8. Juni 2013
High Peaks Pure Earth, www.highpeackspureearth.com

2012 - „Die Kraft des Herzens”, von Woeser

High Peaks Pure Earth übersetzte ein Blog, das Woeser Ende 2012 schrieb. Dieser Rückblick auf das Jahr 2012 bietet, wenn auch die Ereignisse einige Monate zurückliegen, immer noch eine bewegende Lektüre. Viele der Fälle des Verschwindenlassens und der Inhaftierung, die Woeser erwähnt, sind leider noch ganz aktuell.

In der Geschichte Tibets, besonders in der modernen Geschichte, gab es wahrscheinlich niemals ein Jahr wie 2012: Ein Jahr, in dem die Tibeter in der ganzen Region, in Städten und Dörfern, ihre Körper in Flammen auflodern ließen. Im Jahre 2012 – ausländische Medien sprachen von „Tibet in Flammen“ – verbrannten sich 85 Tibeter, 84 in Tibet und einer, der in Indien im Exil lebte.

Über diesem Bild steht auf Tibetisch: Die "Helden und Heldinnen", die sich für die Freiheit Tibets und die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet in Brand setzten

In der Tat standen in jedem Monat einige menschliche Körper in Flammen. Die Höchstzahl verzeichnete der November: 28 Männer und Frauen, Junge und Alte, Mönche und Hirten, verbrannten sich. Danach kommt der März, als sich 11 Tibeter im Feuer opferten, darunter 6 Mönche und die Eltern eines Mittelschülers. Warum waren diese beiden Monate ganz besonders schlimm? Das ist so, weil diese beiden „heikle Monate“ waren, wie man heutzutage in China zu sagen pflegt.

Um es noch einmal deutlich zu machen, der März ist ein „empfindlicher Monat“ in der tibetischen Geschichte: Der 5. März ist beispielsweise ein Tag, der an die Unterdrückung der Demonstrationen von 1989 erinnert; der 10. März wird in Erinnerung an den tibetischen Volksaufstand 1959 begangen; der 14. März ist der fünfte Jahrestag der Protestaktionen von 2008; der 16. März ist ein Gedenktag an die Demonstranten in Ngaba, die 2008 niedergeschossen wurden; und der 28. März ist der von der chinesischen Regierung 2009 eingeführte „Sklavenbefreiungstag“. Über die Jahrzehnte hinweg wird der März jedes Jahr als ein „heikler Monat“ behandelt, während dessen die Besatzer übervorsichtig sind, und die Besetzten Widerstand leisten.

Und der November war ein heikler Monat wegen des 18. Parteikongresses. Zwei Tage vor dem Beginn des Parteikongresses, am Tag seiner Eröffnung und während der sieben Tage, an denen die Sitzungen stattfanden, verbrannten sich die Menschen in Tibet, so daß es an einem Tag sogar neun geworden sind. Das zeigt deutlich, daß die Selbstverbrennungen eine Art von politischem Widerstand sind. Das Sprachrohr der Partei und die offiziellen Medien ließen den 18. Parteikongreß jedoch bei ihrer Reaktion auf die Selbstverbrennungen gänzlich unerwähnt und behaupteten statt dessen andauernd, daß die Selbstverbrennungen mit der „Zweiten Allgemeinen Sonderversammlung des Tibetischen Volkes“, die im September in Dharamsala vonstatten ging, im Zusammenhang stünden. Damit unterstellten sie, daß die Reihe der Selbstverbrennungen durch „die Machenschaften der Dalai Clique ausgelöst“ wurde.

Obendrein log bei der Pressekonferenz zum 18. Parteikongreß ein hoher Funktionär der TAR ohne mit der Wimper zu zucken: „Die Leute sagen, Tibet brenne gegenwärtig, aber ich widerspreche dem: Das ist nicht so, denn die Selbstverbrennungen wurden einfach nach Tibet importiert“. Hier liegt eine Vertuschung der Tatsachen und ein durchtriebenes Wortspiel vor: Der Name Tibet, der doch in Wirklichkeit Amdo, U-Tsang und Kham beinhaltet, wird hier auf die TAR reduziert. Damit wollte er sagen, daß die Selbstverbrennungen, die in anderen Teilen geschahen, gar nicht zählen. Obwohl es dort zu so vielen Fällen kam, hatten diese nichts mit „meiner TAR“ zu tun, wollte er wohl sagen. Doch sogar in der TAR ereigneten sich sieben Fälle, fünf davon in den Kreisen Chamdo, Damshung und Driru, und es waren alles Bauern und Hirten.

