16. Novembr 2008

Department of Information & International Relations (DIIR)
Central Tibetan Administration
Dharamshala – 176215, H.P., India, www.tibet.net

Vorläufige Übersetzung

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Memorandum über echte Autonomie für das tibetische Volk

I. Einführung

Seit der Wiederaufnahme direkter Kontakte mit der Zentralregierung der Volksrepublik China (VR China) im Jahre 2002 fanden ausgiebige Gespräche zwischen den Gesandten Seiner Heiligkeit des 14. Dalai Lama und Vertretern der Zentralregierung statt. Bei diesen Diskussionen brachten wir die Wünsche der Tibeter klar zum Ausdruck. Der Grundgedanke des Konzepts des Mittleren Weges ist die Gewährleistung echter Autonomie für das tibetische Volk innerhalb des von der Verfassung der VR China gesetzten Rahmens. Ein solches Konzept ist für beide Seiten von Vorteil und geht von den langfristigen Interessen sowohl des tibetischen als auch des chinesischen Volkes aus. Wir bleiben unserer Verpflichtung treu, dass wir weder Abspaltung noch Unabhängigkeit anstreben. Wir suchen eine Lösung für das Tibet-Problem durch echte Autonomie, die im Einklang steht mit den Richtlinien über Autonomie in der Verfassung der Volksrepublik China. Der Schutz und die weitere Entfaltung der einzigartigen tibetischen Identität in all ihren Aspekten dient den höheren Interessen der Menschheit im allgemeinen wie auch denen des tibetischen und des chinesischen Volkes im besonderen.

Bei der siebten Gesprächsrunde in Peking am 1. und 2. Juli 2008 forderte Du Qinglin, der stellvertretende Vorsitzende der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes und Minister der Zentralen Abteilung für Einheitsfrontarbeit, nachdrücklich, von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama Vorschläge zur Stabilität und Entwicklung Tibets. Der geschäftsführende und stellvertretende Minister der Zentralen Abteilung für Einheitsfrontarbeit, Zhu Weiqun, erklärte des weiteren, dass er unsere Ansichten über den Grad oder die Form der Autonomie, wie wir sie anstreben, erfahren möchte, sowie unsere Ansichten über alle Aspekte regionaler Autonomie innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens der VR China.

Dementsprechend legen wir in diesem Memorandum unsere Position zu echter Autonomie dar und erläutern, wie den speziellen Erfordernissen der tibetischen Nationalität im Hinblick auf Autonomie und Selbstverwaltung durch die Anwendung der Richtlinien über Autonomie in der Verfassung der Volksrepublik China, so wie wir sie verstehen, Genüge getan werden kann. Von diesen Voraussetzungen ausgehend ist Seine Heiligkeit der Dalai Lama zuversichtlich, dass den grundlegenden Bedürfnissen der tibetischen Nationalität durch echte Autonomie innerhalb der VR China entsprochen werden kann.

Die VR China ist ein multinationaler Staat, und wie viele andere Staaten der Welt versucht auch sie, ihre Nationalitätenfrage durch Autonomie und Selbstverwaltung der nationalen Minderheiten zu lösen. Die Verfassung der VR China beinhaltet die Grundprinzipien über Autonomie und Selbstverwaltung, deren Zielsetzung mit den Bedürfnissen und Wünschen der Tibeter übereinstimmt. Durch regionale nationale Autonomie soll sowohl die Unterdrückung als auch die Abspaltung von Nationalitäten verhindert werden, indem sowohl dem Han-Chauvinismus wie auch dem lokalen Nationalismus eine Absage erteilt wird. Regionale nationale Autonomie soll den Schutz der Kultur und der Identität der nationalen Minderheiten sicherzustellen, indem er diese in die Lage versetzt, Herr ihrer eigenen Angelegenheiten zu werden.

Die Bedürfnisse der Tibeter können innerhalb der von der Verfassung gesetzten Richtlinien über Autonomie weitestgehend erfüllt werden. In mehrerer Hinsicht gibt die Verfassung den staatlichen Organen erheblichen Ermessensspielraum bei der Entscheidungsfindung und bei der Handhabung des Autonomiesystems. Dieser Ermessensspielraum kann genutzt werden, um den Tibetern echte Autonomie in einer Weise zu ermöglichen, die der Einzigartigkeit der Situation Tibets gerecht würde. Zur Umsetzung dieser Richtlinien mag es in der Folge erforderlich sein, die autonomiebezogenen Gesetze zu revidieren oder zu ergänzen, um den besonderen Eigenarten und Bedürfnissen der tibetischen Nationalität Rechnung zu tragen. Bei gutem Willen auf beiden Seiten können die anstehenden Probleme mit Hilfe der verfassungsmäßigen Grundsätze über Autonomie gelöst werden. Auf diese Weise werden nationale Einheit und Stabilität und harmonische Beziehungen zwischen den Tibetern und anderen Nationalitäten gefördert.

II. Respektierung der Integrität der tibetischen Nationalität

Ungeachtet der gegenwärtigen administrativen Aufteilung gehören die Tibeter zu einer einzigen der nationalen Minderheiten der VR China. Die Integrität der tibetischen Nationalität muss respektiert werden. Genau das besagen der Geist, die Absicht und das Prinzip, die dem Konzept über die nationale regionale Autonomie in der Verfassung sowie dem Grundsatz der Gleichheit der Nationalitäten zugrunde liegen.

