11. Januar 2012
High Peaks Pure Earth, http://highpeakspureearth.com/

„Das Gelöbnis von Kardze“ von Woeser

In der Reihe von Beiträgen rund um Woesers Sommerreise 2011 nach Lhasa durch Amdo und Kham folgt der nachstehende dem Titel „Mani Gegos Verarbeitungsanlagen von Yak-Fleisch“. Bei diesem Beitrag ist Woeser noch in der Präfektur Kardze und dieses Mal konzentriert sie sich auf den gewaltlosen Widerstand, der in dieser Region besonders stark zu sein scheint. Es war in Tawu, Präfektur Kardze, wo am 15. August 2011 die Selbstverbrennung von Tsewang Norbu stattfand.

Die Entfernung zwischen Mani Gego und Kardze beläuft sich auf über 90 km. Ich war oft auf dieser Straße unterwegs und es fällt schwer, die schöne Landschaft entlang dieser Strecke zu vergessen. Allerdings wurden Derge, Kardze, Drango, Tawu und andere Bezirke, die auch als „Nord-Kham“ oder „Nördliche Straße“ bekannt sind, nach 2008 zu Sperrgebieten erklärt. Besonders im Bezirk Kardze haben Männer und Frauen, jung und alt, Mönche und Laien, in den vergangenen drei Jahren nicht aufgehört, gegen die Restriktionen zu protestieren.

Diese Proteste waren vollkommen gewaltlos. Im Sommer 2008, als ich durch Dartsedo fuhr, hörte ich einen pensionierten tibetischen Parteikader sein Unverständnis äußern: „Diese Nonnen sind wirklich dumm, wenn sie direkt vor bewaffneten Spezialeinheiten der Polizei Flugblätter verteilen; offensichtlich wollen sie zusammengeschlagen werden, sie bitten darum verhaftet zu werden.“ „Außerdem“, so seufzte der pensionierte Kader: „Einige dieser Flugblätter sind wirklich lächerlich, behaupten Dinge wie ‚Diejenigen, die chinesische Speisen essen, sind Bastarde’“.

Allerdings wird gewaltlosen Protesten mit gewaltsamer Unterdrückung begegnet. Am 4. März 2008 wurde das Kloster Tongkhor in der Gemeinde Tonggu im Bezirk Kardze fälschlicherweise beschuldigt, Waffen versteckt zu haben und daher von Streitkräften durchsucht. Ein 70jähriger Mönch wurde verhaftet, weil er sich weigerte, auf einem Portrait seiner Heiligkeit des Dalai Lama herumzutrampeln. Daraufhin versammelten sich Mönche und Laien vor der Kommunalverwaltung und forderten seine Freilassung, aber der Bezirkssekretär, Liao Caikun, gab der Militärpolizei den Befehl, das Feuer zu eröffnen, was dazu führte, daß 19 Tibeter erschossen und viele weitere schwer verwundet wurden.

Weil die Bezirksverwaltung schnell anordnete, alle Spuren zu beseitigen und alle Nachrichtenkanäle strikt abriegelte, bekam die Welt von diesem Massenmord nichts mit. Für die Tibeter jedoch stellt dies ein blutiges Ereignis dar, das sie nicht so leicht vergessen werden.

Drei Jahre später wurde bekannt, daß die Tibeter aufs Neue Flugblätter verteilen und in den Straßen Slogans rufen. Natürlich war dies ebenfalls eine gewaltlose, aber sehr nachhaltige Protestaktion, die von Juni bis August jeden Tag stattfand. Bevor wir überhaupt im Bezirk Kardze ankamen, wußten wir schon aus dem Internet, daß bereits 60 oder 70 Tibeter verhaftet und mehr als 10 verurteilt worden waren.

Folglich hatten, als wir die einst vertraute Landschaft von Kardze wiedersahen, zahllose voll bewaffnete Militärpolizisten sie in einen seltsamen und zutiefst unbehaglichen Ort verwandelt. Zur gleichen Zeit waren wir voller Respekt für unsere Landsleute, die dort leben. Obwohl ich die Tibeter, die ich zuvor getroffen hatte, nicht wiedererkannte, nicht wußte, wer von ihnen ein Held ist, der bereit ist, sich dem Kampf um Gerechtigkeit zu verschreiben, wußte ich, daß unter ihnen solche Helden waren.

Beispielsweise ging ich in einen kleinen Tsampa-Laden und als ich meinen Kopf hob, konnte ich das wohlwollende Lächeln seiner Heiligkeit sehen. Ich stieß innerlich einen Bewunderungsausruf aus, weil sich in den Straßen Lhasas, die voll von bewaffneten Polizeikräften sind, niemand jemals trauen würde, ein Portrait seiner Heiligkeit an einem öffentlichen Ort anzubringen und zu verehren. Der Mann, der Tsampa verkaufte, erzählte uns gutgelaunt, daß das gemahlene Tsampa aus Kardze in ganz Tibet berühmt sei.

Wang Lixiong und ich eilten durch die Stadt, wie Touristen, die nicht viel über die wahre Situation des Ortes erfuhren, deshalb entschlossen wir uns dazu, uns ein Taxi zu nehmen und uns mit dem Fahrer zu unterhalten. Er erzählte uns, daß er aus Ya’an war und erst seit einem halben Jahr als Fahrer in Kardze arbeitete. Er sagte: „Warum sind sie all den Weg hierher gekommen, wissen sie denn nicht, daß es hier sehr gefährlich ist? Die Tibeter gehen jeden Tag auf die Straße und machen Ärger“. Ich fragte: „Haben Sie das selbst gesehen?“ Er nickte: „Ich sehe es immerzu. Diese Tibeter sind wirklich verrückt, wenn sie absichtlich zu den Spezialeinheiten und der bewaffneten Polizei rennen, um Unruhe zu stiften; die Folge ist dann, daß sie brutal zusammengeschlagen werden und überall Blut fließt.“

Der Fahrer erzählte uns, daß er einen solchen Vorfall am Tag zuvor, mitten auf der Straße an einem Brückenkopf beobachtet hatte. Als ich zurückschaute, sah ich einen blinden Bettler am Brückenkopf kauern, ein Mikrofon in der Hand, und mit lauter Stimme singen, aber was aus seinem einfachen tragbaren Lautsprecher kam, war „Ohne die kommunistische Partei gäbe es kein neues China“. Ist es heute bei den Bettlern Mode zu betteln, indem sie „rote Lieder“ singen? Natürlich war dieser Bettler ein Chinese, also schenkten ihm die beiden Polizeiautos, die als nächstes neben ihm hielten, keine weitere Aufmerksamkeit; aber was, wenn er ein Tibeter gewesen wäre? Er wäre vermutlich sofort weggebracht worden.

Viele Tage später, in Dartsedo und Chengdu, erfuhren wir von einem Gelöbnis, das den Geist der Gewaltlosigkeit, der sich durchgesetzt hat, deutlich macht. Es heißt, daß im Bezirk Kardze in vielen Dörfern alle Bewohner darüber abstimmen, wer als nächstes an der Reihe ist, in die Bezirksstadt zu gehen, um Flugblätter zu verteilen und Slogans zu rufen. Viele von ihnen werden verhaftet, und ihre Familien verlassen sich auf die Hilfe aller anderen Mitglieder der Dorfgemeinschaft. Tatsächlich fanden wir im Internet heraus, daß zwei Tage, nachdem wir Kardze verlassen hatten, ein weiterer Tibeter verhaftet wurde, weil er „Laßt den Dalai Lama nach Hause zurückkehren“ gerufen hatte.

Lhasa, 21. September 2011