16. Februar 2021
Central Tibetan Administration (CTA), www.tibet.net, Human Rights Watch (HRW), www.hrw.org

Tibetischer Reiseführer stirbt nach Misshandlungen im Gefängnis

Er war zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er Informationen an ausländische Medien geliefert hatte.

Die chinesischen Behörden sollten für den Tod eines tibetischen Reiseleiters zur Rechenschaft gezogen werden, der eine 21jährige Haftstrafe verbüßte, weil er vor sieben Jahren über Proteste in seiner Heimatregion berichtet hatte.

Kunchok Jinpa, 51, starb am 6. Februar 2021 in einem Krankenhaus in Lhasa in der Autonomen Region Tibet, weniger als drei Monate nachdem er ohne das Wissen seiner Familie aus dem Gefängnis dorthin verlegt worden war. Lokale Quellen sagten, er habe eine Hirnblutung erlitten und sei gelähmt gewesen.

Der Präsident der tibetischen Zentralverwaltung, Sikyong Dr. Lobsang Sangay, drückte seine tiefe Trauer und Besorgnis aus: „Die tragische Nachricht vom Tod Kunchok Jinpas aufgrund von Folter und Mißhandlung in chinesischer Haft kommt kaum einen Monat nach der über den ähnlichen Tod des 19jährigen Tenzin Nyima. Chinas allgegenwärtige Anwendung von Folter bei Gewissensgefangenen ist der Welt nicht unbekannt. Es gibt Hunderte von Tibetern, die illegal festgehalten und gefoltert werden, weil sie sich der Herrschaft Chinas über Tibet widersetzt haben.“ Sikyong Dr. Lobsang Sangay drängte auf ein internationales Eingreifen und sagte: „Die internationale Gemeinschaft und UN-Menschenrechtsexperten müssen intervenieren und diese Fälle von willkürlicher Inhaftierung, Verurteilung ohne ordentliches Verfahren, Folter und Tötung von Tibetern durch die chinesische Regierung untersuchen.“

Kunchok Jinpa

Seit seiner Festnahme im Jahr 2013 gab es keine Nachrichten über den Verbleib von Kunchok Jinpa. Neue Informationen deuten darauf hin, daß die Behörden ihn am 8. November 2013 festgenommen haben, ohne seine Familie über seinen Verbleib zu informieren, und ihn später wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen verurteilt haben, weil er Informationen über lokale Umwelt- und andere Proteste in seiner Region an ausländische Medien weitergegeben hatte. Seine 21jährige Haftstrafe ist beispiellos für ein solches Vergehen, und bis jetzt waren keine Informationen über seinen Prozeß oder seine Verurteilung außerhalb Chinas öffentlich zugänglich gewesen.

Die Behörden verlegten ihn im November 2020 aus einem Gefängnis - vermutlich dem Regionalgefängnis in Nyethang (chin. Nidang) in der Nähe von Lhasa - in ein Krankenhaus in der Stadt. Seine Familie erfuhr am 29. Januar, daß er eine Notfallbehandlung benötigte. Mehrere Angehörige gingen daraufhin zum Blutspenden in das Krankenhaus, durften ihn aber nicht mehr sehen. Er starb am 6. Februar in diesem Krankenhaus.

Kunchok Jinpa war ein Bewohner des Dorfes Nr. 5 in der Gemeinde Chaktse (chin. Qiaze) im Bezirk Driru, Präfektur Nagchu, etwa 300 Kilometer nördlich von Lhasa. Er war einer von angeblich Hunderten von Tibetern aus Driru, die nach einer Reihe von friedlichen Protesten im Oktober 2013 gegen die offizielle Forderung, daß die Dorfbewohner an jedem Haus chinesische Flaggen hissen müssen, festgenommen wurden (1).

Es wird vermutet, daß er über soziale Medien oder direkt an tibetische Medien außerhalb Chinas Informationen über einen Protest im Mai 2013 gegen den geplanten Bergbau an einem heiligen Berg, dem Naglha Dzamba, weitergegeben hat, zusammen mit den Namen derjenigen, die wegen ihrer Beteiligung an dem Protest festgenommen wurden (2).

Leute aus seiner Umgebung, die jetzt im Exil leben, berichteten, daß er in seiner letzten Mitteilung auf seinem WeChat-Account im April 2013 schrieb: „Ich bin jetzt am Ufer eines Flusses. Es sind viele Leute hinter mir, die mich beobachten, und ich bin sicher, daß ich festgenommen werde. Selbst wenn sie mich verhaften, habe ich keine Angst, selbst wenn sie mich töten, bereue ich es nicht. Aber von jetzt an werde ich keine Nachricht mehr von mir geben können. Wenn es kein Wort mehr von mir gibt, bedeutet das, daß ich verhaftet wurde.“

Protest 2013 gegen Bergbau am Naglha Dzambha

Die von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Standards der Vereinten Nationen sehen vor, daß bei jedem sich in der Haft ereignenden Todesfall „sofortige, unparteiische und wirksame Untersuchungen der Umstände und Ursachen“ des Todes durchgeführt werden müssen.

Die chinesische Regierung hat auch Vorschriften, die sich mit Todesfällen im Gewahrsam befassen. Diese verlangen, daß die Polizei „unverzüglich“ eine Untersuchung der Todesursache durchführt, indem sie u.a. das Überwachungsvideo der Gefängniszelle analysiert und aufbewahrt und Mitgefangene, Ärzte und Wärter befragt.

