28. März 2008
Department of Information and International Relations (DIIR),
Central Tibetan Administration, Dharamsala
www.tibet.net

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Appell

Appell Seiner Heiligkeit des 14. Dalai Lama an das chinesische Volk

Heute entbiete ich meine von Herzen kommenden Grüße all meinen chinesischen Brüdern und Schwestern auf der ganzen Welt, insbesondere jenen in der Volksrepublik China. Angesichts der derzeitigen Entwicklungen in Tibet möchte ich meine Gedanken über die Beziehungen zwischen dem tibetischen und chinesischen Volk mit ihnen teilen und einen persönlichen Aufruf an sie richten.

Ich bin tief betrübt über die aktuellen, tragischen Ereignisse in Tibet und die vielen Menschenleben, die sie kosteten. Ich bin mir bewußt, daß auch einige Chinesen zu Tode gekommen sind. Ich fühle mit den Opfern und ihren Familien und bete für sie. Die jüngsten Unruhen haben den Ernst der Situation in Tibet deutlich werden lassen und ebenso die dringende Notwendigkeit, eine friedliche und wechselseitig zufriedenstellende Lösung mittels Dialog anzustreben. Selbst in diesen kritischen Augenblicken bringe ich gegenüber der chinesischen Regierung meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit zum Ausdruck, um zu Frieden und Stabilität zu gelangen.

Chinesische Brüder und Schwestern, ich versichere euch, daß ich nicht nach der Abspaltung Tibets trachte, noch habe ich den Wunsch, einen Keil zwischen Tibeter und Chinesen zu treiben. Im Gegenteil, schon immer war es mein Ziel, eine tragfähige Lösung für die Probleme Tibets zu finden, welche die langfristigen Interessen von Chinesen und Tibetern berücksichtigt. Mein wichtigstes Anliegen ist, wie ich wiederholt betont habe, die Sicherstellung des Fortbestands der einzigartigen Kultur, Sprache und Identität des tibetischen Volkes. Als ein einfacher Mönch, der bestrebt ist, sein tägliches Leben gemäß den Grundsätzen des Buddhismus auszurichten, versichere ich euch, daß meine Motivation aufrichtig ist.

Ich habe an die Führung der Volksrepublik China appelliert, meine Haltung richtig zu verstehen und sich zu bemühen die Probleme zu lösen, indem sie „ausgehend von den Fakten nach der Wahrheit forscht". Ich bitte die chinesische Führung deshalb dringend, weise zu handeln und einen Dialog mit dem tibetischen Volk einzuleiten, der für beide Teile von Nutzen ist. Weiterhin appelliere ich an sie, ernsthafte Bemühungen zu unternehmen, um Stabilität und Harmonie in der Volksrepublik China zu gewährleisten und es nicht zur Bildung von Gräben zwischen den Volksgruppen kommen zu lassen.

Das Bild, das die Staatsmedien von den aktuellen Ereignissen in Tibet zeichnen, wobei gefälschte und aus dem Kontext gerissene Fotos verwendet werden, könnte den Samen für Spannungen zwischen ethnischen Volksgruppen säen, ohne daß die hieraus resultierenden langfristigen Konsequenzen absehbar sind. Dies bereitet mir erhebliche Sorgen. Ebenso, daß die chinesische Führung trotz meiner wiederholt zum Ausdruck gebrachten Befürwortung der Pekinger Olympiade behauptet, ich versuchte die Spiele zu sabotieren. Sie tut dies mit der Intention, eine Kluft zwischen den Menschen in China und mir selbst zu schaffen. Dennoch ermutigt es mich, daß einige chinesische Intellektuelle und Schriftsteller auch starke Bedenken im Hinblick auf das Handeln der chinesischen Führung zum Ausdruck gebracht haben, ebenso hinsichtlich der dadurch hervorgerufenen langfristigen negativen Konsequenzen, insbesondere für die Beziehungen zwischen den Volksgruppen.

Seit uralten Zeiten haben die Völker Tibets und Chinas in einem nachbarschaftlichen Verhältnis nebeneinander gelebt. In den 2.000 Jahren dokumentierter Geschichte unserer Völker haben wir zeitweise freundschaftliche Beziehungen entwickelt, die selbst zu ehelichen Verbindungen geführt haben, während wir uns zu anderen Zeiten bekämpft haben. Seit jedoch der Buddhismus zu blühen begann - und zwar zuerst in China, bevor er von Indien nach Tibet gelangte -, haben wir Tibeter, historisch betrachtet, dem chinesischen Volk den Respekt und die Zuneigung entgegengebracht, wie sie älteren Dharma Brüdern und Schwerstern gebühren. Dies ist für Chinesen, die außerhalb Chinas leben, nichts Neues. Einige von ihnen haben meine buddhistischen Belehrungen besucht, während ich andere, die als Pilger aus China gekommen sind, willkommen heißen konnte. Derartige Begegnungen geben mir Trost und ich empfinde und hoffe, daß sie vielleicht zu einem besseren Verständnis zwischen unseren beiden Völkern beitragen werden.