Unbestritten ist die Tatsache, dass alle Tibeter die gleiche Sprache, Kultur, spirituelle Tradition, die gleichen Grundwerte und Bräuche besitzen, dass sie derselben ethnischen Gruppe zugehören und dass ihr Gefühl einer gemeinsamen Identität sehr ausgeprägt ist. Die Tibeter haben eine gemeinsame Geschichte, und trotz Perioden politischer oder administrativer Teilung blieben die Tibeter zu allen Zeiten geeint durch ihre Religion, Kultur, Bildung, Sprache, Lebensart sowie durch die einzigartige Umwelt des Hochplateaus.

Die tibetische Nationalität lebt auf einer zusammenhängenden Fläche auf dem tibetischen Hochland, das die Tibeter seit Jahrhunderten bewohnt haben und auf dem sie daher heimisch sind. Im Sinne der verfassungsmäßigen Begriffsbestimmung von nationaler regionaler Autonomie stellen die Tibeter in der VR China daher auf dem gesamten tibetischen Hochplateau eine einheitliche Nationalität dar.

Aus den genannten Gründen erkennt die VR China auch die tibetische Nationalität als eine der 55 nationalen Minderheiten an.

III. Die Wünsche der Tibeter

Die Tibeter verfügen über eine reiche und eigenständige Geschichte, Kultur und spirituelle Tradition, die zusammen genommen einen wertvollen Teil des Erbes der gesamten Menschheit darstellen. Nicht nur wünschen die Tibeter, ihr eigenes Erbe zu bewahren, das ihnen lieb und teuer ist, sondern sie wünschen ebenso, ihre Kultur, ihr spirituelles Leben und ihr Wissen in einer Weise zu entwickeln, die den Bedürfnissen und Lebensumständen der Menschheit im 21. Jahrhundert entspricht.

Als Teil des multinationalen Staatwesens der VR China können die Tibeter von dem derzeitigen rapiden wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt des Landes in hohem Maße profitieren. Wir möchten aktiv an dieser Entwicklung teilnehmen und zu ihr beitragen, möchten dabei aber auch sicherstellen, dass unser Volk dadurch nicht seine tibetische Identität, Kultur und seine Grundwerte einbüßt, und dass die besondere und empfindliche Umwelt des tibetischen Hochplateaus, auf dem Tibeter heimisch sind, nicht gefährdet wird.

Die Einzigartigkeit der tibetischen Situation wurde in der VR China zu allen Zeiten anerkannt, sie kommt in den Bestimmungen des 17-Punkte-Abkommens ebenso zum Ausdruck wie in den Erklärungen und der Politik der jeweiligen Staatsführer der VR China; sie sollte daher auch der Definition des Umfangs und der Struktur der besonderen Autonomie zugrunde liegen, die von einer tibetischen Nationalität innerhalb der VR China ausgeübt werden kann. Die chinesische Verfassung ist vom Prinzip her so flexibel, dass sie auch auf spezielle Situationen angewandt werden kann, wie die besonderen Eigenarten und Erfordernisse von nationalen Minderheiten.

Das Bemühen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, für das tibetische Volk eine Lösung innerhalb der VR China zu suchen, ist klar und unmissverständlich. Diese Haltung steht voll und ganz im Einklang mit der Erklärung des obersten Führers Deng Xiaoping, der betonte, dass mit Ausnahme der Unabhängigkeit alle anderen Fragen auf dem Wege des Dialogs gelöst werden können. Während wir uns also dazu bekennen, die territoriale Integrität der VR China zu respektieren, erwarten wir, dass die Zentralregierung ihrerseits die Integrität der tibetischen Nationalität anerkennt und respektiert, sowie deren Recht, innerhalb der VR China echte Autonomie auszuüben. Wir glauben, dass dies die Grundlage für die Lösung der Differenzen zwischen uns bildet und zur Einheit, Stabilität und Harmonie unter den Nationalitäten beitragen wird.

Damit die Tibeter eine eigenständige Nationalität innerhalb der VR China werden können, müssen sie sich wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch im gleichen Maße weiterentwickeln, wie sich auch die VR China und die Welt im ganzen entwickelt, wobei die tibetischen Eigenheiten einer solchen Entwicklung zu berücksichtigen und zu pflegen sind. Damit das verwirklicht werden kann, ist es zwingend erforderlich, dass das Recht der Tibeter, sich selbst zu regieren, anerkannt und angewandt wird auf dem gesamten Gebiet, auf dem sie in kompakten Gemeinwesen innerhalb der VR China leben, und in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen, Prioritäten und Eigenheiten der tibetischen Nationalität.

Die Kultur und Identität des tibetischen Volkes können nur von den Tibetern selbst erhalten und gepflegt werden und von niemandem sonst. Daher sollten die Tibeter in der Lage sein, sich selbst zu helfen, sich selbst zu entwickeln und zu verwalten, wobei eine optimale Abwägung gefunden werden muss zwischen diesem Ziel und der notwendigen und erwünschten Führung und Unterstützung Tibets durch die Zentralregierung und andere Provinzen und Regionen der VR China.