Kunchok Jinpa, dessen Vater Sonam Wangden und dessen Mutter Pelha heißen, war als Kind Mönch im Kloster Gom Gonsar (Choekor Jampaling) in Driru geworden. Im Oktober 1989 reiste er über Nepal nach Indien, wo er etwa 18 Monate lang im Kloster Changchubling in Dehra Dun, dem Exilsitz der Drikung Kagyu-Schule des tibetischen Buddhismus, studierte.

Von April 1991 bis zu seinem Abschluß 1996 studierte er an einer von der tibetischen Exilgemeinde betriebenen Schule in Suja in Himachal Pradesh. Er unternahm weitere Studien am elitären Higher Tibetan Studies Institute in Varanasi. Er beherrschte Englisch und Hindi, sowie Chinesisch und Tibetisch.

Etwa 1998 kehrte er nach Tibet zurück und arbeitete fortan als Reiseleiter. Einem engen Mitarbeiter zufolge betonte er stets die Bedeutung von wirtschaftlicher Entwicklung und Bildung, weshalb er hohes Ansehen in seiner Gegend genoß. Er besuchte noch einige Male Indien, zuletzt im Jahr 2012, als er an der Kalachakra-Zeremonie des Dalai Lama in Bodh Gaya teilnahm.

Während der Niederschlagung der Proteste 2013 in Driru durch die Sicherheitskräfte gab es Berichte über Schüsse auf unbewaffnete Demonstranten, Massenverhaftungen, Dutzende Verurteilungen wegen politischer Anschuldigungen von bis zu 18 Jahren und mehrere Todesfälle in der Haft (3). Human Rights Watch erfuhr kürzlich, daß damals mehr als 1.325 Tibeter festgenommen wurden, von denen schließlich ungefähr 670 verurteilt und inhaftiert wurden, obwohl dies nicht bestätigt werden kann.

Seit der Festnahme und Inhaftierung von Kunchok Jinpa gibt es außerhalb Chinas kaum Informationen über die Situation in Driru. Am 4. Februar berichtete die in Indien ansässige Exilzeitung Tibet Express erstmals, daß ein weiterer Tibeter aus Driru, der etwa 34 Jahre alte Namdak, aus dem Dorf Meri in der Gegend von Tsala, etwa im Juli 2013 zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er Tibetern bei der Flucht nach Indien geholfen hatte. In den letzten zwei Jahren haben die chinesischen Behörden Namdak jeglichen Besuch im Gefängnis versagt, weil er angeblich an einer ansteckenden Krankheit leide; über seinen derzeitigen Zustand ist nichts bekannt.

Die Zeitung berichtete auch, daß bis zu sieben weitere Tibeter in ähnlichen Fällen zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, aber ihre Namen, ihr Alter und die Anklagepunkte gegen sie bleiben unbekannt.

Im August 2020 starb Lhamo, eine dreifache Mutter aus derselben Gegend, an den Verletzungen, die ihr in der Haft zugefügt wurden. Sie war zusammen mit ihrem Cousin Tenzin Tharpa inhaftiert worden, offenbar unter dem Vorwurf, Geld an Verwandte in Indien zu schicken.

Am 19. Januar 2021 starb dann Tenzin Nyima, ein junger Mönch aus Dza Wonpo, Kreis Sershul, Kardze (chin. Ganzi), nachdem er von den chinesischen Gefängnisaufsehern schwer geschlagen und gefoltert worden war.

In einer gemeinsamen Erklärung von UN-Menschenrechtsexperten im Juni 2020 wurde bereits die Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchung der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen im chinesischen Staat betont. Sie äußerten große Besorgnis über Chinas Versäumnisse, die Menschenrechte zu respektieren und seine internationalen Verpflichtungen einzuhalten, und empfahlen die Einrichtung eines unparteiischen und unabhängigen UN-Mechanismus zur Überwachung und Berichterstattung über Verstöße „in Anbetracht der Dringlichkeit der Situationen“ in Hongkong, Xinjiang und Tibet.

„Jahrzehntelang sind chinesische Beamte damit durchgekommen, Menschen ohne Grundlage zu inhaftieren und sie zu mißhandeln, auch bis zum nahen Tod“, sagte Sophie Richardson, die Direktorin des China-Ressorts bei HRW. „Man kann sich nicht darauf verlassen, daß die chinesischen Beamten diese Verstöße untersuchen, daher ist eine unabhängige, internationale Untersuchung durch UN-Menschenrechtsexperten dringend erforderlich.“

(1) 3. Oktober 2013, Scharfes Vorgehen gegen Tibeter in Driru wegen Weigerung, die chinesische Flagge zu hissen, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/Phayul/2013/Driru-Flaggen_3.10.html

(2) 28. Mai 2013, Massiver Protest in Driru gegen die Ausbeutung von Tibets Bodenschätzen, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/diir/2013/DriruMiningProtest_28.5.html

(3) 7. Februar 2014, Repression in Driru eskaliert: Junger Tibeter zu Tode geprügelt
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/TCHRD/2014/KonchokDakpa,KelsangChoklang,DorjeDragtsel_7.2.html