Dalai Lama verweigert. Die Zerstörung der traditionellen tibetischen Kultur könnte von der Welt als Bedrohung für andere Kulturen verstanden werden.

Die Zukunft Chinas und Tibets wird auf mehr als nur eine Weise bestimmt werden durch die Ereignisse der nächsten zehn Jahre und den Umgang der Chinesen mit dem Dalai Lama.

Geschichte und Nationalismus

Deshalb sollte China vielleicht die Rolle der Geschichte zu Zeiten des Kaiserreichs und im Römischen Imperium genauer studieren.

In China war die Geschichte die Domäne des Kaisers: Er machte sie und er schrieb sie. Im Gegensatz dazu standen die meisten römischen Geschichtsschreiber auf Seiten des Senats und waren Gegner des Kaisers. Deshalb wissen wir heute, daß Caligula sein Pferd zum Senator ernannte und Nero Rom in Brand setzte. Diese Kaiser kommen uns vor wie Verrückte, aber die ganze Wahrheit kann das nicht sein, gelang ihnen doch in schwierigen Zeiten der Erhalt und die Ausweitung des Imperiums. Die Struktur des Römischen Reichs wies Geschichtsschreibern mit unabhängigem Geist eine bestimmte Rolle zu. Deshalb wissen wir auch, daß Hannibal, einer der grimmigsten Feinde Roms, ein hervorragender und edler Feldherr war und die Germanen ein tapferes Kriegervolk.

Diese Geschichten über die Feinde Roms und dessen eigene Versäumnisse haben die Größe des Römischen Reichs nie gemindert. Im Gegenteil, sie wurde dadurch nur gesteigert: Rom war ein Reich, das große Schwierigkeiten und Rückschläge überwand und schließlich triumphierte. Auf gewisse Weise wird diese Tradition im heutigen amerikanischen Journalismus und der aktuellen Geschichtsschreibung weitergeführt, wenn im Detail die Probleme Amerikas aufgezeigt werden und genau dadurch am Ende das „gute amerikanische Imperium“ triumphiert. Diese Art der Geschichtsschreibung ist gerade in einer kulturell durchlässigen Welt viel überzeugender, weil sie andere Visionen nicht verdrängt und deshalb echt wirkt. Am Ende war Rom siegreich und bewies seine Größe dadurch, daß es alle Schwierigkeiten überwand.

In China, wo die offizielle Geschichtsschreibung alles umfasst, aber kaum einen überzeugt, war das ganz anders. Man könnte sagen, daß China es heutzutage nicht nötig hat, seine Geschichte älter zu machen, als sie ist und Schwindeleien oder eindeutige Lügen zu erfinden – nicht einmal hinsichtlich seiner Ansprüche auf Tibet. Befreit vom alten sozialistischen Muff und der Volksbefreiungsideologie, sind Chinas geopolitische Gründe für die Kontrolle über Tibet mehr als ausreichend zur Abwehr jedweder theoretischen Herausforderung seines Herrschaftsanspruchs. Die kalte geopolitische Logik bringt jedoch auch gewisse Probleme mit sich. Sie könnte zu gefährlichen, ausschließlich auf machtpolitischem Kalkül beruhenden Ideen verleiten, mit denen China einen Großteil der Welt gegen sich aufbringen könnte. Auch Geopolitik muss mit weniger grausamen Konzepten gestaltet werden, die dennoch voll mit der chinesischen Vorstellung von sozialer Harmonie übereinstimmen. Mit anderen Worten: Es geht um eine gute Regierungsführung, welche die Unterstützung der Menschen in und außerhalb von China gewinnt.

Die schiere Tatsache, daß chinesische staatliche Agenturen an der Anpassung der Geschichte an die heutigen politischen Gegebenheiten arbeiten, enthüllt der Außenwelt eine allgemeine Verunsicherung. Mit all diesen Geschichten sagt Peking der Welt nichts anderes als daß in erster Linie die Chinesen selbst der Meinung sind, sie sollten nicht über Tibet herrschen. Das ist vielleicht das größte und echteste Problem Chinas.

Auf der anderen Seite ist die Geschichte so, weil die historischen Bedingungen so sind. Die Auflösung der Sowjetunion war ein historischer Einschnitt: Das ist keine Regel, die sich immer und überall wiederholen muß. Wenn man die über 100 Unabhängigkeitsorganisationen betrachtet, die überall auf der Welt aktiv sind, so scheint es einen historischen Trend zur Balkanisierung zu geben. Wenn sie alle Erfolg haben sollten, hätten wir 100 neue Staaten.

Und wenn der Grundsatz der Selbstbestimmung fahrlässig angewandt wird, werden es noch mehr werden. Um aber zu überleben und zu gedeihen, müssten sich die neuen unabhängigen Staaten in größere internationale Handelsgemeinschaften integrieren und dabei einen Teil ihrer territorialen Macht an internationale Organisationen wie die WTO, die UN oder die EU abgeben. Was bringt ihnen also die Abspaltung? Geht es um die Bestrebungen von Minderheitsgruppen? Um die Freiheit von der Unterdrückung durch die gegenwärtigen regierenden Eliten ihrer Gemeinschaft? Den politischen Willen zur Schwächung eines Landes, indem man es zerbricht? Eine Mischung von all dem?

Das scheinen die wahren Fragen zu sein, und die wahre Antwort sollte im Ringen um eine gute Regierungsführung liegen und nicht die Unabhängigkeit sein.

Aber die Unabhängigkeitsbewegungen sind das geworden, was im vergangenen Jahrhundert der Kommunismus war: eine revolutionäre, messianische Antwort auf viele weltliche Probleme. Unter diesen Bedingungen können rationale Argumente oft nichts gegen emotionale ausrichten. Hinter den pseudo-rationalen Argumenten für die Unabhängigkeit lauert ein Angstraum, der die Flamme eines unkontrollierbaren Nationalismus zu entzünden vermag.

Anmerkungen:

1. See China.org.cn March 21, 2008. Bemerkenswert ist das Datum der letzten Version: Eine Woche nach dem Lhasa Aufstand.

2. Ibidem.

3. Siehe: Frederick W Mote, Imperial China, 900-1900, Harvard 1999, p.877.

4. Siehe: Peter C Perdue, China marches West, Harvard 2005, pp 241-243.

5. Das ist eine ziemlich aufgeblähte Zahl, für offizielle Zwecke.

6. Siehe: Elliot Sperling, Policy Studies 7, 2004, "The Tibet-China Conflict: History and Polemics", East-West Center Washington.

7. Siehe: Xie Bin "Xizang wenti", Shanghai 1926, pp 20-21.

8. Siehe: Wang Qinyu "Xizang wenti", Shanghai 1929, p 13.

9. Siehe: Elliot Sperling op. cit p 27.

10. Siehe: Wu Fengpei "Liangyu zhuzang zougao", Lhasa 1979, p 88.