IV. Grundlegende Bedürfnissee der Tibeter

Themenbereiche der Selbstverwaltung

1) Sprache

Die Sprache ist das allerwichtigste Kennzeichen der Identität des tibetischen Volkes. Tibetisch ist das erste Kommunikationsmittel der Tibeter, die Sprache, in der ihre Literatur, ihre spirituellen und historischen Texte sowie ihre wissenschaftlichen Arbeiten verfasst sind. Die tibetische Sprache steht nicht nur grammatisch auf dem selben hohen Niveau wie das Sanskrit, es ist auch die einzige Sprache, in die aus dem Sanskrit ohne die geringsten Abstriche übersetzt werden kann. Daher besitzt die tibetische Sprache nicht nur die reichste und am besten übersetzte Literatur, manche Gelehrte argumentieren sogar, dass sie die reichste und größte Zahl literarischer Werke aufweist. Die Verfassung der VR China garantiert in Art. 4 allen Nationalitäten die Freiheit, „ihre eigene Sprache in Wort und Schrift zu verwenden und weiterzuentwickeln…“.

Damit die Tibeter ihre eigene Sprache verwenden und entfalten können, muss Tibetisch als die hauptsächlich gesprochene und geschriebene Sprache respektiert werden. Entsprechend muss die Hauptverkehrssprache in den tibetischen autonomen Gebieten das Tibetische sein.

Dieser Grundsatz wird generell in Art.121 der Verfassung anerkannt, laut dem „die Selbstwaltungsorgane der Regionen mit nationaler Autonomie sich in Wort und Schrift der in dem betreffenden Gebiet gebräuchlichen Sprache bedienen“. Art 10 des Gesetzes über die Regionale Nationale Autonomie (Law on Regional National Autonomy/LRNA) verfügt, dass diese Organe „die Freiheit der Nationalitäten in diesen Gebieten, ihre eigene Sprache in Wort und Schrift zu verwenden und weiterzuentwickeln, garantieren…“.

Im Einklang mit dem Prinzip der Anerkennung des Tibetischen als Hauptverkehrssprache in den tibetischen Siedlungsgebieten gestattet das LRNA (Art. 36) den autonomen Regierungsbehörden auch, „über die bei der Schulung und beim Eintritt in die Armee zu verwendende Sprache“ je nach Ausbildung zu entscheiden. Damit wird anerkannt, dass Tibetisch das Hauptunterrichtsmedium sein kann.

2) Kultur

Das Konzept der nationalen regionalen Autonomie dient hauptsächlich dem Zweck, die Kultur der nationalen Minderheiten. Folglich enthält die Verfassung der VR China in den Artikeln 22, 47 und 119 Hinweise auf den Erhalt der Kultur, ebenso wie der Art. 38 des LRNA. Für Tibeter ist die tibetische Kultur eng mit unserer Religion, Tradition, Sprache und Identität verbunden, die auf vielerlei Weise bedroht sind. Da die Tibeter in dem multinationalen Staat VR China leben, muss das besondere tibetische kulturelle Erbe durch einschlägige Verfassungsbestimmungen geschützt werden.

3) Religion

Die Religion ist von grundlegender Bedeutung für die Tibeter, der Buddhismus ist eng mit ihrer Identität verbunden. Wir erkennen die Bedeutung der Trennung von Kirche und Staat an, aber dadurch sollte die Freiheit und die Religionsausübung der Gläubigen nicht beeinträchtigt werden. Für die Tibeter ist es unmöglich, sich persönliche oder gemeinschaftliche Freiheit ohne Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit vorzustellen. Auch die Verfassung erkennt die Bedeutung der Religion an und schützt das Recht, sich zu ihr zu bekennen. Art. 36 garantiert allen Bürgern das Recht auf die Freiheit der religiösen Überzeugung. Keiner kann einen anderen zwingen, an eine Religion zu glauben oder nicht zu glauben. Jegliche Diskriminierung aufgrund der Religion ist verboten.

Unter dem Gesichtspunkt internationaler Standards schließt der Verfassungsgrundsatz auch die Freiheit der Glaubens- und Kultausübung ein. Eine solche Freiheit beinhaltet das Recht der Klöster, gemäß der buddhistischen monastischen Tradition organisiert und geleitet zu werden, dass in ihnen gelehrt und studiert werden darf und dass, entsprechend den Regeln, Mönche und Nonnen in beliebiger Zahl und in jeder Altersgruppe aufgenommen werden können. Der Brauch, öffentliche Unterweisungen zu geben und Ermächtigungen großer Gruppen von Gläubigen vorzunehmen, gehört auch zu dieser Freiheit. Der Staat soll sich nicht in religiöse Praktiken und Traditionen einmischen, wie etwa in die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, die Leitung der klösterlichen Institutionen und die Anerkennung von Reinkarnationen.

4) Bildungswesen

Der Wunsch der Tibeter, ihr eigenes Bildungssystem in Zusammenarbeit und in Abstimmung mit dem Bildungsministerium der Zentralregierung zu entwickeln und zu verwalten, findet in den Verfassungsbestimmungen zum Bildungswesen Rückhalt. Das gleiche gilt für das Bestreben der Tibeter, einen Beitrag zur Förderung von Wissenschaft und Technik zu leisten. Erwähnt sei hier auch die wachsende Anerkennung, welche die buddhistische Psychologie, Metaphysik, Kosmologie und die Erforschung der Funktionsweise des menschlichen Geistes in der wissenschaftlichen Welt finden.

