13. September 2012
High Peaks Pure Earth, http://www.highpeakspureearth.com/

Lhasa: Ein neuer „Ort der Rassentrennung“ - von Woeser

Dies ist der dritte Artikel von Woeser, der von den Folgen der Selbstverbrennungen in Lhasa, als sich am 27. Mai 2012 zwei Tibeter in Flammen setzten, handelt. Davor schrieb sie: „Saga Dawa in Flames“ und „Fire Extinguishers and Apartheid“. Die Bilder sind von der Seite Sina Weibo [Sina Weibo ist der Name des größten chinesischen Mikroblogging-Dienstes].


Lhasa ist zu einem „Gebiet der Rassentrennung“ verkommen

Abgesehen von den bereits bestehenden Checkpoints rund um den Potala-Palast, in der Altstadt von Lhasa und in den Klöstern, sind nun auf verschiedenen Ebenen Sicherheitsposten eingerichtet worden, wie etwa an Flugplätzen, Bahnhöfen und Schnellstraßen. Leute von auswärts, die nicht alle vorgeschriebenen Arten von Dokumenten und Papieren besitzen, „können Lhasa nicht betreten, es sei denn sie haben Flügel“, wie ein han-chinesischer Tourist es ausdrückte.

All das hängt mit dem 27. Mai zusammen, als zwei Amdo-Tibeter sich in Lhasa selbst verbrannten. In der Folge haben die Lokalbehörden „Inspektionen“ und die Säuberung von Tibetern im großem Umfang vorgenommen, nicht nur von Tibetern aus den Provinzen Gansu, Qinghai, Sichuan oder Yunnan, sondern auch von solchen aus den Gegenden von Chamdo, Nagchu, Shigatse, Ngari, Nyingtri, die alle unter das Territorium der TAR fallen.

Sogar Tibeter aus den sieben von der Stadt Lhasa verwalteten Kreisen (Damzhung, Tolung Dechen, Chushur, Meldro Gungkar, Taktse, Nyemo und Lhundrup), die seit Jahren in Lhasa ansässig sind, die eine Wohnung besitzen, dort arbeiten, Kinder haben, die zur Schule gehen, usw., müssen sich jetzt eiligst um eine temporäre Wohnerlaubnis bemühen. Und wenn sie keine bekommen, müssen sie an ihre Geburtsorte zurückkehren. Die sieben von Lhasa verwalteten Kreise gehören aus offizieller Sicht nämlich nicht zu Lhasa.

Kurz gesagt, muß ein jeder, der nicht in Lhasa wohnhaft ist, aber die Stadt betreten möchte, eine Menge von Prozeduren über sich ergehen lassen, andernfalls wird er festgenommen und an den Geburtsort zurückgeschickt. Man hörte, daß gewöhnliche Leute fünferlei Dokumente benötigen: 1. Eine Kopie aller relevanten Papiere und Garantien des Hotels oder des Vermieters. 2. Ein von dem Nachbarschafts-Komitee am Ort ausgestelltes Zertifikat. 3. Den hukou (Haushalts-Registrierung) und ein Empfehlungsschreiben der Behörden des Geburtsorts, einschließlich eines Führungszeugnisses. 4. Einen Personalausweis. 5. Eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung für Lhasa. Buddhistische Mönche und Nonnen benötigen außerdem ein monastisches Zertifikat. Abgesehen von dem Personalausweis und dem monastischen Zertifikat ist es außerordentlich schwierig, sich auch nur eines der genannten Dokumente zu beschaffen.

Wenn man jedoch kein Tibeter ist, kann man ohne irgendwelche Probleme mit dem Flugzeug, dem Zug, dem Auto, dem Fahrrad anreisen oder sogar zu Fuß nach Lhasa gehen. Natürlich wird Leuten aus anderen Ländern als China bereits indirekt die Einreise nach Tibet verweigert.

Wenn man bei Weibo nach „Lhasa“ sucht, dann wird man geradezu von Chinesen aus verschiedenen Gegenden überfallen, die unbeschwert zum Vergnügen nach Lhasa reisen. Besonders populär ist ein kleiner Hund, der „xiao sa“ genannt wird, weil er sich einigen chinesischen Radfahrern auf halber Strecke nach Lhasa anhängte und ihnen die ganze Strecke bis zu der Stadt nachlief. Deshalb schrieben dann auch einige Tibeter eine beißende Bemerkung in Weibo: „Lhasa heißt Dich willkommen, aber Tibeter heißt es nicht willkommen“.

