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23. November 2008

Department of Information & International Relations (DIIR)
Central Tibetan Administration
Dharamshala – 176215, H.P., India, www.tibet.net

Vorläufige Übersetzung


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Text in pdf ohne Bilder

Empfehlungen der ersten Ausserordentlichen Vollversammlung der Tibeter in Dharamsala

In dem am 11. September 2008 vom Privatsekretariat des Dalai Lama gemeinsam an die Sprecher und die Mitglieder des Kashag (Kabinett) gerichteten Brief heißt es: „Um angesichts der jüngsten tragischen Ereignisse in Tibet und der internationalen Konstellation eine ausführliche Diskussion und Aussprache über das Tibet-Problem abzuhalten, wünscht Seine Heiligkeit der Dalai Lama noch im November oder Dezember dieses Jahres gemäß Artikel 59 der Charta eine Außerordentliche Generalversammlung einzuberufen. Der zeitliche Rahmen und die Teilnehmer an der Zusammenkunft sollten so bald wie möglich vom Parlament bestimmt und das Privatsekretariat entsprechend informiert werden.“

Der Kalon Tripa Prof. Samdhong Rinpoche hält die Eröffnungsansprache, in der Mitte die Kalons und rechts die zwei Parlamentssprecher

Das Parlament tagte zu diesem Zeitpunkt, so dass das Programm der Außerordentlichen Vollversammlung gemeinsam vom Parlament und vom Kashag erarbeitet und nach gründlicher Diskussion einstimmig beschlossen und Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama zur Billigung vorgelegt werden konnte. Dieser gab seiner Zustimmung.

Dementsprechend wurde die erste Sitzung dieser historischen ersten Außerordentlichen Vollversammlung am 20. Tag des 9. Monats des tibetischen Königjahres 2135, dem 17. November 2008 nach westlicher Zeitrechnung, eröffnet. Besondere Teilnehmer der Konferenz waren der Oberste Justizkommissar und die anderen beiden Justizkommissare der Obersten Justizkommission, der gemeinsame Vorsitzende der Kommissionen für Öffentlichen Dienst und Wahlen, der Generalrevisor der Revisionskommission, acht Kalons [Minister, A.d.Übs.] einschließlich des Kalon Tripa [Ministerpräsident, A.d.Übs.], 41 Mitglieder des Parlaments; 18 ehemalige Kalons, 32 ehemalige Mitglieder des Parlaments, 66 Mitarbeiter der Tibetischen Zentralverwaltung, ein Sondergesandter und ein Gesandter Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, zehn Repräsentanten Seiner Heiligkeit des Dalai Lama in verschiedenen Ländern, 78 Vertreter der lokalen Siedlungsräte der tibetischen Siedlungen in Indien, Nepal und Bhutan sowie der Öffentlichkeit der Gebiete, in denen es keine Siedlungsräte gibt, 60 regionale Vertreter des Komitees der Freiheitsbewegung, 32 Vertreter tibetischer Vereinigungen im Ausland, 20 Vertreter verschiedener NGOs, 58 leitende Vertreter der tibetischen Schulen, 30 Mönche und Nonnen als Vertreter der vier Schulen des tibetischen Buddhismus und der Bön-Tradition, 11 Vertreter verschiedener unabhängiger Einrichtungen sowie 48 freiwillige Helfer aus Indien, Nepal und Bhutan und dem weiteren Ausland, die sich für die Sache Tibets einsetzen. Insgesamt versammelten sich 560 Teilnehmer aus 19 verschiedenen Ländern in der Versammlungshalle des Tibetischen Kinderdorfes (TCV) zur Eröffnungssitzung.

Die beiden Parlamentssprecher und der Kalon Tripa führten die Prozession zur Versammlungshalle an, bei der ein Portrait Seiner Heiligkeit des Dalai Lama vorangetragen wurde; die Mönche des Namgyal Klosters begleiteten den Zug mit religiösen Gesängen, ihnen folgten Jugendliche, gekleidet in die zeremonielle Tracht der drei traditionellen Regionen Tibets. Als nächstes intonierte das Tibetische Institut für Darstellende Kunst die tibetische Nationalhymne, worauf eine Schweigeminute folgte im Gedenken an all die tapferen Männer und Frauen, vor allem jene, die unter der brutalen Repression der chinesischen Regierung gelitten haben und immer noch leiden, seit die weit verbreitete Protestbewegung ab dem 10. März dieses Jahres die drei Regionen Tibets erfasste.

