14. November 2008

Department of Information & International Relations (DIIR)
Central Tibetan Administration
Dharamshala – 176215, H.P., India, www.tibet.net

Vorläufige Übersetzung

Version in pdf

SONDERBOTSCHAFT SEINER HEILIGKEIT DES DALAI LAMA AN DIE TIBETER INNERHALB UND AUSSERHALB TIBETS

Ich grüße alle Tibeter innerhalb und außerhalb Tibets und möchte die Gelegenheit nutzen, um  ihnen meine Überlegungen zu einigen wichtigen Fragen darzulegen

Schon in meiner frühen Jugend wurde mir bewusst, dass es im unmittelbaren wie auch im langfristigen Interesse Tibets von allerhöchster Wichtigkeit ist, unser Regierungssystem zu demokratisieren. Deshalb habe ich, nachdem ich die Verantwortung als geistlicher und politischer Führer Tibets übernahm, große Anstrengungen unternommen, solche demokratische Strukturen in Tibet aufzubauen. Leider war es uns nicht möglich, dies unter der harten Hand der Volksrepublik China zu erreichen. Doch gleich, nachdem wir ins Exil gegangen waren, wurde die Struktur unseres Regierungssystems entsprechend reformiert, und es wurde ein neu gewähltes Parlament konstituiert. Ungeachtet der Exilsituation ist der Demokratisierungsprozess der tibetischen Gemeinschaft ein gutes Stück vorangekommen. Heute ist die tibetische Gemeinschaft im Exil voll und ganz zu einer modernen Demokratie im wahrsten Sinne des Wortes geworden, sie besitzt eine Verwaltung mit einem eigenen Statut und eine vom Volk gewählte Führung. Wir können heute stolz darauf sein, dass das tibetische Volk selbst bereit und in der Lage ist, Verantwortung für Tibet zu übernehmen.

Dass ich die Errichtung eines demokratischen Systems immer wieder gefördert habe, hat seinen Grund einzig und allein in der Notwendigkeit, ein solides und belastbares zukünftiges Regierungssystem in Tibet zu gewährleisten, und nicht etwa darin, dass ich selbst unwillig war oder mich meiner Verantwortung entziehen wollte. Es ist überaus wichtig, dass wir die Bilanz aus unserer Geschichte und aus unseren Erfahrungen der Vergangenheit ziehen, und ebenso auch aus der heutigen Weltlage lernen, um unseren Kampf aufrecht zu erhalten. Alle Tibeter sollten die Institution der Tibetischen Zentralverwaltung unterstützen und stärken, so dass es uns möglich sein wird, das kulturelle Erbe Tibets im Exil zu bewahren, bis die Tibetfrage gelöst sein wird.

Seit wir ins Exil gegangen sind, haben wir die grundlegenden Funktionen eines demokratischen Systems praktiziert, indem wir unser Volk aufforderten, seine Meinung zu wichtigen politischen Entscheidungen über die Zukunft Tibets zu äußern. Die heute von uns betriebene Politik des Mittleren Weges, die für beide Seiten von Vorteil ist, wurde Anfang der siebziger Jahre nach gründlicher Beratung und Diskussion mit führenden Persönlichkeiten formuliert, die das tibetische Volk vertraten, wie z.B. dem Vorsitzenden des Parlaments. Zudem habe ich im Straßburger Vorschlag ausdrücklich erklärt, dass das tibetische Volk die letztendliche Entscheidung treffen wird.

Nach dem Abbruch der Kontakte mit der VR China im Jahr 1993 führten wir unter den Tibetern im Exil eine Meinungsumfrage durch und sammelten in Tibet, wo immer das möglich war, Anregungen zu dem vorgeschlagenen Referendum, durch das die Tibeter den zukünftigen Kurs unseres Freiheitskampfes zu ihrer vollen Zufriedenheit bestimmen sollten. Gestützt auf das Umfrageergebnis und die Anregungen aus Tibet verabschiedete unser Parlament-im-Exil eine Resolution, die mich ermächtigte, weiterhin nach eigenem Ermessen zu handeln, ohne auf ein Referendum zurückgreifen zu müssen. Deshalb haben wir bis jetzt den Kurs des Mittleren Weges verfolgt, und acht Gesprächsrunden haben seit der Wiederaufnahme der Kontakte mit der VR China 2002 stattgefunden. Aber obwohl dieser Kurs in der internationalen Gemeinschaft breite Anerkennung gefunden hat und auch von vielen chinesischen Intellektuellen unterstützt wird, hat es keine positiven Signale oder Veränderungen in Tibet gegeben. Die Politik der VR China gegenüber Tibet und den Tibetern hat sich in keiner Weise geändert.