Es gibt ein englisches Freiheitslied, das seit vielen Jahren die Runde macht, es ist sozusagen auch eine lyrische Schilderung von „Tibet brennt“. An einem Punkt lauten die Worte: „Du kannst wohl eine Kerze ausblasen, aber Du kannst kein Feuer ausblasen; denn wenn die Flammen zu lodern beginnen, wird der Wind sie höher und höher hinaufblasen“.

Ich besuchte bis auf drei all die Orte (Ngaba, Barkham, Tsoe, Dzamthang, Tawo, Kardze, Dartsedo, Serthar, Lhasa, Chamdo, Damshung, Nagchu, Driru, Darlag, Pema, Rebgong, Chentsa, Tseku, Yushu, Trindu, Themchen, Xunhua Salazu, Hezuo, Sangchu, Machu, Luchu), wo sich bisher 97 Menschen selbst verbrannten. Überall habe ich Freunde und Bekannte und selbst, wenn ich zuerst dort niemanden kannte, so war mir doch, sobald ich Bekanntschaft mit ihnen schloß, als ob ich einen Verwandten aus meiner Heimatstadt träfe. Das ist es, warum das Gefühl des Schmerzes so tief geht. Das einzige, was ich tun kann, ist jede einzelne Person, die sich selbst verbrannte, zu erfassen und sie mir in mein Gedächtnis einzuprägen.

Letztes Jahr geschahen zu viele Dinge. Zu viele tibetische Schriftsteller wurden drangsaliert, verhaftet, verurteilt, verschwanden wegen Aufsätzen, die sie veröffentlicht und in Umlauf gebracht hatten. Es sind dies: Kelsang Tsultrim (aus Sangchu), Gangkye Drugpa Kyab (aus Serthar), Dawa Dorje (aus Deru) Tsering Norbu (aus Palyul) usw.

Außerdem wurden viele tibetische Volkskünstler, die ihre Gefühle und Gedanken über das tibetische Volk durch ihre Darbietungen zum Ausdruck brachten, festgenommen, verurteilt oder sie verschwanden. Diese sind Choegon (aus Jomda), Adak (aus Lithang), Ugyen Tenzin (aus Nangchen), Lolo (aus Yushu), Phuljung (aus Kakhok), Choesar (aus Driru), Sogtrug Sherab (aus Henan in der Provinz Qinghai).

Weiterhin wurden viele einflußreiche und hochgestellte Mönche und Nonnen aus dem gesamten tibetischen Hochland festgenommen oder sie verschwanden: Lama Jigme und Lama Golog Jigme aus dem Kloster Labrang im Bezirk Sangchu, Khenpo Lodoe Rabsal und Khenpo Namsel Sonam aus dem Kloster Karma im Bezirk Chamdo, die Nonne Chimey aus dem Bezirk Kardze, sowie viele Mönche aus dem Kloster Drepung in Lhasa. Diese Liste könnte man noch viel länger fortsetzen.

Tibet hat dafür eine Metapher: „die Kraft des Herzens“ (1). Die aufgezählten Söhne und Töchter Tibets sind es, die alle zu seinem „Innersten des Herzens“ gehören. Deshalb will Tibet mitten in all diesem Elend nicht aufgeben.

Geschrieben zwischen 27. Dezember 2012 und 1. Januar 2013

(1) Tibetisch: Nying Rü (wörtlich Herz-Knochen)

Jigme Gyatso (Guri) aus dem Kloster Labrang im Bezirk Sangchu, Präfektur Kanlho, Provinz Gansu, wurde am 20. August 2011 zum vierten Male verhaftet. Wie verlautet, ist ein Urteil über ihn ergangen, doch die Strafe und das Gefängnis, in dem er eingesperrt ist, bleiben unbekannt.
Jigme Gyatso aus dem Kloster Labrang im Bezirk Sangchu, Präfektur Kanlho, Provinz Gansu, wurde zweimal festgenommen und gefoltert. Er verschwand im September 2012. Am 28. November 2012 gab das Public Security Bureau der Präfektur Kanlho einen Fahnungsbefehl heraus, in dem Jigme Gyatso ein Mord unterstellt wird. Für Hinweise auf seinen Aufenthaltsort wird darin eine Summe von 200.000 RMB ausgesetzt.
Lodoe Rabsal aus dem Kloster Karma im Bezirk Chamdo, Präfektur Chamdo, TAR, wurde festgenommen, während er in einer fernen Bergeshöhle in der Abgeschiedenheit seiner religiösen Praxis nachging. Bis zum heutigen Tag sitzt er im Gefängnis Chamdo hinter Gittern, ob er bereits insgeheim verurteilt wurde oder nicht, bleibt unbekannt.

Khenpo Namsel Sonam aus dem Kloster Karma im Bezirk Chamdo wurde am 28. Januar 2012 festgenommen. Er befindet sich immer noch in dem Gefängnis von Chamdo, und niemand weiß, ob er schon insgeheim verurteilt wurde oder nicht.

