7. Dezember 2011
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„Lhasa? Lhasa!“ von Woeser

Dieser Blog-Eintrag ist die Fortsetzung einer Reihe über Woesers Sommerreisen nach Lhasa durch Amdo und Kham. Vorhergehende Einträge sind „Der verarmte Bezirk Matö in Amdo“, „Mehr als ein Jahr nach dem Erdbeben, ein gehetzter Besuch in Yushu“, „Das Kloster Sershül in den vergangenen Jahren“ und „Das prachtvolle Kloster Dzogchen“.

Während der Ära der chinesischen Reform und Öffnung war Lhasa generell der Ort, an dem die tibetische Elite wohnen wollte. Ich traf viele junge Tibeter, die nach ihrem akademischen Abschluss in großen Städten wie Peking oder Shanghai hätten bleiben können, es aber vorzogen, in Lhasa, das zu der Zeit weit von irgendwelchem geschäftigen Treiben entfernt war, zu leben und zu arbeiten. Im Frühling 1990 kehrte ich von Kham in meine Geburtsstadt Lhasa zurück, denn ich wusste, dass es dort Kollegen aus Amdo in der Literaturgesellschaft der TAR gibt.

Zu der Zeit zog Lhasa Tibeter von überallher an wie ein Magnet. Geschäftsleute aus Kham und Amdo strömten nach Lhasa, um ihren Geschäften nachzugehen, und Mönche kamen zu den heiligen Stätten Lhasas, um der Tradition entsprechend in den „Drei Großen Klöstern“ zu studieren. Wie zuvor wird Lhasa auch weiterhin von den Tibetern als ein Zentrum angesehen, wo die Leute sich ein Haus kaufen und wohin sie ihre hukou (Wohnsitzregistrierung) übertragen wollen. Doch obwohl es damals viele Probleme in Lhasa gab, und obwohl die Proteste drei aufeinanderfolgende Jahre lang unterdrückt wurden, gab es im Vergleich zu heute mehr Platz und mehr Möglichkeiten, und die Atmosphäre war relativ frei und entspannt.

Heute ist es ganz anders. Eine Mutter und ein Vater aus Kham waren gekommen, um ihre Tochter, die einen Mann aus Lhasa geheiratet hatte, zu besuchen und waren, als sie abreisten, äußerst besorgt wegen ihrer Tochter, da sie in einer Stadt leben würde, wo sie unter der ständigen Bedrohung durch eine Waffe leben muss. Auf den Straßen bilden die Soldaten Spalier und buddhistische Mönche werden geschändet. Aus der heiligen Stadt Lhasa wurde ein eroberter Ort voller Schmutz und Gefahr.

Mönche von außerhalb Lhasas benötigen ihre Ausweispapiere und eine Genehmigung, um nach Lhasa gehen zu können, andernfalls kommen sie an all den Kontrollpunkten entlang der Straße überhaupt nicht vorbei. Rinpoches von anderswo vermeiden Lhasa und gehen statt dessen in Han-Gebiete. Mönche aus Lhasa selbst sind vorsichtig und wachsam und tragen so oft wie möglich Zivilleidung, wenn sie nach draußen gehen. Und in der Altstadt mit dem Jokhang-Tempel im Zentrum sieht man oft, wie die Polizei willkürlich Mönche in Roben oder Jugendliche in tibetischer Kleidung anhält, überprüft und registriert. Rinpoches aus Lhasa gehen so wenig wie möglich auf die Straße, als führten sie ein Leben hinter verschlossenen Türen. Und sogar Tibeter betrachten sich gegenseitig mit Skepsis, noch nicht einmal Familienmitglieder trauen sich offen miteinander zu sprechen, aus Angst, dass jemand ein Spitzel sein oder sie für Geld verraten könnte. Die Zahl der Ausländer ist so niedrig wie nie zuvor, Touristen werden in dem, was sie besichtigen dürfen, eingeschränkt, und die Mehrheit der ausländischen Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen sind vertrieben worden.

