9. Juni 2011
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„Die Tränen der Mutter des Karma Samdrup“ - von Woeser

High Peaks Pure Earth übersetzte einen Blogeintrag von Woeser, den sie am 31. Mai 2011 für Radio Free Asia verfaßte. Woeser schrieb zuerst im Juli 2010 über den tibetischen Geschäftsmann, Philanthropen und Umweltschützer Karma Samdrup (1). Am 24. Juni 2010 wurde Karma Samdrup zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt (2) und kurz darauf sein Bruder, der Umweltschützer Rinchen Samdrup, zu fünf Jahren (3).

In dem nachstehenden Essay schildert Woeser, welche Folgen diese Inhaftierung für den Rest der Familie hatte, insbesondere für die Mutter. Auch die Situation von Karma Samdrups Frau Dolkar Tso wird beleuchtet, die anfänglich noch über ihre Blogs Informationen über die beiden Brüder verbreiten konnte.

Karma Samdrups Mutter

Das Bild zeigt Karma Samdrups Mutter, die ernsthaft verletzt wurde. Im August 2009 drangen Distriktbeamte und Polizisten von Chamdo in Karmas Haus im Dorf Zirong, Bezirk Gonjo, ein und nahmen seine Brüder Rinchen Samdrup und Chime Namgyal fest. Dabei stellten sie das gesamte Haus auf den Kopf, beschlagnahmten Gegenstände und droschen mit Knüppeln auf die über 70jährige Mutter der Familie ein. Danach lag sie mehrere Monate lang im Krankenhaus und ist auch jetzt noch sehr schwach.

„Die Tränen von Karma Samdrups Mutter“ - von Woeser

Karma Samdrup sitzt rechtswidrig im Gefängnis, und dies nun schon seit einem Jahr und fünf Monaten. Erinnern sich die Leute noch, wer er ist? Er ist der Karma, den sie den „König der himmlischen Perlen“ nannten, der Karma, der die ersten Umwelt-NGOs gründete, der Karma, der sich durch das Sammeln tibetischer Kulturartefakte einen Namen machte, denn er wollte die kollektiven Erinnerungen Tibets wachhalten.

Letztes Jahr im Juni, während jener ungeheuer aufwühlenden Tage, wurden verschiedene Beschuldigungen erfunden und verbreitet, um ihm ein Delikt anhängen zu können. Die Gesetze dieses Landes versagten, denn das gegen ihn gesprochene Urteil war unfair und voreingenommen.

Es ist eine aussichtslose Situation. Die Leute wurden zu hilflosen Zeugen eines Fehlurteils, sie wurden Zeugen, wie eben jene bösen Menschen, die Karmas Rechtsverletzungen erfunden hatten, ihn nun zu sage und schreibe 15 Jahren Gefangenschaft verurteilten. Sie wurden Zeugen, wie er zu Unrecht hinter Gitter gebracht wurde – und dazu noch so weit weg, in das Land der Sandstürme, in den Bezirk Shaya in der Präfektur Aksu, Provinz Xinjiang – ein Land, das eigentlich nur ein einziges riesiges Gefängnis ist.

Karma Samdrup 2007 (Bild von Woeser)

Karma war durchaus nicht der einzige Mensch, der dieser drohenden Gefahr zum Opfer fiel. Fast zu gleicher Zeit folgte ihm ein weiteres männliches Mitglied aus der Familie ins Gefängnis und wurde zu nicht weniger als fünf Jahren Umerziehung durch Arbeit verurteilt (4). Und im Sommer vor zwei Jahren gingen die übel gesinnten Offiziellen in Begleitung der Militärpolizei sogar in Karmas Heimatdorf, und nahmen seinen älteren Bruder Rinchen Samdrup und seinen jüngern Bruder Chime Namgyal fest. Sie durchwühlten nicht nur Kommoden und Schränke und konfiszierten wertvolle Besitztümer, sie gingen auch mit Knüppeln auf seine Mutter los, die über 70 Jahre alt ist. Ich sah Bilder der schwer verletzten alten Dame, die unglaublichen Schwellungen, die sie davontrug, ihre blaurot angelaufenen, sogar eiternden Wunden – verantwortlich dafür ist die „Volksarmee“!

Kürzlich hörte ich etwas über Karmas Mutter, was mich wirklich sehr traurig stimmte. Sie weiß nur, daß ihre drei Söhne ins Gefängnis kamen, aber sie weiß noch nicht, daß Karma zu so einer harten Strafe verurteilt wurde. Niemand wagt ihr die Wahrheit zu sagen, sie würde es nicht überleben. Karmas Frau Dolkar Tso tröstet sie, indem sie ihr sagt, Karma habe im Ausland Zuflucht gesucht, und die Mutter mahnt sie immerzu, sie dürfe Karma ja nicht nach Hause zurückkehren lassen. Wenn man sie in letzter Zeit anrief, schluchzte sie nur vor lauter Tränen, die sonst so starke alte Dame kann den Schmerz nicht mehr ertragen.