Der Parlamentssprecher, Karma Chophel, hielt die Eröffnungsrede der ersten Außerordentlichen Vollversammlung. Nach der darauf folgenden Ansprache des Kalon Tripa, Prof. Samdhong Rinpoche, an die Versammlung wurden die Teilnehmer in 15 Gruppen aufgeteilt, die dreieinhalb Tage lang im Gangchen Kyishong, dem Sitz der Tibetischen Zentralverwaltung, über den Themenkreis „die Tibet-Frage angesichts der jüngsten dramatischen Ereignisse in Tibet und der internationalen Konstellation“ intensive Diskussionen führten. Außerdem gingen Meinungsäußerungen und Anregungen direkt aus Tibet ein sowie Vorschläge von Seiten tibetischer Siedlungen, Organisationen, Bildungseinrichtungen und Einzelpersonen.

Am 21. November traten die Teilnehmer wieder zur Abschlusssitzung in der Halle des TVC zusammen, auf der die Leiter der einzelnen Gruppen ihre Berichte mit den Endergebnissen ihrer Diskussionen vorlegten. Am Morgen des 22. November trafen sich die Leiter der Einzelgruppen und das Organisationskomitee der Außerordentlichen Generalersammlung des Ständigen Ausschusses des Parlaments, um die Empfehlungen der 15 Gruppen zu einem Resümee zusammenzufassen. Um 1.30 Uhr am Nachmittag wurden die nachstehenden endgültigen Empfehlungen wurden nach Annahme durch die Vollversammlung wie folgt verabschiedet.

Die Parlamentssprecher Karma Chophel und Gyari Dölma verfaßten die Endempfehlungen

In bezug auf Seine Heiligkeit den Dalai Lama, das geistige und weltliche Oberhaupt des tibetischen Volkes

1. Seine Heiligkeit der Dalai Lama ist vom tibetischen Volk und den Schutzgottheiten Tibets einmütig zum geistigen und weltlichen Oberhaupt der Tibeter erkoren worden. Seine Inthronisierung wurde damals von den Nachbarn Tibets, darunter auch von China, begrüßt, was ein klares Zeichen dafür ist, dass Seine Heiligkeit der Dalai Lama der unumstrittene geistige und weltliche Führer des tibetischen Volkes ist. Das bedeutet somit auch, dass die Tibetische Zentralverwaltung [Central Tibetan Administration/CTA] die einzige und legitime Vertretung aller Tibeter innerhalb und außerhalb Tibets ist – ein Legat, das die CTA aus vielen Jahrhunderten übernommen hat. Diese lange Geschichte, auf die das tibetische Volk zurückblicken kann, beweist, dass die Propaganda und die kürzlich erfolgten Äußerungen der chinesischen Regierung, Seine Heiligkeit der Dalai Lama und die CTA hätten kein Recht, Tibet und das tibetische Volk zu vertreten, jeglicher Grundlage entbehren. Die Tibeter innerhalb und außerhalb Tibets weisen derartige Bemerkungen nachdrücklich zurück.

2. Wir bitten Seine Heiligkeit den Dalai Lama mit dieser Außerordentlichen Generalversammlung eindringlich und mit größter Ehrerbietung, in dieser kritischen Zeit weiterhin die Verantwortung für die geistige und weltliche Führung des tibetischen Kampfes auf sich zu nehmen und kein Wort mehr zu verlieren über einen teilweisen oder vollständigen Rückzug in den Ruhestand. Als Unterpfand für die ununterbrochene Reihe der Wiedergeburten des Dalai Lama gibt es niemanden außer Seiner Heiligkeit, der das Volk des Schneelandes Tibet so beschützen könnte wie er.

