23. November 2011
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„Das prachtvolle Kloster Dzogchen“ von Woeser

In der Reihe von Beiträgen rund um Woesers Sommerreise nach Lhasa durch Amdo und Kham folgt der nachstehende dem Titel „Das Kloster Sershül in den vergangenen Jahren“. In diesem Beitrag spricht Woeser die Umweltzerstörung in Kham an und beschreibt all die Attribute, die das restaurierte Kloster Dzogchen so „prachtvoll“ machen. Der nächste Beitrag in dieser Reihe wird von Woesers Eindrücken bei der Ankunft in Lhasa handeln.  

In der Nacht, ehe wir das Kloster Dzogchen besuchten, kampierten wir draußen auf dem Grasland. Der Ort, an dem wir uns aufhielten, gehört zum Bezirk Derge, was auch die Heimat meines verstorbenen Vaters ist, so dass ich von einem Gefühl von Wohlwollen, gemischt mit etwas Traurigkeit erfüllt wurde. Als jemand, der in Tibet bereits viel herumgereist ist, denke ich immer, wenn ich auf dem Gras sitze, dem leisen Gemurmel des vorbeifließenden Flusses lausche und zusehe, wie die Wolken sich röten und wieder verdunkeln, dass Tibet der schönste Ort der Welt ist; doch die nackten Stellen auf den grünen Bergen sind eindeutig ein Zeugnis für die Zerstörung der Waldressourcen.

Vor 10 Jahren traf ich auf meinem Weg zum Kloster Pelpung auf Wanderarbeiter, die im Übermaß Bäume fällten. Über den Hang verstreut lagen Hunderte von Baumstämmen, und sie stapelten sich unten in der Schlucht. In den Bergen und Feldern hallten die Geräusche von Äxten und Beilen wider, vermischt mit dem Gebrüll der Arbeiter. Ich folgte dem Lärm bergauf und machte ein paar Bilder und wurde beinahe von einem Holzklotz überrollt, den ein Arbeiter absichtlich losgetreten hatte. Zu der Zeit hörte ich auch, wie ein Reporter von Xinhua sagte, da der Baumbestand im Bezirk Drango in der Präfektur Kardze schon beinahe erschöpft und die Berghänge völlig kahl seien, wäre es die einzige Option, die lokale Forstwirtschaft sofort aufzulösen.

Im ländlichen Tibet zu zelten, ist eine sehr angenehme Erfahrung. Und obwohl es mitten in der Nacht heftig zu regnen begann und wir uns alle zum Schlafen in unser Auto zwängen mussten, ließ uns, sobald die Sonne aufging, die offene und freundliche Landschaft, als dem besonderen Merkmal des tibetischen Hochlandes, die Luft frisch und rein erscheinen – vermischt mit dem Duft von Weihrauch und Tsampa, so dass man gar nicht anders konnte, als sich glücklich und entspannt zu fühlen. Dann machten wir uns auf den Weg zu dem berühmten, großartigen Nyingma-Kloster, dem Kloster Dzogchen. 

Ich brauche nicht, wie es die Touristen sonst tun, über die Erfahrungen sprechen, die ich beim mehrmaligen Besuch des Klosters Dzogchen gemacht habe, aber ich muss sagen, dass mein erster Besuch der schönste war. Als ich sah, wie Mönchsschüler in die Sutras und Schriften eintauchten, als ich in die buddhistische Halle eintrat, die nach den Katastrophen der Kulturrevolution wieder aufgebaut worden war, kam es mir vor, als beobachtete ich eine Szene, die Sogyal Rinpoche im „Tibetischen Buch vom Leben und Sterben“ schilderte: Der vollendete Patrul Rinpoche liegt auf dem Berggipfel hinter dem Kloster Dzogchen, zeigt auf die Sterne, die am ganzen Himmel flimmern und funkeln, und fragt seinen Mönchsschüler, ob er sie gesehen habe – der Mönchsschüler war sogleich erleuchtet.

Das Kloster Dzogchen ist im Laufe der letzten zehn Jahre offensichtlich immer prachtvoller geworden. Als ich es mit eigenen Augen wiedersah, waren die Große Schriften-Halle und andere buddhistische Hallen im Übermaß ausgeschmückt, aber die dafür verwendeten Baumaterialien unterschieden sich völlig von den traditionellen Materialien für Tempel. Beispielsweise war Keramik als Bodenbelag verwendet worden, und es gab Fenstergestänge mit Aluminiumlegierungen, Wandlampen im westlichen Stil, chinesische Türschlösser, aus Marmor geformte Geländer, und die senkrecht von den Wänden hängenden Banner ähnelten chinesischen Paarreimen; auf ihren beiden Seiten waren buddhistische Worte in chinesischer und tibetischer Schrift geschrieben. Was den mehrschichtigen goldenen Dachaufbau und jedes seiner goldenen Banner und die nach oben gerichteten Dachvorsprünge in Form von Drachenköpfen angeht, gleichgültig ob sie nun aus Gold oder Kupfer waren, so konnte man schon von weitem sehen, dass sie üppig poliert worden waren.

Ein prominenter tibetischer Rinpoche sagte zu mir, dass im gleichen Maße wie die Leute heute für die Gestaltung ihrer Häuser vorzugsweise populäre Baumaterialien, wie Stahlbeton, Keramik, Aluminium, etc. verwendeten, die Tempel, Schriften- und buddhistischen Hallen ebenso saniert werden, während die traditionellen Bautechniken und -stile aufgegeben werden. Er habe immer angenommen, das dies eine Art von Einbindung in die moderne Gesellschaft sei, aber die Folge war, wie wir an dem Erdbeben in Yushu im vergangenen Jahr sehen konnten, dass die Gebäude, die einstürzten und auseinanderfielen, diese neuen waren; die Tempel und buddhistischen Hallen hingegen, die in den 1980ern mit traditionellen Materialien wieder aufgebaut worden waren, hielten stand.

Ich erinnere mich noch an den Sommer von 2004, als ein chinesischer Freund von mir, ein buddhistischer Laie, mit einem einflussreichen chinesischen buddhistischem Lama zum Dzogchen Kloster reiste, um an der großen Eröffnungszeremonie der Schriften-Halle teilzunehmen, aber mein Freund war eher enttäuscht. Es heißt, die Zeremonie habe einer staatlichen Veranstaltung geglichen, bei der ein Band durchgeschnitten und ein Feuerwerk gezündet wurden, und bei der die Rinpoches, in gleicher Weise wie die  Parteibonzen, nacheinander auf die Bühne traten und Reden schwangen; es scheint, als seien auch sie von der Arbeitsweise der Bürokratie angesteckt worden. Die beiden chinesischen Buddhisten reisten eilig ab und fanden ihre Reise nur lohnenswert, als sie das buddhistische Institut Serthar Larung Gar besuchten.

Früher trug mir einmal in Lhasa ein wandernder Lama ein Gedicht vor, das er selbst geschrieben hatte: „Das Äußere der Gebäude ist durch die reichhaltige Verzierung mit wertvollen Attributen wunderschön herausgeputzt worden, aber dem Inneren fehlt die heilige Schatzvase. Es ist diese Art von Gebäuden, die ich nicht mag; ihr Äußeres ist mit Gold und Silber wunderschön gestaltet worden, dem Inneren der Tempel aber fehlt der liebliche Hauch des Dharma – es ist diese Art von Gebäuden, die ich nicht mag.“

Lhasa, 4. September 2011

Bilder von Woesers Blog Seite http://woeser.middle-way.net/