Während gemäß Art. 19 der Verfassung der Staat im allgemeinen verantwortlich ist, für die Bildung seiner Bürger zu sorgen, bekennt sich der Art. 119 zu dem Prinzip, dass „die Selbstverwaltungsorgane der nationalen autonomen Gebiete das Erziehungswesen auf ihren jeweiligen Territorien selbständig verwalten…“. Dieser Grundsatz kommt auch in Art. 36 des LRNA zum Ausdruck.

Da nicht eindeutig festgelegt ist, wie weit die Autonomie bei der Entscheidungsfindung geht, sollte hier betont werden, dass die Tibeter, was das Erziehungswesen ihrer eigenen Nationalität betrifft, echte Autonomie ausüben müssen, und das wird auch von den Bestimmungen der Verfassung über Autonomie unterstützt.

Was den Wunsch betrifft, einen Beitrag zur Förderung von Wissenschaft und Technik zu leisten, so erkennen die Verfassung (Art. 119) und das LRNA (Art. 39) eindeutig das Recht der autonomen Gebiete an, Wissenschaft und Technik weiterzuentwickeln.

5) Schutz der Umwelt

Tibet ist das Land, in dem die großen Flüsse Asiens ihren Ursprung nehmen. Es trägt auch die höchsten Berge der Welt und umschließt das weiträumigste und höchstgelegene Plateau der Erde, es ist reich an Bodenschätzen und uralten Wäldern und birgt viele tiefe Täler, die noch unberührt von schädigenden Eingriffen des Menschen sind.

Der Praxis des Umweltschutzes kam die Achtung zugute, die das tibetische Volk traditionell vor allen Formen des Lebens hat und die es untersagte, einem Lebewesen, sei es Mensch oder Tier, Schaden zuzufügen. Tibet war früher ein unberührtes Naturreservat mit einer einzigartigen natürlichen Umwelt.

Heute ist die traditionelle Umwelt Tibets irreparablen Schäden ausgesetzt, deren Auswirkungen sich besonders auf dem Weideland, auf dem Ackerland, in den Wäldern, in den Gewässern und im Wildbestand bemerkbar machen.

Angesichts dieser Tatsache sollte gemäß den Artikeln 45 und 66 des LNRA dem tibetischen Volk das Recht gegeben werden, über seine Umwelt zu entscheiden, und es sollte ihm gestattet werden, seine traditionellen Praktiken der Umwelterhaltung anzuwenden.

6) Nutzung der natürlichen Ressourcen

Bezüglich des Schutzes und des Managements der Umwelt und der Verwendung der natürlichen Ressourcen gestehen die Verfassung und das LRNA den Selbstverwaltungsorganen der autonomen Gebiete nur eine eingeschränkte Rolle zu (siehe LRNA Art. 27, 28, 45, 66 sowie Art. 118 der Verfassung, demzufolge der Staat „die Interessen [der nationalen autonomen Gebiete] in gebührender Weise zu berücksichtigen hat“). Das LRNA erkennt die Bedeutung an, die den autonomen Gebieten beim Schutz und bei der Pflege der Wälder und Graslandschaften (Art. 27) zukommt, und gesteht ihnen zu, der vernünftigen Nutzung und Verwertung der Naturressourcen, zu deren Erschließung die Behörden vor Ort berechtigt sind, Priorität einzuräumen – jedoch nur innerhalb des durch die staatliche Planung und die gesetzlichen Bestimmungen abgesteckten Rahmens. Die zentrale Rolle des Staates in diesen Fragen ist tatsächlich Bestandteil der Verfassung (Art. 9).

Die in der Verfassung formulierten Prinzipien über Autonomie können nach unserer Ansicht die Tibeter nicht zu Herren über ihr eigenes Schicksal machen, wenn sie nicht in ausreichendem Maße am Entscheidungsprozess über die Nutzung der natürlichen Ressourcen wie Bodenschätze, Wasser, Wälder, Berge, Weideland usw. beteiligt werden.

Das Eigentumsrecht am Land ist die Grundlage, auf der die Erschließung der natürlichen Ressourcen, die Erhebung von Steuern und die Einkünfte einer Wirtschaft basieren. Daher ist es wesentlich, dass nur die Nationalität der autonomen Region die gesetzlich verankerte Autorität besitzen darf, Grund und Boden zu übertragen oder zu verpachten, es sei denn, es handle sich um Land in Staatsbesitz. Gleichermaßen sollte die autonome Region so unabhängig sein, dass sie berechtigt ist, parallel zur staatlichen Planung Entwicklungspläne zu erarbeiten und umzusetzen.

7) Wirtschaftliche Entwicklung und Handel

Die wirtschaftliche Entwicklung Tibets wird begrüßt, denn sie ist dringend erforderlich. Das tibetische Volk lebt nach wie vor in einer der wirtschaftlich rückständigsten Regionen der VR China.