3. Mit dieser Außerordentlichen Generalversammlung fordern wir die chinesische Regierung entschieden auf, unverzüglich die grundlosen und unvorstellbaren Anschuldigungen gegen Seine Heiligkeit den Dalai Lama einzustellen. Diese haben im Herzen und in der Seele des tibetischen Volkes innerhalb und außerhalb Tibets unheilbare Wunden geschlagen, vor allem bei all den Anhängern des tibetischen Buddhismus, darunter auch den chinesischen Buddhisten sowie bei allen aufrechten und wahrheitsliebenden Menschen auf der ganzen Welt. Diese Anschuldigungen trugen auch zur Verschärfung der ethnischen Spannungen zwischen Tibetern und Chinesen bei und fügten damit den langfristigen Interessen von Einheit und Kooperation unter den Nationalitäten schweren Schaden zu.

In bezug auf die Politik und die Haltung der CTA

1. Auf der Grundlage der Anregungen, die für diese Außerordentliche Generalversammlung von Tibetern aus Tibet und aus dem Exil eingingen, fassten die Delegierten nach einer offenen und ehrlichen Diskussion über die zukünftige Politik Tibets die einstimmige Entscheidung, der Führung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama uneingeschränkt zu folgen, entsprechend der zu der jeweiligen Zeit gegebenen Situation. Die Mehrheit der Delegierten sprach sich für die Fortsetzung der Politik des Mittleren Weges aus. In Anbetracht des bisherigen Verhaltens der chinesischen Regierung wurden auch nachdrücklich Meinungen vorgebracht, die Entsendung der Sondergesandten einzustellen und die vollkommene Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung anzustreben, falls sich in naher Zukunft kein Ergebnis abzeichnet.

2. Doch zu welchem Programm wir uns in unserem Kampf um Tibet auch immer bekennen – sei es nun der Ansatz des Mittleren Weges, die Unabhängigkeit oder die Selbstbestimmung – , wir werden bei der Verfolgung unseres Zieles niemals vom Pfad der Gewaltlosigkeit abweichen.

In bezug auf die Regierung der VR China und das chinesische Volk

1. Im Bemühen, das sino-tibetische Problem mit der Politik des Mittleren Wege zu lösen, legten Seine Heiligkeit der Dalai Lama und die Tibetische Zentralverwaltung kürzlich der chinesischen Regierung ein Memorandum über echte Autonomie für das tibetische Volk innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens der der VR China vor. Nicht allein gab es keinerlei positive Reaktion, die Regierung der VRC verwarf jeden einzelnen Punkt dieses Memorandums und beschuldigte die CTA, die volle Unabhängigkeit, die halbe Unabhängigkeit oder Unabhängigkeit in verdeckter Form anzustreben. Daher hat der Dialogprozess für das sino-tibetische Problem kein nachhaltiges Ergebnis gebracht; die ganze Verantwortung für diesen Misserfolg liegt allein bei der VR China.

2. Die Ursache für die kürzlich stattgefundenen weit verbreiteten Demonstrationen in Tibet ist die lang angestaute Unzufriedenheit und das Leiden der Tibeter. Die Gründe für diesen Ausbruch von Protesten können auf die harte und unerbittliche Politik zurückgeführt werden, die China all diese Jahre, seitdem es Tibet besetzt hält, den Tibetern gegenüber betreibt. Die Gründe für die anhaltenden Proteste der Tibeter sind in der systematischen Plünderung der Naturschätze Tibets zu suchen, in der Vernichtung der Tradition und des Brauchtums Tibets und vor allem in der so genannten patriotischen Erziehung, der die Tibeter gewaltsam unterzogen werden – einer Kampagne, bei der sie gezwungen werden, Seine Heiligkeit zu diffamieren. Die tibetischen Proteste gehen weiter aufgrund der in großem Maßstab betriebenen Politik des Bevölkerungstransfers von Chinesen nach Tibet, der die tibetische Religion und Kultur, die bereits degeneriert sind, noch weiter untergräbt und die Ökologie Tibets zerstört. Zu der Protestwelle kam es auch wegen der Verletzung aller grundlegenden Menschenrechte.