Eine Frau verbeugt sich vor dem Bild des Dalai Lama
Diesem wurde ein Schnurrbart aufgemalt

Tibetische Unternehmer haben ihr Geschäft entweder schrumpfen sehen oder sie mussten es in tibetische Gebiete in anderen Provinzen oder in Städte in China verlegen, damit es sich weiter entwickeln konnte. Auch wenn sie sich nicht so gut an das Klima, die Sprache oder den Lebensstil in den Han-Gebieten gewöhnen können, so ist doch an diesen Orten zumindest die Angst geringer. Seit 2008 sind viele erfolgreiche Tibeter zu Haftstrafen verurteilt worden, und es herrscht generell ein Gefühl der Angst unter den Geschäftsleuten und Unternehmern in tibetischen Gebieten. Keiner weiß, was der nächste Tag bringen wird, und keiner kann sagen, ob der Wohlstand, den die Menschen über Jahrzehnte angesammelt haben, nicht über Nacht von frei erfundenen Gebühren aufgefressen wird. Ein Geschäftsmann griff auf das buddhistische Bild der Vergänglichkeit zurück, um die Situation zu beschreiben: Wie Ameisen tragen die Menschen ein Krümelchen nach dem anderen zusammen, aber der Wohlstand, den sie mit solcher Mühe aufbauen, kann in einem Augenblick durch die Tatze eines Bären wieder zerstört werden. Und mal abgesehen vom persönlichen Wohlstand: Der gesamte Wohlstand, den wir als ein Volk über Hunderte und Tausende von Jahren angesammelt hatten, wurde zu nichts, als die Kommunistische Partei Chinas kam!

Die Zentripetalkraft, die die Tibeter nach Lhasa zieht, scheint nachzulassen, da die Hindernisse in allen Lebensbereichen dort so viel schlimmer sind, als woanders. Einen Pass zu bekommen, ist beispielsweise für die Mehrheit der Tibeter ein schlichtes Wunschgebilde. Selbst eine Genehmigung zu erhalten, bis in die Grenzregion zu fahren und zum Mount Kailash zu pilgern, ist schwer. Und obwohl viele neue Wohnviertel und neue Häuser in Lhasa errichtet wurden, stehen zahlreiche von diesen leer. Früher hätten Leute aus Kham und Amdo ein Haus in Lhasa gekauft, aber nun kaufen Leute aus Lhasa und aus anderen Orten in U-Tsang Häuser in Chengdu. Es heißt, dass 20.000 Tibeter ein Haus in Chengdu gekauft hätten, und von diesen Menschen waren vermutlich einige zuerst Hausbesitzer in Lhasa, aber nun lehnen sie es ab, weiterhin im Schatten der Angst zu leben.

Natürlich werden Tibeter auch in anderen Provinzen unterdrückt, aber weniger als in Lhasa. Dies erkennt man an einem kleinen Detail: Von Ende Juli bis Anfang August reiste ich von den tibetischen Gebieten in Qinghai zu den tibetischen Gebieten der Provinz Sichuan, und auf dem ganzen Weg waren in Klöstern und Privathaushalten Portraits Seiner Heiligkeit des Dalai Lama offen ausgestellt. Während diese zuvor strikt verboten waren, drücken die lokalen Behörden nun ein Auge zu, nicht nur weil sie es gar nicht stoppen können, sondern auch, weil sie ansonsten befürchten, daß sie eventuell größere Proteste provozieren würden. Aber solche Kompromisse gibt es in Lhasa nirgendwo. In manchen Klöstern haben Arbeitsgruppen auf Portraits seiner Heiligkeit des Dalai Lama einen Schnurrbart gemalt, damit Pilger und Touristen den Dalai Lama nicht mehr erkennen sollen.

Lhasa, 13. Oktober 2011