18. Juli 2012
Tibetan Political Review, http://www.tibetanpoliticalreview.org/articles

Meine Sicht der Dinge: Warum der Dalai Lama die Selbstverbrennungen nicht verurteilen kann

Von Tenzin Dorjee, dem Vorsitzenden von Students for a Free Tibet

Ursprünglich eine Antwort auf einen Beitrag von Stephen Prothero bei CNN Belief Blog.

In einer krassen Darbietung moralischer Blindheit gibt Stephen Prothero in seinem Blog dem Opfer die Schuld statt dem Schläger.

Die Tibeter sitzen in einem der letzten noch übrig gebliebenen, ganz besonders brutalen kolonialen Besatzungsregime fest. Von diesem Blickwinkel aus sollten wir die Selbstverbrennungen in erster Linie betrachten.

(Bildquelle: Woesers Blog)

Seit 2009 haben sich mindestens 44 Tibeter - Mönche, Nonnen und Laien - aus Protest gegen Chinas Gewaltherrschaft in Brand gesetzt, 39 davon alleine dieses Jahr. Ein jeder dieser Verzweiflungsakte ist das direkte Resultat der systematischen Angriffe Chinas auf die Lebensweise der Tibeter, auf ihre Bewegungsfreiheit, ihre Redefreiheit, ihre Religion und ihre Identität.

Statt mit Racheakten auf Chinas Unterdrückung zu reagieren - ein Weg, der dem menschlichen Urinstinkt sehr viel mehr entspräche - wählten die Tibeter ein friedlicheres Mittel. Ohne einem einzigen Chinesen ein Haar zu krümmen, geben sie ihre eigenen Körper den Flammen preis, um ein Licht auf die Grausamkeiten zu werfen, die in ihrem Heimatlande verübt werden. Sie opfern ihr eigenes Leben nicht im Namen von „Gott“ oder „Buddha“, wie Prothero so wegwerfend argumentiert, sondern in der altruistischen Absicht, der Welt das Leiden ihres Volkes ins Bewußtsein zu bringen.

Indem er fordert, daß der Dalai Lama diese Personen, die ein uns unvorstellbares Mitgefühl manifestierten, verurteile, legt Mr. Prothero eine kolossale Gleichgültigkeit gegenüber dem Mut und den Umständen jener an den Tag, die für eben die demokratischen Freiheits- und Menschenrechte kämpfen, die er selbst genießt.

Wie kann der Dalai Lama diejenigen, die sich selbst anzündeten, verurteilen, wo ihre Motivation doch so offensichtlich selbstlos ist und ihr Vorgehen gewaltlos? Hätte man denn von Gandhi erwartet, daß er die Aktivisten verurteilte, die im indischen Freiheitskampf getötet wurden, als sie sich auf die Straße legten, um den britischen Polizei-Lastwagen den Weg zu versperren? Oder die Hungerstreikenden, die sich zu Tode hungerten, um gegen die Ungerechtigkeiten der britischen Herrschaft in Indien zu protestieren?

In jeder Hinsicht ist es die chinesischen Staatsführung und nicht der Dalai Lama, die für die Selbstverbrennungen in Tibet verantwortlich ist. Sie hat die Macht, die Spannungen abzubauen, die Restriktionen aufzuheben und damit den Selbstverbrennungen über Nacht ein Ende zu setzen. Aber statt eine dauerhafte Lösung für die Tibet-Frage zu suchen, verschlimmert sie die Lage noch, indem sie die Repression verstärkt.

Keiner fühlt sich durch die Selbstverbrennungen mehr gepeinigt als der Dalai Lama, dessen Bindungen an das tibetische Volk viel tiefer gehen, als man es in Worten ausdrücken kann. In der Tat ist es dem außergewöhnlich mäßigenden Einfluß des Dalai Lama zu verdanken, daß die Bewegung bislang gewaltlos geblieben ist.

Als universale Friedensikone, die er ist, reicht der Einfluß des Dalai Lama weit über die buddhistische Welt hinaus. Dennoch ist seine moralische Autorität nicht unerschöpflich. Es gibt ein unsichtbares moralisches Band, mit dem der Dalai Lama die Tibeter vier Jahrzehnte lang der Gewaltlosigkeit verpflichtet hat. Aber dieses Band nützt sich in dem Maße ab, in dem Chinas eskalierende Tyrannei die Tibeter in die Enge treibt.

Selbstverbrennung, die als eine Taktik aus jahrzehntelanger Unterdrückung hervorging, stellt den endgültig letzten Punkt in der Skala des gewaltlosen Widerstands dar. Wenn ihnen dieser letzte noch verbleibende Spielraum, sich Ausdruck zu verschaffen - wie drastisch dies auch sein mag - weggenommen wird, dann könnte das Band schnell zerreißen. Die Folge davon wäre Chaos, was die Gefahr eines regelrechten ethnischen Konflikts ungeheuer steigern würde, der sich dann noch nicht einmal mehr durch das moralische Potential des Dalai Lama stoppen ließe.

Von allen Anschuldigungen Protheros ist die beleidigendste sein Vergleich der Selbstverbrennungen mit Sati - einem sozialen Ritus im alten Indien, wo Witwen angehalten wurden, sich in den Scheiterhaufen ihres verstorbenen Gatten zu stürzen. Selbstverbrennung - als ein politischer Vernunftakt - steht Sati, einem blinden Akt des Aberglaubens, diametral gegenüber.

Es gibt keinen einzigen Fall von tibetischer Selbstverbrennung, der durch sozialen Druck oder religiösen Zwang hergerufen worden wäre. Jeder derartige Vorfall, unerwartet wie er kommt, erschüttert die Nation, die Gemeinschaft, ganz zu schweigen von der Familie, bis in ihre Grundfesten. Jeder Tibeter betet in seinem Herzen, daß der jüngste Vorfall der letzte gewesen sein möge.

Das Bild einer von Flammen umtobten Gestalt ist schockierend, oftmals abstoßend für Menschen, die in der freien Welt leben. Mit all unserer Versessenheit auf Gewaltfilme, plastisch-grausame Video-Spiele und die Live-Berichterstattung von Kriegen zerreißt es uns immer noch das Herz, wenn wir ein menschliches Wesen in Flammen sehen.

Statt uns in philosophischen Erörterungen über die Moralität der Selbstverbrennung zu ergehen, sollten wir diese Taten als das sehen, was sie wirklich sind: dringende Hilferufe eines Volkes, das durch Jahrzehnte skrupelloser Unterdrückung an den Rand des Abgrunds gebracht wurde.

Man kann nur hoffen, daß sich die meisten Leute der eigentlichen und akuten Frage bewußt sind: Wie können wir auf diesen Hilferuf antworten?

Die in dieser Stellungnahme geäußerten Auffassungen sind allein die von Tenzin Dorjee.