Das 20. Jahrhundert war Zeuge enormer Wandlungen in vielen Teilen der Welt, auch Tibet wurde von diesen Turbulenzen erfaßt. Schon bald nach der Gründung der Volkrepublik China im Jahr 1949 drang die Volksbefreiungsarmee in Tibet ein, was im Mai 1951 schließlich zum Abschluß des 17-Punkte Abkommens zwischen China und Tibet führte. Als ich von 1954 bis 1955 in Peking war, wo ich am Nationalen Volkkongreß teilnahm, hatte ich die Gelegenheit, mit vielen führenden Persönlichkeiten der Regierung, darunter dem Vorsitzenden Mao, zusammenzukommen und persönliche Freundschaftsbande mit ihnen anzuknüpfen. Tatsächlich gab mir der Vorsitzende Mao zu zahlreichen Angelegenheiten Ratschläge und er machte mir persönlich Zusagen hinsichtlich der Zukunft Tibets. Ermutigt durch diese Zusicherungen und inspiriert von dem Idealismus vieler damaliger Revolutionsführer Chinas kehrte ich voller Zuversicht und Optimismus nach Tibet zurück. Einige tibetische Mitglieder der Kommunistischen Partei hegten damals ähnliche Hoffnungen wie ich. Nach meiner Rückkehr nach Lhasa unternahm ich jede nur mögliche Anstrengung, um echte Autonomie für Tibet innerhalb der Völkerfamilie der Volksrepublik China (VRC) zu erreichen. Ich glaubte, daß damit den langfristigen Interessen sowohl des tibetischen als auch des chinesischen Volkes auf bestmögliche Weise gedient würde.

Unglücklicherweise führten letzten Endes Spannungen, die in Tibet um 1956 zu eskalieren begannen, zu dem gewaltlosen Aufstand vom 10. März 1959 in Lhasa und in der Folge zu meiner Flucht ins Exil. Obwohl viele positive Entwicklungen in Tibet unter der Herrschaft der VRC stattgefunden haben, waren sie, wie es der vorige Panchen Lama im Januar 1989 deutlich machte, von immensem Leid und weitreichenden Zerstörungen überschattet. Die Tibeter lebten in einem Zustand anhaltender Angst, während die chinesische Regierung ihnen fortgesetzt mit Mißtrauen begegnete. Dennoch, anstatt Feindschaft gegenüber den chinesischen Führern zu hegen, die für die unbarmherzige Unterdrückung des tibetischen Volkes verantwortlich waren, betete ich darum, daß sie unsere Freunde würden. Dies drückte ich in den folgenden Zeilen eines Gebetes aus, welches ich 1960, ein Jahr nachdem ich Indien erreicht hatte, niederschrieb: “Mögen sie das Auge der Weisheit erlangen, welches zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden vermag. Und mögen sie in der Glorie der Freundschaft und Liebe verharren." Viele Tibeter, darunter auch Schulkinder, rezitieren diese Zeilen in ihren täglichen Gebeten.

Nach sehr ernsthaften Gesprächen mit meinem Kashag (Kabinett) und ebenso mit dem Sprecher und dem stellvertretenden Sprecher der Versammlung der Tibetischen Volksdeputierten entschieden wir uns im Jahr 1974 dazu, eine Art mittleren Weges einzuschlagen, bei dem Tibet bei China bleiben würde und der die friedliche Entwicklung Tibets ermöglichen sollte. Obwohl wir zu dieser Zeit in keinerlei Kontakt zu der VRC standen, die sich mitten in der Kulturrevolution befand, war uns bereits klar geworden, daß wir früher oder später eine Lösung der Tibet-Frage durch Verhandlungen finden würden müssen. Zugleich begriffen wir, daß es Tibet zumindest in Bezug auf seine Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung sehr stark nützen würde, wenn es Teil der VRC bliebe. Obwohl Tibet über ein reiches und sehr altes Kulturerbe verfügt, ist es materiell unterentwickelt.

In Tibet, welches auf dem Dach der Welt liegt, haben viele der bedeutenden Ströme Asiens ihren Ursprung. Aus diesem Grund ist der Schutz der Umwelt auf dem tibetischen Hochplateau von höchster Wichtigkeit. Da es unser allergrößtes Anliegen ist, die tibetisch-buddhistische Kultur – verankert wie sie ist in den Werten des universalen Mitgefühls – zu schützen, sowie die tibetische Sprache und die einzigartige Identität Tibets, haben wir mit ganzem Herzen daraufhin gearbeitet, eine sinnvolle Selbstverwaltung für alle Tibeter zu erreichen. Die Verfassung der VRC sieht für alle Volksgruppen, also auch für die Tibeter, das Recht vor, in dieser Weise zu handeln.