3. Weil die VRC fortwährend behauptete, sie hätte Beweise dafür, dass die jüngsten Unruhen in Tibet von der „Dalai Clique ausgelöst, angezettelt, geplant und organisiert“ worden seien, forderten Seine Heiligkeit der Dalai Lama und die Tibetische Zentralverwaltung, dass eine internationale Untersuchungskommission die Erlaubnis erhalten solle, nach Tibet zu reisen, um diese Behauptungen der VRC zu prüfen. Außerdem könne China seine Vertreter nach Dharamsala senden, um an Ort und Stelle nach einer Bestätigung für seine Unterstellungen zu suchen. Die VRC hatte jedoch nicht den Mut, diese beiden Vorschläge anzunehmen. Mehr noch, sie konnte der Weltöffentlichkeit keinen einzigen Beweis zur Unterstützung ihrer Behauptungen präsentieren. Das zeigt ganz deutlich, dass die Demonstrationen und Proteste in Tibet seit März dieses Jahres auf die repressive Politik, die China seit der Besetzung des Landes gegenüber den Tibetern betreibt, zurückzuführen sind. Daher sollte die Regierung der VRC zu ihren Fehlern stehen und die Verantwortung dafür übernehmen.

4. Mit dieser Außerordentlichen Generalversammlung wollen wir ein weiteres Mal betonen, dass der tibetische Kampf ein Kampf um die Rechte der Tibeter ist. Es ist ein Kampf gegen die verfehlte Politik der VRC gegenüber Tibet und den Tibetern. Der tibetische Kampf richtet sich in keiner Weise gegen das chinesische Volk, wie es von der VRC dargestellt wird.

5. Um den tibetischen Buddhismus zu zerstören, führte die VRC neue Bestimmungen über die Anerkennung reinkarnierter Lamas oder „Lebender Buddhas“ ein. Wir wenden uns entschieden gegen jede Einmischung einer Regierung, die sich zum Atheismus bekennt, in die spirituellen Angelegenheiten eines Volkes um des politischen Kalküls willen. Wir wenden uns entschieden gegen die Kampagne der „patriotischen Erziehung“, der die Klöster in Tibet immer vehementer unterzogen werden.

In bezug auf die Verbesserung und Förderung der Projektarbeit

In Kürze wird das Sekretariat des Parlaments einen ‚Bericht’ erarbeiten über die Vorschläge und Anregungen, die uns aus Tibet und aus der Exilgemeinde erreichten, sowie über die Empfehlungen der respektiven Gruppen für die Wahrnehmung der administrativen Aufgaben, der bildungsbezogenen Aufgaben, der Verbreitung von Informationen und für das Gesundheits- und Finanzwesen. Dieser Bericht wird an die zuständigen Abteilungen zu ihrer Information und weiteren Planung ihrer Handlungen verteilt werden.

Dank und Anerkennung allen Unterstützern der Sache Tibets

Auf dieser Außerordentlichen Generalversammlung sprechen wir allen Tibet-Unterstützungsgruppen in der ganzen Welt, den Regierungen, der Öffentlichkeit, den Parlamenten und internationalen Organisationen und ganz besonders aber dem Volk und der Regierung Indiens für seine nicht nachlassende Unterstützung und Solidarität mit der Sache Tibets und der Tibeter über all die Jahre hinweg unseren aufrichtigen Dank aus.

Die Vollversammlung der Tibeter tagte vom 17. bis 22. November 2008

Im Namen aller Teilnehmer der ersten Außerordentlichen Generalversammlung der Tibeter,
am 25. Tag des 9. Monats des Tibetischen Königsjahres 2135,
dem 22. November 2008.

Karma Chophel, Sprecher des Tibetischen Parlaments-im-Exil
Dolma Gyari, Stellvertretende Sprecherin des Tibetischen Parlaments-im-Exil.

Der Originaltext wurde aus dem Tibetischen ins Englische übersetzt, siehe: http://www.tibet.net/en/index.php?id=546&articletype=flash&rmenuid=morenews.
Bei Zweifeln bezüglich des genauen Wortlauts ist das tibetische Original maßgeblich:
http://www.tibet.net/tb/flash/2008/november/241108.html