23. November 2011
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„Wie es dem Kloster Sershül in den letzten Jahren erging“ - von Woeser

Der Blog-Eintrag wurde geschrieben, als Woeser in Lhasa ankam, und ist einer der Beiträge über ihre Sommerreise nach Lhasa, durch Amdo und Kham. Der nachfolgende Eintrag ist die Fortsetzung zu „Mehr als ein Jahr nach dem Erdbeben, ein gehetzter Besuch in Yushu“. Zu dieser Zeit veröffentlichte Woeser ihre Eindrücke von der Reise auch in Twitter und ihre Berichte dort enthalten einige wichtige Informationen. Nachstehend sind die Übersetzungen von drei Tweets vom 3. August 2011.

Der Haupttempel des Klosters Sershul (Bild: Woesers Blog)

Ich bin durch das östliche Tibet (heutzutage die Präfektur Kardze in der Provinz Sichuan) gereist. Wo es Berge gibt, graben sie Bergwerke; wo es Flüsse gibt, bauen sie Wasserkraftwerke; und wo es Berge und Flüsse gibt, graben sie Bergwerke und bauen sie Wasserkraftwerke. Einer der Einheimischen sagte mir, dass die Beamten, vom hohen bis zum niedrigen Rang, alles verkaufen, was es in Kardze zu verkaufen gibt: die Entwicklungsrechte für den Fluss Dzachu [Mekong] wurden bereits an den Huaneng Energie-Konzern verkauft.

Ein groß angelegtes Wasserkraftwerk wird an der Straße zwischen Dartsedo und Luding gebaut, mit erschreckenden Folgen für die Umwelt. Die Einheimischen nennen Luding schon eine Zeitbombe.

Einigen Berichten zufolge wurden am 29. Juli in Kardze Tibeter verhaftet, als sie wieder auf die Straße gingen und lauthals die Rückkehr des Dalai Lama forderten. Die Tibeter entscheiden durchs Auslosen, wer als nächster auf die Straße geht und Slogans ruft und Flugblätter verteilt. Sollte jemand verhaftet werden, so übernehmen die anderen Tibeter die Unterstützung ihrer Familien und sorgen für deren Lebensunterhalt. Seit Juni wurden über 60 Tibeter wegen dieser Form des Widerstandes verhaftet.

Als wir von Yushu weiter nach Osten fuhren, kamen wir in Sershül an. Das bedeutet, dass wir die Grenze von Qinghai nach Sichuan überquert hatten. Natürlich ist es so nach den heutigen Verwaltungseinheiten.

Der Name Sershül kommt vom lokalen Gelugpa Kloster: Sershül Gön (Kloster Sershül). Eines Sommers vor vielen Jahren kamen Wang Lixiong und ich hier vorbei und statteten dem Vorsteher des Klosters rasch einen Besuch ab. Zu dieser Zeit war der Abt etwa 30 Jahre alt, er besaß kultivierte Umgangsformen und sprach fließend Mandarin. Letztes Jahr, nach dem Erdbeben in Yushu, erkannte ich seine Gestalt unter den Zehntausenden von Mönchs-Helfern. Er leitete die Mönche bei der Leistung von Soforthilfe an und spendete für die Katastrophenopfer sogar Tausende Yuan, die eigentlich für die Renovierung der Gebetshalle zur Seite gelegt worden waren.

Die erste Geschichte in meinem vor kurzem erschienen neuen Buch “Tibet: 2008” trägt den Titel “The Spirits Surrounding Sershül Monastery”(„Die Geister, die das Kloster Sershül umgeben“), was sich auf vier Fotos bezieht, die zuerst auf meinem Blog veröffentlicht worden waren. Der Fotograf ist ein Westler, den ich nicht kenne; sie wurden am 30. Juli 2008 aufgenommen, und zwar genau am Kloster Sershül. Den Informationen eines Freundes zufolge, der mir diese Fotos geschickt hatte, hatte der Westler, als er hierher reiste, nicht erwartet, mit dieser harten Realität konfrontiert zu werden, also machte er heimlich Fotos.

Die vier Fotos bilden eine fortlaufende Szene. Ein Foto beispielsweise zeigt das Kloster, friedlich inmitten verschneiter Berge gelegen, die Schönheit der Abgeschiedenheit von der Welt ausstrahlend; zudem zeigt das Foto über 50 dunkle Silhouetten, die finster vor dem Stupa vorübergehen. Dies sind keine Geister, sondern Soldaten, die Waffen halten, Schilder tragen; und eine Person trägt sogar eine Sauerstoffmaske, offenbar um sich vor irgendwelchen Reaktionen auf die große Höhe zu schützen. Die Person, die vorne läuft hingegen, trägt die rote Fahne mit den fünf Sternen, welche in der Mitte der verschneiten Berge ganz besonders in die Augen fällt, ja sogar blendend grell wirkt.