Im Jahr 1979 versicherte der damalige Staatsführer Chinas, Deng Xiaoping, meinem persönlichen Emissär, daß, „abgesehen von der Unabhängigkeit Tibets alle Fragen verhandelbar seien“. Da wir bereits beschlossen hatten, eine Lösung der Tibet-Frage innerhalb des Verfassungsrahmens der VRC zu suchen, befanden wir uns in einer sehr guten Ausgangsposition, um auf diese neue Möglichkeit einzugehen. Meine Repräsentanten trafen sich viele Male mit Vertretern der VRC. Seit der Wiederaufnahme unserer Kontakte im Jahr 2002 gab es sechs Gesprächsrunden. Allerdings führten diese im Hinblick auf grundlegende Themen zu keinem Ergebnis. Wie ich bereits vielfach betont habe, bleibe ich dennoch dem Ansatz des Mittleren Weges verpflichtet, und ich möchte hier meine Bereitschaft, den Dialogprozeß weiter fortzusetzen, wiederholen.

In diesem Jahr blicken die Chinesen mit Stolz und Freude der Eröffnung der Olympischen Spiele entgegen. Ich habe von Beginn an die Vergabe der Spiele an Peking befürwortet, und meine Position in dieser Sache bleibt unverändert. China hat die größte Bevölkerung der Welt, eine lange Geschichte und eine außerordentlich reiche Kultur. Heute ist es in Folge des beeindruckenden Wirtschaftsfortschritts auf dem Wege, eine Großmacht zu werden. Selbstverständlich ist das zu begrüßen. Aber China muß sich auch den Respekt und die Achtung der Weltgemeinschaft verdienen, indem es eine offene und harmonische Gesellschaft etabliert, die auf den Prinzipien von Transparenz, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit begründet ist.

So haben beispielsweise bis auf den heutigen Tag die Opfer der Tragödie vom Tiananmen Platz, die das Leben so vieler chinesischer Bürger beeinträchtigt hat, weder eine angemessene Entschädigung noch eine offizielle Rehabilitation erhalten. In gleicher Weise werden die berechtigten Beschwerden zigtausender einfacher Chinesen in ländlichen Gegenden, die Unrecht seitens der ausbeuterischen und korrupten Beamtenschaft erfahren, entweder ignoriert oder es wird ihnen mit Aggression begegnet. Ich bringe diese Bedenken sowohl als einfacher Mitmensch vor, wie auch als jemand, der bereit ist, sich als Mitglied der großen Familie der Volksrepublik China zu verstehen. Vor diesem Hintergrund begrüße ich Präsident Hu Jintaos Politik zur Gestaltung einer „harmonischen Gesellschaft", aber diese kann nur auf der Basis von wechselseitigem Vertrauen und in einer Atmosphäre der Freiheit entstehen, die Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit voraussetzt. Ich bin fest davon überzeugt, daß viele schwerwiegende Probleme, von denen die nationalen Minderheiten betroffen sind, gelöst werden könnten, wenn diese Werte zu Grunde gelegt würden – etwa solche Probleme wie die Frage Tibets, sowie die Ost-Turkestans und der Inneren Mongolei, wo die angestammte Bevölkerung heute nur noch 20% der Gesamtbevölkerung von 24 Millionen darstellt.

Ich hatte gehofft, Präsident Hu Jintaos unlängst abgegebene Erklärung, daß die Stabilität und Sicherheit Tibets die Stabilität und Sicherheit des Landes betrifft, möglicherweise den Anbeginn einer neuen Ära zur Lösung der Probleme Tibets bedeutete. Es ist bedauerlich, daß die politische Führung Chinas mich trotz meines aufrichtigen Bemühens, Tibet nicht von China abzuspalten, immer noch beschuldigt, ein “Separatist" zu sein. Als die Tibeter in Lhasa und in anderen Gebieten spontan protestierten, um ihre lange angestaute Verbitterung zum Ausdruck zu bringen, bezichtigte mich die chinesische Regierung in analoger Weise umgehend der Urheberschaft dieser Demonstrationen. Ich schlug eine gründliche Untersuchung durch ein respektables Gremium vor, das diese Anschuldigungen genau überprüfen würde.

Chinesische Brüder und Schwestern, wo immer ihr auch sein möget, aus tief empfundener Sorge appelliere ich an Euch, zum Abbau der Mißverständnisse zwischen unseren beiden Völkern beizutragen. Darüber hinaus appelliere ich an Euch: Helft, eine friedliche, dauerhafte Lösung der Tibet-Frage durch Gespräche im Geiste der Verständigung und des Entgegenkommens herbeizuführen.

Mit meinen Gebeten

Der Dalai Lama am 28. März 2008

Übersetzt aus dem Englischen (Originalversion Tibetisch)