Die Verfassung erkennt das Prinzip an, dass die Behörden einer autonomen Region bei der wirtschaftlichen Entwicklung auf ihrem Gebiet unter Berücksichtigung der jeweiligen Gegebenheiten und Erfordernisse vor Ort eine wichtige Rolle spielen dürfen (Art. 118 der Verfassung, Erwähnung auch in Art. 25 des LRNA). Die Verfassung bekennt sich auch zum Prinzip der Autonomie bei der Verwaltung und der Leitung des Finanzwesens (Art. 117 und Art. 32 des LRNA). Gleichzeitig betont sie die Bedeutung, die dem Staat bei der Bereitstellung von Geldern für die autonomen Gebiete und anderweitiger Unterstützung im Hinblick auf eine raschere Entwicklung zukommt (Art. 122, LRNA Art 22).

In ähnlicher Weise erkennt Art. 31 des LRNA die Kompetenz der autonomen Gebiete an, besonders solcher wie Tibet, die an andere Staaten grenzen, Grenzhandel sowie wirtschaftlichen Austausch mit dem Ausland zu betreiben. Die Anerkennung dieser Prinzipien ist wichtig für die tibetische Nationalität, da die Region ja in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Ländern liegt, zu denen die Bewohner Tibets in kultureller, religiöser, ethnischer und wirtschaftlicher Verwandtschaft stehen.

Die von der Zentralregierung und den Provinzen gestellte Hilfeleistung bietet zwar vorübergehende Vorteile, aber auf lange Sicht bringt sie mehr Schaden als Nutzen, wenn das tibetische Volk nicht auf sich selbst gestellt, sondern von anderen abhängig wird. Daher ist es ein wichtiges Ziel der Autonomie, die Tibeter wirtschaftlich autark zu machen.

8) Öffentliche Gesundheit

Die Verfassung besagt, dass der Staat die Verantwortung trägt, die gesundheitliche und medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen (Art. 21). Und in Art. 119 steht, dass dies in den Verantwortungsbereich der autonomen Gebiete fällt. Das LRNA (Art. 40) erkennt auch das Recht der Selbstverwaltungsorgane der autonomen Gebiete an, „unabhängige Entscheidungen über Pläne zur Entwicklung der örtlichen medizinischen und Gesundheitsdienste zu treffen und sowohl die moderne Medizin als auch die traditionellen Heilsysteme der Nationalitäten zu fördern“.

Das bestehende Gesundheitssystem ist nicht in der Lage, den Bedürfnissen der tibetischen Landbevölkerung gerecht zu werden. Gemäß den Bestimmungen der erwähnten Gesetze müssen die regionalen autonomen Organe die Kompetenzen und die Mittel besitzen, die gesundheitlichen Bedürfnisse der gesamten tibetischen Bevölkerung zu erfüllen. Sie müssen auch die Befugnis haben, die traditionelle tibetische Medizin und das Astrosystem in genauer Befolgung der traditionellen Methoden zu fördern.

9) Öffentliche Sicherheit

Was den Sektor der öffentlichen Sicherheit betrifft, so ist es wichtig, dass die Mehrheit der Sicherheitskräfte aus Angehörigen der lokalen Nationalität besteht, weil sie die Gebräuche und Traditionen vor Ort verstehen und respektieren können.

Ein großes Manko in den tibetischen Gebieten ist das Fehlen einer entscheidungsbefugten Staatsmacht in den Händen einheimischer tibetischer Beamter.

Ein wichtiger Aspekt von Autonomie und Selbstverwaltung ist die Verantwortung für die interne öffentliche Ordnung und Sicherheit in den autonomen Gebieten. Die Verfassung (Art. 120) und das LRNA (Art. 24) betonen die Wichtigkeit der lokalen Beteiligung und bevollmächtigen die autonomen Gebiete, ihre Sicherheit im Rahmen „des militärischen Systems des Staates und der praktischen Erfordernisse mit Zustimmung des Staatsrates“ zu organisieren.

10) Regelung der Bevölkerungsmigration

Der grundlegende Zweck der nationalen regionalen Autonomie und Selbstverwaltung ist die Bewahrung der Identität, Kultur, Sprache usw. der nationalen Minderheit und die Gewährleistung, dass sie selbst Herr ihrer eigenen Angelegenheiten ist. Angewandt auf ein bestimmtes Territorium, in dem die nationale Minderheit in einem kompakten Gemeinwesen oder in zusammenhängenden Gemeinschaften lebt, wird das eigentliche Prinzip und der Zweck der nationalen regionalen Autonomie dann missachtet, wenn die Immigration und Ansiedlung in großem Ausmaß der Mehrheitsnationalität der Han und anderer Nationalitäten gefördert wird und erlaubt ist.

Größere demographische Veränderungen, die sich aus einer solchen Migration ergeben, werden sich so auswirken, dass die tibetische Nationalität eher von der Han-Nationalität assimiliert wird statt sich in deren Gesellschaft zu integrieren und dass allmählich die besondere eigene Kultur und Identität der tibetischen Nationalität ausgelöscht werden. Auch verändert der Zustrom großer Massen von Han und anderen Nationalitäten in die tibetischen Gebiete grundlegend die Voraussetzungen, die für die Ausübung regionaler Autonomie erforderlich sind, weil die verfassungsmäßigen Kriterien für die Wahrnehmung der Autonomie – nämlich dass die nationale Minderheit auf einem fest umrissenen Territorium „in kompakten Gemeinschaften lebt“ – durch Zuwanderung und Bevölkerungstransfer verändert und untergraben wird. Wenn derartige Migrationsbewegungen und Ansiedlungsprozesse unkontrolliert weitergehen, werden die Tibeter bald nicht mehr in einem kompakten Gemeinwesen oder zusammenhängenden Gemeinschaften leben und folglich im Sinne der Verfassung zu nationaler regionaler Autonomie nicht mehr berechtigt sein. Das wäre ein direkter Verstoß gegen die Grundsätze der Verfassung zur Behandlung der Nationalitätenfrage.