Die "finsteren Gestalten" ziehen vor dem Stupa vorbei (Bild: Woesers Blog)

Ich habe dieses Foto in der Erinnerung bewahrt, und im Juli dieses Jahres habe ich das Kloster Sershül erneut besucht. Die Gebetshalle, der Stupa, sowie die lange Reihe von Gebetsmühlen sahen genauso aus wie auf den Fotos. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die vielen geisterhaften Soldaten, die auf den Fotos zu sehen waren, nicht da waren, als ich wieder kam; und dies gab mir ein Gefühl von Zufriedenheit. Wir hielten uns hier für eine kleine Weile auf. Das Fahrzeug, das uns in Yushu gefolgt war, war verschwunden, vermutlich weil dies das Grenzgebiet zwischen den beiden Provinzen ist, was bedeutete, dass das Polizeiauto aus Sichuan einfach noch nicht eingetroffen war, sodass wir für eine kurze Zeit frei atmen konnten.

Auf diese Weise erfuhr ich auch, dass die Mönche des Klosters Sershül in diesem Sommer eine Aktion zum Schutz ihrer Muttersprache gestartet hatten. Es ging hauptsächlich darum, in die umliegenden Läden und Restaurants zu gehen und Schachteln zu verteilen mit der Forderung an die Tibeter, entweder reines Tibetisch oder reines Mandarin zu sprechen; es war ihnen nicht erlaubt, die beiden Sprachen zu vermischen, und jeder der eine Mischsprache spreche, sollte zur Bestrafung Geld in diese Schachtel stecken.

Ich hörte, dass der Einfluss dieser Aktion gewaltig war, sich auch auf andere Regionen erstreckte; sogar bis zu einem Punkt, dass die lokalen Behörden einige Leute schickten, um die Schachteln mit dem Geld zu konfiszieren. und dann drohte sie damit, dass sie die buddhistische Schule des Klosters schließen würden. Der Vater des Abtes war in jungen Jahren ursprünglich Mönch geworden, wurde aber in den 1950ern gezwungen, den Mönchsstand zu verlassen; er gründete eine Familie und hatte Kinder. Nach der Kulturrevolution kehrte er ins Kloster zurück und wurde ein tugendhafter und angesehener Lama. Er war immer bei guter Gesundheit, aber als die buddhistische Schule mit diesem Schicksal konfrontiert wurde, wurde er plötzlich krank und verstarb kurz darauf. Unter dem Druck zahlreicher protestierender Gläubigen hatten die lokalen Behörden keine andere Wahl, als von ihren Plänen abzulassen. Die Menschen sagten dann, dies käme daher, dass der Rinpoche mit seinem eigenen Körper der schlechten Handlungsweise Einhalt geboten habe: eine Tat von furchtlosem Dāna, der höchsten Form von Dāna [Gabe].

Es ist genauso wie ich in den ersten Worten meiner Geschichte über das Kloster Sershül geschrieben habe: „Es gibt viele Dinge, von denen nur wenige Menschen wissen. Es gibt auch viele Tatsachen, die nur wenige Menschen verstehen“. Ich will einmal von den Protestaktionen 2008, die in vielen Gebieten in ganz Tibet ausgebrochen sind, absehen; wäre ich nicht selbst hierher gereist und hätte es durch die Geschichten des Abts erfahren, hätte ich nie mitbekommen, dass die Mönche des Klosters Sershül für die tibetische Sprache kämpfen.

Ich erfuhr auch, dass die Person, die ich in meiner Geschichte so beschrieb – „Während des tibetischen Jahrs der Erdmaus [2008], zu Beginn des Herbstes, hörte ich von einem Rinpoche vom Kloster Sershül, genannt Thupten Nyandak, der unter Hausarrest gestellt wurde, weil er öffentlich Angelegenheiten ansprach, die die lokalen Behörden nicht hören wollten“ – tatsächlich der Abt war. Was ich noch hinzufügen muß, ist, dass er zu der Zeit bei einem eigens angesetzten Treffen der lokalen Behörden mit hochrangigen Mönchen beinahe dafür bestraft wurde, zu unverblümt seine Kritikpunkte vorgebracht zu haben.

Lhasa, 1. September 2011