Es wurde berichtet, daß vor zwei Jahren eine Arbeitsbrigade aus Kadern und Polizei in dem Dorf Stellung bezog. Nach der Festnahme der drei Brüder griffen sie zu verschiedenen Erpressungsmethoden, um Karmas gesamte Familie zu diskreditieren. Wenn Dorfbewohner zum Beispiel erkranken und nach Chamdo oder Lhasa zur medizinischen Behandlung gehen müssen, benötigen sie eine offizielle Genehmigung von der Arbeitsbrigade. Dazu müssen sie sogar ein separates Dokument unterschreiben oder ihren Fingerabdruck darauf setzen. Aber was für ein Dokument ist das? Es ist voller Falschinformationen und Verleumdungen von Karmas Familie, die Leute werden darin aufgefordert, keine Bittgesuche an höhere Instanzen zu richten, und es wird jedem einzelnen verboten, Karmas Familie zu unterstützen. Jeder Dorfbewohner, der ein Darlehen aufnehmen oder sich einen abhanden gekommenen Personalausweis neu ausstellen lassen will, sieht sich mit diesen Auflagen konfrontiert.

Ich bat jemanden, zu Dolkar Tso zu gehen und sie über die Lage zu befragen. Unter Tränen sagte sie nur einen einzigen Satz: „Zu Hause sind nur noch Frauen übrig, vielleicht sollten wir besser aufgeben?“

In der Tat sind von dieser wohltätigen, einst allseits geachteten Familie nur noch Frauen im Haushalt übrig, um die anstehenden Arbeiten zu verrichten. Ich traf früher einmal Rinchen Samdrups Tochter, die so gerne Nonne geworden wäre. Viele Jahre lang half sie ihren Eltern, wertvolle Schriften zu retten, aber die Disks und die Computer, auf denen sie die Daten gespeichert hatte, wurden alle von der Polizei konfisziert. Als ihr Vater zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, erkrankte sie am Herzen, und das in einem so jungen Alter.

Karmas Frau Dolkar versuchte alles, um den Schatten des Traumas von ihren zwei Töchtern fernzuhalten, die bis zum heutigen Tag über die wahre Lage nicht im Bilde sind. Sie übernahm auch eine Verantwortung, die sie bisher noch nie getragen hatte, sie führt nun das Geschäft ihres Mannes weiter. Außerdem ist der Besuch bei ihrem Mann im Gefängnis ein sehr wichtiges Ereignis in ihrem Leben. Seit letztem Jahr reiste sie schon achtmal nach Xinjiang. Aber nach Karmas Verurteilung sah sie ihren Mann im Verlauf eines ganzen Jahres nur drei Mal im Gerichtshof, dabei konnte sie seinen geschundenen Körper kaum wiedererkennen.

„Bei unserer Zusammenkunft durften wir nur auf Mandarin miteinander sprechen“. Das heißt aber nicht, daß das tibetische Ehepaar sich nicht auf Tibetisch unterhalten könnte, es bedeutet vielmehr, daß die Behörden ihnen nicht erlaubten, auf Tibetisch zu reden. Daher konnte Karma in der halben Stunde der gestatteten Besuchszeit nur in gebrochenem Mandarin mit seiner Frau sprechen. Nun ist Dolkar Tsos größte Hoffnung, zu erreichen, daß Karma in ein Gefängnis nach Tibet verlegt wird, um dort seine Strafe zu verbüßen. Dann könnte er wenigstens auf Tibetisch sprechen. Aber sie darf ihren Mann nur alle drei Monate einmal besuchen, und das letzte Treffen wurde plötzlich ohne Nennung eines Grundes gestrichen. So mußte sie ihr Flugticket, das sie lange im voraus besorgt hatte, wieder zurückgeben.

31. Mai 2011

(1) 29. Juni 2010, „Tsering Woeser: Meine erste Begegnung mit Karma Samdrup“,

(2) 24. Juni 2010, „Chinesisches Gericht verurteilt den bekannten Umweltaktivisten Karma Samdrup zu 15 Jahren Gefängnis

(3) 3. Juli 2010, „Beschützer der Umwelt Rinchen Samdrup zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt

(4) 9. Juli 2010, „Sechs Mitglieder der Familie Samdrup zu Unrecht wegen ihres Einsatzes im Gefängnis