9. Februar 2022
Human Rights Watch, https://www.hrw.org/

https://www.hrw.org/news/2022/02/09/china-imprisoned-tibetan-monks-health-peril

Gesundheit des inhaftierten tibetischen Mönchs Go Sherab Gyatso in Gefahr - Wir fordern die Freilassung des zu Unrecht inhaftierten Gelehrten

Die chinesische Regierung sollte den inhaftierten tibetischen Mönch und Religionsphilosophen Go Sherab Gyatso sofort und bedingungslos freilassen, so Human Rights Watch.

Informierte Personen außerhalb Tibets berichten, daß sich der Gesundheitszustand von Go Sherab Gyatso in letzter Zeit erheblich verschlechtert habe. Er leidet an einem chronischen Lungenleiden und wird im Gefängnis vermutlich medizinisch nicht angemessen behandelt.

„Wieder einmal droht die unrechtmäßige Inhaftierung eines Tibeters durch die chinesische Regierung zu einem Todesurteil zu werden“, sagte Sophie Richardson, Direktorin des China-Ressorts bei Human Rights Watch. „Go Sherab Gyatso sollte sofort freigelassen und medizinisch umfassend versorgt werden.“

Go Sherab Gyatso

Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit haben den 45jährigen Go Sherab Gyatso am 26. Oktober 2020 in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, festgenommen (1), wie die chinesischen Behörden als Antwort auf eine Anfrage von drei Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen in einer Erklärung vom August 2021 mitteilten. Die Behörden überstellten ihn nach Lhasa, wo er am 3. Februar 2021 formell wegen „Anstiftung zur Sezession“ angeklagt wurde. In der Erklärung der Regierung hieß es, er sei später vor Gericht gestellt worden, das Datum oder der Ausgang des Prozesses wurden jedoch nicht genannt. Quellen im Exil berichten, er sei zu einer 10jährigen Haftstrafe verurteilt worden und befände sich im Gefängnis von Chushul, 20 Kilometer südwestlich von Lhasa.

Außerdem würden keine Besucher zu Go Sherab Gyatso vorgelassen und er befände sich in einem schlechten Gesundheitszustand. Die chinesischen Behörden hatten ihn bereits früher bei mindestens drei anderen Gelegenheiten inhaftiert. Er zog sich ein chronisches Lungenleiden zu, als er von November 1998 bis November 2001 aus nicht genannten Gründen eine dreijährige Haftstrafe verbüßte. Im Oktober 2020, als er von den Mitarbeitern der Staatssicherheit festgenommen wurde, befand er sich auf einem Routinebesuch in Chengdu, um seine Krankheit behandeln zu lassen.

Die jüngsten Berichte über den Gesundheitszustand von Go Sherab Gyatso können, wie Human Rights Watch mitteilte, nicht unabhängig überprüft werden. Es hat jedoch eine Reihe von Fällen gegeben, in denen Menschen in Tibet und in ganz China, die aufgrund politisch motivierter Anschuldigungen willkürlich eingesperrt worden waren, in der Haft verstorben sind, weil sie keine angemessene medizinische Versorgung erhielten.

Der bekannte chinesische Schriftsteller und Dissident Liu Xiaobo, der eine 11jährige Haftstrafe wegen „Subversion“ verbüßte, starb im Juli 2017 an einem unzureichend behandelten Leberkrebs; es war ihm verwehrt worden, sich zur medizinischen Versorgung ins Ausland zu begeben. Der prominente tibetische Lama und Philanthrop Tenzin Delek Rinpoche starb im Juli 2015 in einem Gefängnis in Chengdu, nachdem er 13 Jahre einer lebenslangen Haftstrafe wegen „Terrorismus und Anstiftung zum Separatismus“ verbüßt hatte. Berichten zufolge war ihm die medizinische Versorgung wegen eines Herzleidens verweigert worden, und Familienmitglieder durften ihn nur ein einziges Mal besuchen.

Human Rights Watch hat weiterhin über den Tod von drei Tibetern aufgrund schwerer Mißhandlungen in der Haft seit Oktober 2020 berichtet: Lhamo, Tenzin Nyima und Kunchok Jinpa. Exilmedien haben über weitere derartige Todesfälle berichtet, unter anderem über den Tod eines Mannes namens Norsang im Jahr 2019 und über den Tod von vier ehemaligen politischen Gefangenen zwischen 2018 und 2020 - Shonnu Palden, Pema Wangchen, Gendun Sherab und Choeki.