Nach der sechsten Gesprächsrunde mit offiziellen Vertretern der VR China 2007 gab es keine Pläne für weitere Gespräche in absehbarer Zukunft. Aber aufgrund der Dringlichkeit der Situation in Tibet nach den Ereignissen vom März dieses Jahres führten wir Anfang Mai informelle Gespräche, auf die im Juli und Anfang November die siebte und achte Gesprächsrunde folgten, denn wir wollten nichts unversucht lassen. Dennoch gab es keinen wirklichen Fortschritt.

Im März dieses Jahres gingen Tibeter aus ganz Tibet, das als Cholka-Sum bekannt ist und die Provinzen U-Tsang, Kham und Amdo umfasst, – Junge und Alte, Männer und Frauen, Mönche und Laien, Gläubige und Nichtgläubige, darunter auch Studenten – mutig auf die Straße, um unter Gefahr für Leib und Leben ihre lange gehegte Unzufriedenheit über die Politik der VR China auf friedlichem und legalem Wege zu äußern. Zu dem Zeitpunkt war ich zuversichtlich, dass die Regierung der VR China entsprechend der Realität vor Ort eine Lösung finden würde. Doch stattdessen hat die chinesische Regierung die tibetischen Gefühle und Wünsche vollkommen außer Acht gelassen und zurückgewiesen und die Tibeter unter dem Vorwand, sie seien „Spalter“ und „Reaktionäre“, brutal niedergeknüppelt. In dieser schweren Zeit machte ich aus ernster Sorge und einem tiefen Verantwortungsgefühl heraus allen Einfluss geltend, den ich in der internationalen Gemeinschaft habe und gegenüber China und schrieb persönlich an Präsident Hu Jintao. Aber meine Bemühungen haben praktisch nichts bewirkt.

Da jedermann nur mit den Olympischen Spielen in Peking beschäftigt war, schien es mir nicht angebracht, mich zu jener Zeit an die Öffentlichkeit zu wenden. Jetzt, da die Zeit geeigneter ist, habe ich gemäß Artikel 59 der Charta-der-Tibeter-im-Exil am 11. September unsere gewählte Führung gebeten, in Kürze eine Außerordentliche Versammlung einzuberufen. Meine Hoffnung ist, dass es den Teilnehmern möglich sein wird, die Meinungen ihrer jeweiligen Gemeinschaften einzuholen und sie bei dieser Veranstaltung vorzustellen.

Angesichts des beeindruckenden Mutes, den die Menschen in ganz Tibet in diesem Jahr gezeigt haben, angesichts der gegenwärtigen Weltlage und angesichts der kompromisslosen Haltung der Regierung der VR China sollen alle Teilnehmer als tibetische Staatsbürger im Geiste von Gleichheit, Zusammenarbeit und kollektiver Verantwortung darüber diskutieren, welche Vorgehensweise die bestmögliche ist, um die tibetische Sache künftig voranzubringen. Das Treffen soll in einer Atmosphäre der Offenheit und Unvoreingenommenheit stattfinden und sich auf die Wünsche und Meinungen des tibetischen Volkes konzentrieren. Ich appelliere an alle Beteiligten, zusammenzuarbeiten, um nach besten Kräften ihren Beitrag zu leisten.

Diese Außerordentliche Versammlung wird mit der ausdrücklichen Absicht einberufen, ein Forum zu bieten, um in freier und offener Diskussion die wirklichen Meinungen und Ansichten des tibetischen Volkes zu ermitteln. Alle müssen sich darüber im Klaren sein, dass diese Außerordentliche Versammlung nicht das Ziel hat, ein bestimmtes, im Voraus festgelegtes Ergebnis zu erreichen.

Der Dalai Lama

14. November 2008