Es gibt Beispielfälle in der VR China für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder Niederlassung von Bürgern. Die autonomen Gebiete haben nur ein sehr beschränktes Recht, Maßnahmen zur Kontrolle der „mobilen Bevölkerung“ in den betreffenden Gebieten zu treffen. Für uns wäre es von vitalem Interesse, dass die autonomen Selbstverwaltungsorgane die Kompetenz erhalten, in Sachen Wohnrecht, Niederlassung und Beschäftigung sowie den wirtschaftlichen Aktivitäten von Personen, die aus anderen Teilen der VR China in tibetische Gebiete auswandern möchten, Entscheidungen zu treffen, um zu gewährleisten, dass die Ziele des Prinzips der Autonomie respektiert und verwirklicht werden.

Wir haben nicht die Absicht, die Nicht-Tibeter, die sich dauerhaft in Tibet niedergelassen haben und seit langem dort leben und dort aufgewachsen sind, auszuweisen. Unsere Sorge gilt vielmehr der absichtlich herbeigeführten massiven Bevölkerungsbewegung von vorwiegend Han, aber auch einigen anderen Nationalitäten in die tibetischen Siedlungsgebiete, wodurch die bestehenden Gemeinschaften nachhaltig erschüttert werden und die tibetische Bevölkerung marginalisiert wird. Zudem stellt ein solcher Prozess eine massive Bedrohung für die empfindliche natürliche Umwelt dar.

11) Austausch mit anderen Ländern in Kultur, Bildung und Religion

Neben der Wichtigkeit des Austausches und der Kooperation zwischen den Tibetern und den anderen Nationalitäten, Provinzen und Regionen der VR China in den unter Autonomie fallenden Bereichen wie Kultur, Kunst, Bildung, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Sport, Religion, Umwelt, Wirtschaft usw. wird im LRNA (Art. 42) auch das Recht der autonomen Gebiete, einen solchen Austausch mit anderen Staaten zu pflegen, anerkannt.

V. Antrag auf Schaffung einer einzigen administrativen Einheit für die tibetische Nationalität innerhalb der VR China

Damit die tibetische Nationalität mit ihrer einzigartigen Identität, Kultur und spirituellen Tradition durch die Praxis der Selbstverwaltung in den erwähnten grundlegenden Lebensbereichen gedeihen und sich entwickeln kann, sollte die gesamte Gemeinschaft der Tibeter in allen Gebieten, die derzeit von der VR China als tibetische autonome Gebiete klassifiziert sind, einer einzigen administrativen Einheit unterstehen. Die gegenwärtige administrative Aufteilung, gemäß derer die tibetischen Gemeinschaften verschiedenen Provinzen und Regionen der VR China angehören, von denen sie regiert und verwaltet werden, schürt die Fragmentierung, leistet einer ungleichen Entwicklung Vorschub und mindert das Vermögen der tibetischen Nationalität, ihre gemeinsame kulturelle, spirituelle und ethnische Identität zu wahren. Eine solche Politik respektiert nicht die Integrität der Nationalität, sondern fördert ihre Fragmentierung und steht daher im Widerspruch zur eigentlichen Idee der Autonomie. Während andere nationale Minderheiten wie die Uighuren und Mongolen sich fast komplett innerhalb ihrer jeweiligen einheitlichen autonomen Region selbst verwalten, werden die Tibeter so behandelt, als wären sie nicht eine, sondern mehrere nationale Minderheiten.

Das Bestreben, alle Tibeter, die gegenwärtig in den als tibetisch autonom ausgewiesenen Gebieten leben, unter einer einzigen autonomen administrativen Einheit zusammenzufassen, steht in völligem Einklang mit dem in Art. 4 der Verfassung festgeschrieben und auch im LRNA (Art. 21) enthaltenen Grundsatz , dass „die regionale Autonomie in den Gebieten praktiziert wird, wo die Angehörigen einer nationalen Minderheit in geschlossenen Gemeinschaften leben“. Im LRNA wird die regionale nationale Autonomie als „politisches Grundprinzip der Kommunistischen Partei Chinas zur Lösung der nationalen Belange in China“ beschrieben, und ihre Bedeutung und ihr Zweck wird im Vorwort so erklärt:

„Die nationalen Minderheiten unter einheitlicher staatlicher Führung praktizieren die regionale Autonomie in Gebieten, wo sie in kompakten Gemeinschaften leben, und sie richten Selbstverwaltungsorgane zur Ausübung der ihnen durch die Autonomie zuerkannten Vollmachten ein. In der regionalen nationalen Autonomie manifestiert sich die uneingeschränkte Achtung, die der Staat dem Recht der nationalen Minderheiten, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, entgegenbringt, sowie sein Bekenntnis zu den Grundsätzen der Gleichheit, Einheit und des allgemeinen Wohlstands aller Nationalitäten.“

Es besteht kein Zweifel, dass die tibetische Nationalität innerhalb der VR China in der Lage sein wird, von ihrem Recht auf Selbstverwaltung und Regelung ihrer inneren Angelegenheiten wirksam Gebrauch zu machen, wenn sie dazu ein Selbstverwaltungsorgan mit rechtlicher Zuständigkeit über die gesamte tibetische Nationalität besitzt.