Dieselben Quellen berichteten auch über drei Fälle von Gefangenen, die zwischen Dezember 2019 und Februar 2021 in kritischem Zustand freigelassen wurden - Tsegon Gyal, Dolkar und Gangbu Rikgye Nyima, sowie über einen weiteren schwerkranken tibetischen Gefangenen, Dhongye, der weiterhin in Haft ist.

Die chinesischen Behörden haben öffentlich keine Beweise vorgelegt, die den Vorwurf der Anstiftung zur  Sezession gegen Go Sherab Gyatso belegen würden. Eine solche Anklage bezieht sich in der Regel auf die Unterstützung der tibetischen Unabhängigkeit. Human Rights Watch hat in seinen Schriften und Reden oder in den Äußerungen der mit seinem Leben und Werk vertrauten Menschen keinerlei Hinweis auf eine derartige Unterstützung finden können. Human Rights Watch nimmt nicht Stellung zum politischen Status von Tibet, aber unterstützt jedermanns Recht, seine politische Meinung friedlich äußern zu dürfen, ohne Angst vor Verhaftung oder anderen Formen der Unterdrückung haben zu müssen.

Human Rights Watch ist außerdem besorgt darüber, daß Go Sherab Gyatso in der Autonomen Region Tibet (TAR) vor Gericht gestellt wurde, obwohl er in einem tibetischen Gebiet in Sichuan lebte und in dieser Provinz festgenommen wurde. Er studierte von 2002 bis 2008 im Kloster Sera in Lhasa, hat aber sonst keine bekannte Verbindung zur TAR.

Es gibt keine Hinweise darauf, daß er in der TAR oder anderswo ein Verbrechen begangen hätte, vielmehr haben die Behörden ihn eher festgenommen und verfolgt, um andere tibetische Mönche und Schriftsteller einzuschüchtern. Die Behörden der TAR verfolgen eine noch aggressivere Politik als die Behörden in anderen tibetischen Gebieten Chinas, dennoch ist es ungewöhnlich, daß sie eine Person von außerhalb der TAR festnehmen und wegen eines angeblichen Verbrechens anklagen, das offensichtlich keinen Bezug zur Region hat.

„Die Entschlossenheit der chinesischen Behörden, tibetische Gelehrte systematisch zum Schweigen zu bringen, ist ein klarer Beweis dafür, daß es ihr Ziel ist, die tibetische Kultur, Sprache und Religion auszulöschen“, kommentierte Sophie Richardson.

Leben und Werk von Go Sherab Gyatso

Go Sherab Gyatso ist als führender Verfechter eines modernisierten, liberalen Ansatzes für religiöse Bildung und Glauben in Tibet bekannt. Er ist der Autor von mindestens neun Büchern, von denen das jüngste aus Niederschriften seiner Vorträge bei religionswissenschaftlichen Veranstaltungen zu theologischen und monastischen Themen besteht.

In seinen Büchern und Vorträgen, von denen einige online einsehbar sind, nimmt er gelegentlich Bezug auf soziale Themen, wie etwa Kritik an der Zensur in tibetischen Klöstern und in der Gesellschaft allgemein. In einem Essay aus dem Jahr 2013, in dem er die Leitung des Klosters Kirti angriff, bemerkte er beiläufig, daß „jede Macht, die von den Menschen nicht kritisiert werden darf, diktatorisch ist“ und daß „jede Nation oder Organisation, die Kritik fürchtet und Verhaftungen oder Gewalt einsetzt, um die Opposition zum Schweigen zu bringen, den Menschen verhaßt ist“. Auf die chinesische Regierung anspielend bemerkte er, daß „der rote Wind von draußen so heftig und ihre Befehle so streng sind, daß wir kaum Raum zum Ein- und Ausatmen haben“.