Die Ärztin Chimey aus dem Kloster Langda im Bezirk Kardze, Präfektur Kardze, Provinz Sichuan.
Kelsang Tsultrim (Autorennamen Gyitsang Takmik) aus dem Bezirk Sangchu, Präfektur Kanlho, Provinz Gansu, wurde am 30. Dezember 2011 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Bekannt ist sein Buch „Dem Menschenreich gewidmete Liebe“, sowie seine DVD mit dem Titel „Bericht über den Mangel an Freiheit in Tibet“.
Der Schriftsteller und Lehrer Gangkye Drubpa Kyab (Autorennamen Gang Mai Da) aus dem Bezirk Serthar, Präfektur Kardze, Provinz Sichuan, wurde am 15. Februar 2012 festgenommen. Seither gibt es keine Nachricht über ihn. „Der Ruf des Schicksals“, „Der Schmerz dieser Ära“, „Die heutige Schmerzensträne“, „Die im Wandel begriffenen Jahre“, sind alles seine Werke. Außerdem schrieb er Geschichten, Essays, Kommentare, Gedichte und war Herausgeber der tibetischen Zeitschrift „Khata“.
Der Schriftsteller Dawa Dorje aus dem Bezirk Driru, Präfektur Nagchu, TAR, wurde am 31. Februar 2012 festgenommen, und immer noch ist seine Lage unbekannt. Er ist der Autor einer Reihe von allegorischen Gedichten. Außerdem gab er das tibetische Magazin „Straße“ heraus, das in gebildeten Kreisen im Bezirk Driru gerne gelesen wurde. Er machte seinen Studienabschluß an der tibetischen Fakultät der Tibet-Universität in Lhasa und arbeitete später in einer Staatsanwaltskanzlei im Bezirk Nyenrong, Präfektur Nagchu.

Im März 2012 wurden auch noch andere Personen in Driru festgenommen: Der Schriftsteller und ehemalige Chef des tibetischen Bezirkskrankenhauses Ugyen Tenzin. Der Autor und Katarakt-Chirurg Sonam Damdul, der in Lhasa wohnte, wo er die Lhasa Tibetan Medical School abgeschlossen hatte. Der in Lhasa ansässige Schriftsteller Tenzin Thake, der mehrere Schulen im Bezirk Driru, in Lhasa und an anderen Orten betreute. Der Lehrer Mari Pasang aus dem Bezirk Driru, der zuvor zahlreiche Diskussionsforen veranstaltet hatte. Er studierte früher an der Buddhistischen Universität von Larung Gar.

Der Sänger Choegon aus dem Bezirk Jomda, Präfektur Chamdo, TAR, wurde am 25. Oktober 2012 festgenommen, seine derzeitige Lage bleibt unbekannt.
Der Sänger Lolo aus dem Bezirk Trindu, Präfektur Yushu, Provinz Qinghai, wurde am 19. April 2012 festgenommen, weil er ein Musikalbum mit dem Titel „Erhebet die tibetische Flagge Ihr Kinder des Schneelandes“ herausgegeben hatte. Seine jetzige Lage ist unbekannt.
Der Sänger Phuljung aus dem Bezirk Kakhok, Präfektur Ngaba, Provinz Sichuan, wurde am 8. Mai 2012 festgenommen wegen seines fünften Musikalbums, das ein Loblied auf Seine Heiligkeit den Dalai Lama und Lobsang Sangay von der Tibetischen Zentralverwaltung enthielt. Seine derzeitige Lage ist unbekannt.
Der Sänger Choesar aus dem Bezirk Driru, Präfektur Nagchu, TAR, wurde Ende Juli 2012 festgenommen wegen seiner Liedersammlungen: „Der Traum der Söhne und Töchter des Schneelandes“, „Die Pflicht unserer Landsleute“, „Das Fühlen unserer Landsleute“, „Der Sohn des Schneelandes“. In diesen Werken rühmte er das tibetische Volk, betete für die Gesundheit und ein langes Leben Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, ersuchte die Lokalbehörden den 11. Panchen Lama freizulassen und ermutigte alle jungen Tibeter, einträchtig zu sein und die eigene Kultur zu pflegen. Seine derzeitige Lage bleibt unbekannt.
Der darstellende Künstler Sogtrug Sherab aus dem Bezirk Henan, Präfektur Malho, Provinz Qinghai, wurde am 20. September 2012 festgenommen, vermutlich weil er kurze Satiren aufführte, welche die gegenwärtige schlimme Lage in Tibet widerspiegelten, und weil er ethnisch-tibetische Lieder sang. Seine derzeitige Lage bleibt unbekannt.