Das LRNA erkennt das Prinzip an, dass die Grenzen der nationalen autonomen Gebiete unter Umständen modifiziert werden müssen. Die Notwendigkeit, die grundlegenden Bestimmungen der Verfassung über die regionale Autonomie im Hinblick auf die Wahrung der Integrität der tibetischen Nationalität anzuwenden, ist nicht nur vollkommen legitim, auch verletzen die administrativen Änderungen, die dazu erforderlich sein könnten, in keiner Weise die Grundsätze der Verfassung. Es gibt mehrere Beispielfälle, wo tatsächlich so vorgegangen wurde.

VI. Wesen und Struktur der Autonomie

Der Umfang, in dem das Recht auf Selbstregierung und Selbstverwaltung bezüglich der vorgenannten Themenbereiche wahrgenommen werden kann, ist maßgeblich für den Charakter, den die tibetische Autonomie tragen wird. Die jetzt anstehende Aufgabe ist daher zu untersuchen, wie Autonomie geregelt und praktiziert werden kann, damit sie tatsächlich der einzigartigen Situation und den grundlegenden Erfordernissen der tibetischen Nationalität gerecht wird.

Die Ausübung echter Autonomie würde das Recht der Tibeter beinhalten, ihre eigene regionale Regierung zu bilden, Regierungseinrichtungen zu schaffen und Entwicklungen einzuleiten, die ihren Erfordernissen und ihrer Eigenheit am besten Rechnung tragen. Dazu wäre es notwendig, dass der Volkskongress der autonomen Region die Befugnis bekäme, Gesetze in all jenen Bereichen zu erlassen, die in die Zuständigkeit der Region fallen (d.h. die vorgenannten Themenbereiche), und dass andere Organe der autonomen Regierung bevollmächtigt würden, Entscheidungen autonom zu treffen und umzusetzen. Autonomie beinhaltet auch eine Vertretung der nationalen Minderheit auf nationaler Ebene und ihre sinnvolle Partizipation bei der Entscheidungsfindung in der Zentralregierung. Eine gut funktionierende Konsultation und enge Kooperation der Zentralregierung mit der regionalen Regierung bei Entscheidungsprozessen oder das gemeinsame Fällen von Entscheidungen in Bereichen von gemeinsamem Interesse sind außerdem notwendig, wenn die Autonomie funktionieren soll.

Ein entscheidendes Element echter Autonomie ist die von der Verfassung und anderen Gesetzen vorgesehene Garantie, dass die der autonomen Region übertragenen Rechte und Verantwortlichkeiten nicht einseitig aufgehoben oder abgeändert werden dürfen. Das bedeutet, dass weder die Zentralregierung noch die Regierung der autonomen Region in der Lage sein dürfen, ohne die Zustimmung der jeweils anderen Seite die grundlegenden Merkmale der Autonomie umzugestalten.

Die Parameter und die Besonderheiten einer solchen echten Autonomie für Tibet, die den einzigartigen Erfordernissen und Bedingungen des tibetischen Volkes und der Region wirklich gerecht wird, sollten in Sonderbestimmungen über die Ausübung der Autonomie genau festgelegt werden, so wie es Art. 116 der Verfassung vorsieht (und Art. 19 des LRNA verfügt), oder, falls es als besser erachtet wird, in einem separaten Block von Gesetzen oder Bestimmungen, die zu diesem Zweck verabschiedet werden. Die Verfassung, insbesondere Art. 31, ist flexibel genug, um zu ermöglichen, dass Sondergesetze verabschiedet werden, die besonderen Situationen wie der tibetischen gerecht werden, wobei das etablierte soziale, wirtschaftliche und politische System des Landes respektiert werden muss.

Die Verfassung sieht in Absatz VI Selbstverwaltungsorgane für die nationalen autonomen Regionen vor und räumt ihnen die Befugnis ein, Gesetze zu erlassen. So bezieht sich Art. 116 (verfügt in Art. 19 des LRNA) auf ihre Vollmacht, separate Bestimmungen im Hinblick auf die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenheiten der Nationalität bzw. der Nationalitäten in den betreffenden Gebieten einzuführen. Ähnlich erkennt die Verfassung an, dass die autonomen Verwaltungen in einigen Gebieten (Art. 117–120) und die autonomen Regierungen berechtigt sind, bei der Umsetzung von Gesetzen und politischen Richtlinien der Zentralregierung und der übergeordneten staatlichen Organe Flexibilität walten zu lassen, um den Gegebenheiten der jeweiligen autonomen Gebiete Rechnung zu tragen (Art. 115).

Zwar ist in den genannten gesetzlichen Bestimmungen auch von erheblichen Einschränkungen der Entscheidungsbefugnis der autonomen Regierungsorgane die Rede, aber die Verfassung bekennt sich dennoch zu dem Grundsatz, dass die Selbstverwaltungsorgane Gesetze verabschieden und politische Entscheidungen treffen dürfen, welche die Erfordernisse vor Ort berücksichtigen, und dass diese Entscheidungen von den anderweitig, also auch von der Zentralregierung, getroffenen abweichen können.