In den Jahren 2016-2017 verbrachte er drei Semester als Gaststudent an der Zhongshan-Universität in Guangdong, China, wo er Vorlesungen über westliche Philosophie besuchte. In einer 2019 in China veröffentlichten akademischen Studie wird er als „eine der herausragendsten Persönlichkeiten [unter den tibetisch-buddhistischen Mönchen] beschrieben, die über ein solides, im Rahmen des traditionellen klösterlichen Bildungssystems erworbenes Fundament buddhistischer Kultur verfügt, während sie sich gleichzeitig die Essenz chinesischer und westlicher Kultur und moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse angeeignet hat.“

Go Sherab Gyatsos politische Ansichten erschienen in einem 2011 veröffentlichten Buch mit dem Titel „Basic Knowledge and the Path“ (rgyun shes dang lam), das tibetische Übersetzungen von drei Aufsätzen von Liu Junning, einem bekannten Politikwissenschaftler in Peking, enthielt. In den Aufsätzen wurde die Anwendung der Grundsätze von Demokratie und Menschenrechten im chinesischen Kontext befürwortet. Liu wurde nie wegen eines Verbrechens angeklagt und ist weiterhin in einem offiziellen Institut tätig, so daß es unwahrscheinlich ist, daß diese Übersetzungen zur Verhaftung von Go Sherab Gyatso im Jahr 2020 geführt haben.

Go Sherab Gyatsos Veröffentlichung dieser Essays und andere friedliche Meinungsäußerungen sind ein geschütztes Recht gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den China 1998 unterzeichnet hat. Darüber hinaus garantiert die chinesische Verfassung die Redefreiheit für alle chinesischen Bürger.

Go Sherab Gyatso wurde 1976 in Ngawa (chin. Aba), einem tibetischen Gebiet in der Provinz Sichuan, geboren. Er ist der Sohn von Go-ngün Tsöndru, der in der vorchinesischen Regierung in Ngawa eine führende Stellung einnahm und sich später der chinesischen Herrschaft dort widersetzte, bis er 1990 nach Nepal floh. Go Sherab Gyatso wurde im Alter von 10 Jahren Mönch in Kirti, dem damals größten Kloster Tibets, und tat sich schnell als besonders fähiger Schüler hervor. Im Jahr 1992 unternahm er eine kurze Pilgerreise nach Indien und Nepal, und nach dem Tod seines Vaters besuchte er Nepal erneut 1998.

1998 wurde Go Sherab Gyatso im Kloster Kirti festgenommen und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Weshalb, ist unklar; Berichten zufolge wurde er von der Polizei verhört, nachdem er sich der offiziellen Aufforderung widersetzt hatte, während einer Zeremonie Ende 1997 ein Porträt des Dalai Lama aus einem Tempel im Kloster Kirti zu entfernen. Im Laufe des Jahres 1998 führten die chinesischen Behörden die politische Umerziehung in dem Kloster durch, der sich die Mönche widersetzten, aber er scheint nicht aktiv an dem Protest beteiligt gewesen zu sein.

Während seiner Haft lernte Go Sherab Gyatso bei einem anderen Gefangenen Chinesisch und befaßte sich mit westlicher Philosophie. Nach seiner Freilassung am 11. November 2001 nahm er seine Studien als Mönch und Schriftsteller wieder auf und zog im darauf folgenden Jahr ins Kloster Sera nach Lhasa. Im Jahr 2007 veröffentlichte er sein erstes Buch, „Time for Us to Wake Up“ (nga tsho sad ran). In dem Buch, das von dem angesehenen staatlichen Verlag Gansu Nationalities Publishing House herausgegeben wurde, bringt er seine Ansichten über die Bedeutung der Erhaltung und Förderung der religiösen und kulturellen Traditionen Tibets zum Ausdruck. Er hatte sich den Ruf eines führenden öffentlichen Intellektuellen unter den Tibetern erworben.

Im April 2008, nach einer Welle antichinesischer Proteste in ganz Tibet, war Go Sherab Gyatso unter den um die eintausend Mönchsschülern, die von den Behörden aus dem Kloster Sera und anderen Klöstern in Lhasa unter dem Vorwand, sie seien nicht in der TAR ansässig, deportiert wurden. Sie wurden daraufhin vier Monate lang in Golmud, Qinghai, zur „juristischen Ausbildung“ willkürlich festgehalten. Im August 2008 durfte er sein Studium im Kloster Kirti wieder aufnehmen. Im April 2011 wurde er, möglicherweise unter dem Verdacht, einige seiner Schriften enthielten Kritik an China oder dessen Politik gegenüber den Tibetern, erneut inhaftiert, aber nach einigen Monaten ohne Anklageerhebung freigelassen.

