29. Juni 2010
HighPeaksPureEarth, www.HighPeaksPureEarth.com

Seite drucken

Tsering Woeser: Meine erste Begegnung mit Karma Samdrup

Vor einigen Tag appellierte Human Rights Watch an die chinesische Regierung, die Beschuldigungen gegen den bekanntesten tibetischen Philanthropen und Umweltschützer, Karma Samdrup, sowie gegen seine Brüder fallen zu lassen. Dort stand: „Diese Leute verkörpern genau das, was die chinesische Regierung bei modernen Tibetern sehen möchte: sie sind wirtschaftlich erfolgreich, unpolitisch, engagieren sich für das Gemeinwohl, vorausgesetzt, es geht um die Förderung staatlich gebilligter kultureller und die Umwelt betreffender Zielsetzungen – aber selbst mit ihnen geht man nun wie mit Kriminellen um.“

Dieser Satz rief mir meine erste Begegnung mit Karma Samdrup in Erinnerung. Es war irgendwann im Mai 1998, ich war aus geschäftlichen Gründen von Lhasa nach Chengdu gereist. Am Eingang zur Distrikt-Verwaltung von Chengdu sah ich zu meiner Überraschung eine Gruppe schäbig gekleideter Tibeter auf Zeitungspapier und Plastikmatten hocken. Sie sahen so erschöpft aus. Aber auf den ersten Blick sah man ihnen ihren Ärger und ihre Verbitterung an. Ich ging hin zu ihnen, ich wollte wissen, warum sie so da sitzen. Und in genau diesem Augenblick erschien Karma mit zwei großen Kisten voller Mineralwasser.

Ursprünglich handelten diese Tibeter mit dem Raupenkeulenpilz [yartsa gunbhu*], die meisten waren Khampas aus Osttibet, aber einige auch aus dem Grasland von Ngaba in Amdo. Nach der Raupenkeulenpilz-Saison im Vorjahr hatten sie über 5000 kg dieses wertvollen Gewächses, das über 7000 Familien gesammelt hatten, zum Verkauf nach Chengdu gebracht. Die gesamte Ware wurde einer zur Distrikt-Regierung von Chengdu gehörenden Pharmazeutischen Gesellschaft übergeben. Für die Bezahlung war ein bestimmter Tag vereinbart worden. Aber als dieser Tag gekommen war, hatte sich der Chef des Unternehmens verdünnisiert, und die 5000 kg Raupenkeulenpilz waren auch spurlos verschwunden. Als die Händler merkten, daß ihre fast 40 Mio. RMB zu Nichts geworden waren, gerieten sie in große Aufregung. Die Dorfbewohner hatten ihnen nämlich den Pilz auf Treu und Glauben und mit dem Versprechen auf eine spätere Zahlung überlassen, wie es traditionsgemäß gehandhabt wird. Die Dorfbewohner, die so hart gearbeitet hatten, wollten das Geld möglichst bald haben, um es nach Hause mitzunehmen. Einige mußten dringende Rechnungen damit begleichen. Für etliche Händler, die keine großen Geschäfte tätigen, stand ihr gesamtes Hab und Gut auf dem Spiel. Außerdem hatte eine Bank einen Kredit von 15 Mio. RMB gewährt und 5 Mio. RMB hatte der Armutslinderungsfonds beigesteuert. Deshalb hatten sie keine andere Wahl, als in der Nähe des Büros in Chengdu zu bleiben und jeden Tag die Zahlung einzufordern. Nachdem dann viele Monate ergebnislos verstrichen waren, traten sie schweigend in einen Sitzstreik. 60 Händler sollen es gewesen sein, die stumm da saßen. Aber kann ein Sitzstreik etwa ein solches Problem lösen? Wer kann den Verlust von 40 Mio. RMB wettmachen? Ein Händler namens Dorgey aus Ngaba soll sich gar aus Verzweiflung das Leben genommen haben, hörte ich.

War denn Karma auch einer der übers Ohr gehauenen Leute, fragte ich mich? Nein, das war er nicht. Damals war er ein wenig über Dreißig, er handelte mit „dzi“ (himmlischen Steinen) und war ebenso wie ich gerade in Chengdu angekommen. Zufällig stieß er auf diese verzweifelten Landsleute, die sich aus Protest einfach hingesetzt hatten. Ohne zu zögern stellte er seine eigenen Geschäfte zurück und eilte ihnen zu Hilfe. Zuerst brachte er ihnen Wasser, Arzneimittel und Essen, und dann benutzte er sein Netzwerk an Beziehungen, um zu einer einflußreichen Person vorzudringen. Nach einiger Bemühung fand er Phuntsok Wangyal, der in Peking lebte. Obwohl Phuntsok Wangyal schon viele Jahre nicht mehr die Position des Stellv. Direktors der Staatlichen Kommission für Ethnische Angelegenheiten begleitete, verfügte er noch über erheblichen Einfluß. Er war schließlich der allererste tibetische Revolutionär – ein großer Patriot. Natürlich würde er helfen, wenn das Leben so vieler einfacher Tibeter auf dem Spiel stand. Er erklärte die Lage dem damaligen Staatsratsvorsitzenden, dem Premier Zhu Rongji. Wie ich erst viel später erfuhr, wurden diese geprellten Tibeter schließlich nach drei Jahren von den Provinzregierungen von Sichuan, Qinghai und der TAR entschädigt.

Damals waren der großmütige Karma und ich beide in Eile. Ich konnte ihm nicht helfen. Erst im Sommer 2002 traf ich Karma bei einem Festessen in Lhasa wieder. Ich war von seiner brillanten Rede beeindruckt, er sagte, wenn man sich für den Umweltschutz in Tibet engagiere, sollte man auch darauf achten, welchen Nutzen die Arbeit den Tibetern vor Ort bringe, sonst brauche man sie gar nicht erst zu tun. Es heißt, daß Karma die erste regierungsunabhängige Umweltorganisation in Tibet, die „Umweltschutzgruppe Drei Flüsse“, ins Leben gerufen habe und sie sogar selbst finanzierte. Ich führte ein paar Interviews mit ihm und schrieb dann einen Artikel „Karma, der König der himmlischen Steine“, der 2006 in dem Blatt „Southern Weekend“ erschien. Ich erinnere mich noch deutlich, wie er ganz zu Anfang zu mir sagte: „Ich war noch nie in der Hölle, ich weiß daher nicht, wie fürchterlich die Hölle tatsächlich ist, aber ich habe eine Menge gelitten. Ich war noch nie im Himmel, ich weiß daher nicht, wie wundervoll der Himmel tatsächlich ist, aber ich empfinde oft großes Glück“. Es ist wirklich eine Schande, daß es heute schon zur Normalität gehört, daß man Karma im Licht der ersten Hälfte dieser Äußerung sehen muß. Da ist wirklich sehr ungerecht.

* Eine ausführliche Beschreibung und Bilder des Raupenkeulenpilzes gibt es auf der Website von Daniel Winkler