In der Tat geben der Barkhor und die Altstadt von Lhasa bereits ein trauriges aber schrilles Schauspiel ab. Die aufgeregten chinesischen Touristen kommen alle, um ein Spektakel zu erleben, ebenso wie aus dem vom Erdbeben heimgesuchten Katastrophengebiet eine Tourismus-Region gemacht wurde, die jetzt von perversen Touristen aufgesucht wird, die dem „Katastrophen-Tourismus“ frönen. Die Militärpolizei, die überall gegenwärtig ist, hat eine Hauptrolle in diesem Spektakel: Sie spielt die Rolle des Schlächters oder Gefängnisaufsehers. Und was ist mit den Tibetern? Egal, ob sie sich still zu Boden werfende Pilger sind oder Mönche, die sich in den Jokhang-Tempel verziehen, diese schweigende Distanziertheit ist eine Form von verstecktem und sprachlosem Widerstand, aber sie ist auch der größte Kummer.

Einige Tibeter beschrieben die bitteren Erfahrungen ihrer Familien auf Weibo: „Mein 19jähriger Neffe brach mit drei seiner chinesischen Klassenkameraden zu einer Radtour entlang der Qinghai-Tibet Route auf, aber als sie die Gemeinde Umatang im Kreis Damzhung erreichten, konnten die Klassenkameraden passieren, während er angehalten wurde, weil er Tibeter ist. Nur mit einem Zertifikat von einem Amt auf Bezirksebene oder darüber dürfte er Lhasa betreten. Ich erkundigte mich per Telefon und fand heraus, daß man als ein nicht in Lhasa wohnhafter Tibeter, wenn man eine Stelle haben oder Verwandte in der Stadt besuchen will, allerlei Bescheinigungen und Garantien benötigt. Andernfalls wird man nach Ablauf einer gewissen Frist direkt an seinen Geburtsort zurückgeschickt. Maßnahmen gegen Terrorismus, die die Ethnien trennen, lassen sich dort, wo es nur ein paar Leute gibt, leicht durchführen, aber was ist, wenn deren viele sind?“

Das erinnert die Leute an den Zweiten Weltkrieg, als die Nazis die Politik des „Antisemitismus“ gegen die Juden betrieben. In der Tat nennen die Tibeter Lhasa bereits sarkastisch einen „jüdischen Distrikt unter der Nazi-Herrschaft“. Die „Säuberung von Juden“ damals wie die „Eliminierung der Tibeter“ heute veranlaßte viele junge Tibeter, Sätze wie den folgenden - denn die Geschichte wiederholt sich - bei Weibo zu verbreiten: „Es ist so, wie die Juden, die das gelbe Abzeichen auf der Brust tragen mußten, sagten: Wir sind unbewaffnet und schutzlos, aber in der großen Welt dort draußen ist niemand tapfer genug, um uns zu Hilfe zu kommen“.

In all den vergangenen Jahren waren die in Lhasa wohnenden Leute von auswärts, ungeachtet ihres kulturellen, wirtschaftlichen oder religiösen Hintergrunds, immer relativ wichtige Faktoren in der gesellschaftlichen Struktur der Stadt. Geschäftsleute aus Amdo, Kham, dem Changthang oder anderen Gegenden des weiten Hochlands trieben in Lhasa Handel, Mönche unternahmen Pilgerfahrten nach Lhasa und verbrachten, wie es schon immer der Brauch war, einige Jahre zu Studienzwecken in einem der drei großen Klöster. Traditionell wurde Lhasa immer als das Zentrum gesehen, es war schon immer die heilige Stadt, nach der sich alle Tibeter sehnten. Aber heute ist es zu einem Platz geworden, der „die Tibeter eliminiert“.

Es ist unmöglich, sich die Reichweite der „tibetischen Ausschließung“ vorzustellen und welche Ausmaße sie noch annehmen wird. Aber gewiß ist, daß das alles zu einer außerordentlichen Verarmung der gesamten Gesellschaft führen wird. Und wer wird das unglaubliche Vakuum füllen, das dadurch entsteht? Gerade mal drei Tage, nachdem es zu der Selbstverbrennung in Lhasa gekommen war, verkündeten die offiziellen tibetischen Medien, daß die Lokalbehörden eine Politik einführen werden, um Universitätsabsolventen aus dem ganzen Land anzuziehen und Tibet für sie attraktiv zu machen. Worauf das alles hinausläuft, bedarf keiner weiteren Erklärung.

20. Juni 2012