Im Jahr 2013 verließ er das Kloster Kirti, nachdem er sich öffentlich gegen die Zensur der Schriften der Mönche gewandt hatte, die das Kloster unterstützte. Er setzte seine Studien und seine schriftstellerische Tätigkeit fort und schrieb unter anderem Entwürfe für zwei Bücher über westliche Philosophie und Wissenschaftsgeschichte.

Andere inhaftierte tibetische Schriftsteller

Die chinesische Regierung hat seit 2019 eine Reihe von tibetischen Philosophen, Intellektuellen und Schriftstellern inhaftiert:

Gangkye Drubpa Kyab, 42, und Senam (Alter unbekannt) aus dem Kreis Serta, Präfektur Kardze, Sichuan, wurden Berichten zufolge am 23. März bzw. 2. April 2021 festgenommen. Beide waren bereits zuvor inhaftiert gewesen. Drubpa Kyab leidet aufgrund seiner Inhaftierung in den Jahren 2012-2016 unter gesundheitlichen Problemen. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort und ihr Status sind unbekannt (2).

Gendun Lhundrup, 47, aus dem Bezirk Rebkong, Präfektur Malho, Qinghai, wurde am 2. Dezember 2020 festgenommen; sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Berichten zufolge wurde er in der Vergangenheit bereits mehrfach festgenommen und verhört (3).

Rinchen Tsultrim, 29, aus dem Bezirk Ngawa, Präfektur Ngawa, Sichuan, wurde am 2. August 2019 festgenommen und im November 2020 zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er „öffentlich Text-, Sprach- und Bildinformationen ... mit dem Ziel der Anstiftung zur Abspaltung und Untergrabung der nationalen Einheit verbreitet hat“ (4).

Dhi Lhaden (Lobsang Lhundrup), 50, aus dem Bezirk Pema, Präfektur Golok, Qinghai, wurde im Juni 2019 festgenommen und 2021 zu vier Jahren Haft verurteilt (5).

Ra Tsering Dondrub aus dem Landkreis Khyungchu, Präfektur Ngawa, Sichuan, starb im September 2021 im Alter von 34 Jahren an den Verletzungen, die er während seiner Inhaftierung von 2010 bis 2013 erlitten hatte.

Das Tibetische Zentrum für Menschenrechte und Demokratie gab im Dezember 2021 drei weitere, bisher nicht veröffentlichte Fälle von tibetischen Schriftstellern bekannt, die wegen friedlicher Meinungsäußerung inhaftiert wurden: Goyon, 33, Sabuchey, 34, und Rongwo Gangkar, 46.

In einem der letzten Berichte des Tibetischen  Zentrums wurde ein exiltibetischer Gelehrter anonym zitiert:

„Ein gemeinsames Merkmal all dieser inhaftierten Personen ist ihr umfangreiches Wissen über die tibetische Sprache, Kultur und Literatur, das die Phantasie vieler junger Tibeter angeregt hat. Dies scheint der einzige Grund für ihre Inhaftierung zu sein, denn es gibt keinen einzigen Fall, in dem einer von ihnen gegen irgendein einheimisches Gesetz verstoßen hätte“.

Human Rights Watch hat Informationen über mindestens zwei weitere hochrangige tibetische Lamas oder Intellektuelle, die vor kurzem inhaftiert wurden und die sich vermutlich immer noch in Haft befinden, aber aus Sorge vor Vergeltungsmaßnahmen der Behörden werden sie nicht namentlich genannt.

(1) 8.4.2021, „Bedeutender tibetischer Gelehrter und Schriftsteller Go Sherab Gyatso in Isolationshaft, Verbleib unbekannt“,
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/diir/2021/Go%20Sherab%20Gyatso_8.4.21.html

(2) 21.4.2021, „Im Hinblick auf die Hundertjahrfeier der KPC verhaftet die chinesische Polizei sechs angesehene Tibeter“,
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/ftc/2021/6%20Tibetans%20Kardze_21.4.21.html

(3) 8.12.2020, „Tibetischer Schriftsteller Gendun Lhundup in Qinghai festgenommen, Verbleib unbekannt“, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/ctc/2020/GendunLhundup_8.12.20.html

(4) 24.6.2021, „Tibetischer Mönch Rinchen Tsultrim zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt“, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/ftc/2021/RinchenTsultrim_24.6.21.html

(5) 23.10.2021, „Der tibetische Schriftsteller Dhi Lhaden wird zu vier Jahren Gefängnis verurteilt“,
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/TCHRD/2021/DhiLadenVerurteilung_21.10.2021.html