Obwohl, wie wir gezeigt haben, die Anliegen der Tibeter im Großen und Ganzen mit den in der Verfassung enthaltenen Grundsätzen über Autonomie im Einklang stehen, wird ihre Verwirklichung verhindert, weil es eine ganze Reihe von Problemen gibt, welche die Umsetzung dieser Grundsätze gegenwärtig äußerst schwierig gestalten oder sie ganz wirkungslos machen.

Die Geltendmachung echter Autonomie setzt beispielsweise eine klare Trennung der Gewalten und Verantwortlichkeiten in den jeweiligen Bereichen zwischen der Zentralregierung und der Regierung der autonomen Region voraus. Gegenwärtig besteht keine Klarheit darüber, wie weit die gesetzgebende Gewalt der autonomen Regionen reicht, die überdies sehr eingeschränkt ist. Während also die Verfassung ausdrücklich will, dass die autonomen Regionen in vielen sie direkt angehenden Bereichen Gesetze erlassen können, verhindert Art. 116 die praktische Umsetzung dieses für die Autonomie so wichtigen Grundsatzes, indem er die vorherige Zustimmung auf höchster Ebene der Zentralregierung, nämlich durch den Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (NPC), verlangt. Faktisch sind es aber nur die autonomen regionalen Kongresse, die ausdrücklich einer solchen Zustimmung bedürfen, während die Kongresse der anderen (nicht autonomen) Provinzen der VR China keine vorhergehende Erlaubnis brauchen und sie den Erlass von neuen Bestimmungen einfach nur dem Ständigen Ausschuss des NPC berichten müssen, damit dieser sie „zu den Akten“ nimmt (Art. 100).

Gemäß Art. 155 der Verfassung unterliegt die Ausübung der Autonomie ferner einer beträchtlichen Zahl von Gesetzen und Vorschriften. Manche Gesetze schränken die Autonomie der autonomen Regionen faktisch ein, während andere nicht immer miteinander vereinbar sind. Das Resultat ist, dass der genaue Umfang der Autonomie unklar und nicht deutlich festgelegt ist: Er kann durch den Erlass von Gesetzen und Bestimmungen auf höheren staatlichen Ebenen und sogar durch einen Wandel in der Politik einseitig geändert werden. Es gibt auch kein geeignetes Verfahren für Konsultationen oder für die Beilegung von Differenzen, die sich zwischen den Organen der Zentralregierung und denen der Regionalregierung bezüglich der Reichweite und der Ausübung der Autonomie ergeben könnten. In der Praxis schränkt die daraus resultierende Unsicherheit die Regionalbehörden in ihrem Handeln ein und verhindert, dass die Tibeter heute echte Autonomie ausüben können.

Wir wollen in diesem Stadium nicht ins Detail gehen bezüglich dieser oder jener Hindernisse, die der Ausübung echter Autonomie durch die Tibeter im Wege stehen, wir erwähnen sie nur, damit dieser Problemkomplex bei unseren Gesprächen in Zukunft in angemessener Weise angegangen werden kann. Wir werden mit unserem Studium der Verfassung und anderer relevanter gesetzlicher Bestimmungen fortfahren und zu einem geeigneten Zeitpunkt gern eine weitere Analyse dieser Themen vorlegen, so wie wir sie verstehen.

VII. Der Weg in die Zukunft

Wie wir zu Beginn dieses Memorandums erklärt haben, wollen wir prüfen, wie die Bedürfnisse der tibetischen Nationalität innerhalb des von der VR China gesetzten Rahmens erfüllt werden können, denn wir sind überzeugt, dass diese Bedürfnisse mit den Grundsätzen der Verfassung über Autonomie durchaus vereinbar sind. Wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama bei mehreren Gelegenheiten sagte, haben wir keine Hintergedanken. Es liegt nicht in unserer Absicht, ein etwaiges Abkommen über echte Autonomie als Sprungbrett für eine Abtrennung von der VR China zu nutzen.

Die Tibetische Regierung-im-Exil hat das Ziel, die Interessen des tibetischen Volkes zu vertreten und in seinem Namen zu sprechen. Daher wird sie nicht länger gebraucht und aufgelöst werden, sobald eine Übereinkunft zwischen uns zustande gekommen ist. In der Tat hat Seine Heiligkeit wiederholt seine Entscheidung betont, zu keinem Zeitpunkt in Zukunft jemals ein politisches Amt in Tibet zu übernehmen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama beabsichtigt jedoch seinen ganzen persönlichen Einfluss geltend machen um sicherzustellen, dass ein solches Abkommen die notwendige Legitimität besitzt, um die Unterstützung des tibetischen Volkes zu erhalten.

Angesichts der von uns eingegangenen festen Verpflichtungen schlagen wir vor, dass der nächste Schritt in diesem Prozess die Übereinkunft wäre, ernsthafte Gespräche über die in diesem Memorandum vorgebrachten Punkte zu führen. Zu diesem Zweck schlagen wir vor, dass wir uns nach Absprache auf einen für beide Seiten akzeptablen Mechanismus oder Mechanismen sowie auf einen zeitlichen Rahmen einigen, der eine effektive Arbeit gewährleistet.

(Der tibetische Originaltext wurde ins Englische übersetzt, das wiederum der hier vorliegenden Übersetzung ins Deutsche zugrunde lag.)