7. April 2010
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“Glücklichsein unter Zwang oder Glück mit vorgehaltener Pistole” - Woeser

[Vom 1. bis 5. September 2010 veranstaltete die chinesische Regierung bei der Shanghai-Expo eine “Tibet Woche” mit dem Thema der “Himmel in Tibet”. Dabei versuchte sie, die tibetische Kultur als ihre eigene darzustellen und ihre verheerende Menschenrechtsbilanz in Tibet zu übertünchen. Während die chinesische Regierung dort, wo es ihr zweckdienlich ist, die tibetische Kultur fördert, wurden Dutzende von tibetischen Künstlern, Schriftstellern, Musikern, Bloggern und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens festgenommen, eingesperrt, schikaniert oder an unbekannte Orte verbracht, weil sie ihre Meinung über die Sehnsüchte, die Schwierigkeiten und das Gefühl der Zusammengehörigkeit der unter chinesischer Besatzung lebenden Tibeter zum Ausdruck gebracht hatten. Wie es um das Glück unter dem „Himmel in Tibet“ tatsächlich bestellt ist, schildert Woeser in dem folgenden Blog.]

In einem Artikel mit dem Titel „China setzt sein hartes Vorgehen in Tibet fort“, das in dem britischen Magazin The Economist erschien, steht: „In Tibet ist der März der grausamste Monat, er ist auch traditionell die Zeit, in der die aussichtslosen Proteste gegen die chinesische Herrschaft stattfinden. Dieses Jahr sind die Behörden ganz besonders nervös. Mit einer Schärfe, wie man sie in den letzten Jahren kaum erlebt hat, gehen sie präventiv gegen die Einheimischen vor. Militärpolizisten mit Helm und Gewehr patrouillieren durch die Straßen Lhasas. Heckenschützen lauern auf den Dächern um den Jokhang Tempel, den heiligsten Ort Tibets, an dem sich in der Vergangenheit schon öfters Proteste entzündeten.“

Streetlife in Lhasa

Diese Textpassage paßt genau für den März dieses Jahres, der von der aufdringlichen Lautstärke der staatlichen Propaganda gekennzeichnet ist. Seit dem 10. März 2010 gibt es neben den Panzerfahrzeugen und bewaffneten Polizeiautos und jener neuen Sorte von Militär- und Polizeiautos, deren Namen wir nicht kennen, auch jene Propaganda-Fahrzeuge, die mit farbigen Bannern und den roten Fünf-Sterne-Flaggen bestückt durch die Lingkhor Straße und die Hauptstraßen Lhasas fahren. Aus den Lautsprechern knattern immer wieder die ohrenbetäubenden Lieder der „staatlich gefeierten“ Sängerin Tseten Dolma wie „Seit dem Kommen der Kommunistischen Partei wurde Bitternis zur Süße“ oder das „Lied der befreiten Leibeigenen“. Diese für viele politische Bewegungen typischen Revolutionslieder überziehen die gesamte Stadt Lhasa wieder mit dem gräßlichen und bösen Spuk der Kulturrevolution. Und Spruchbanner hängen an den Fahrzeugen mit der Aufschrift „Die Beziehung zwischen Armee und Bürgern ist wie die vom Fisch zum Wasser, Han-Chinesen und Tibeter sind eine Familie“. Der Anblick tut dem Auge richtig weh, obwohl das Ganze schon fast einen Beigeschmack von Ironie hat.

Die Denkweise der Behörden ist wahrhaft paradox. Auf der einen Seite meinen sie, die Tibeter terrorisieren, Furcht zu verbreiten zu müssen, und auf der anderen Seite wollen sie eine harmonische, freudige und glückliche familiäre Atmosphäre schaffen. Daher fragt man sich, wer soll ihnen eigentlich glauben? Vielleicht die vorüberziehenden Touristen? Oder die Journalisten, die eingeladen wurden, um sich eine bis ins Detail geplante Farce anzusehen? An diesem Ort spielt sich ein absurdes Drama ab, das das Leben derer, die hier wohnen, zum Wahnwitz werden läßt. An der Oberfläche sehen wir nur das Tibet mit seinem tiefblauen Himmel, den weißen Wolken und dem herrlichen Sonnenlicht, sowie die immer lächelnden und scheinbar ehrlichen und glücklichen Tibeter – genau dem Klischee, das die Außenwelt von Tibet hat, entsprechend. Und um ihre Herrschaft legal erscheinen zu lassen, scheuen die Behörden keine Mühe, die Geschichte von zwei gänzlich verschiedenen Gesellschaften - der alten und der neuen - zu konstruieren. Aber in Wahrheit ist diese Geschichte doch nur eine Wiederholung jener vorfabrizierten Lügen, zu denen alle Kolonisatoren griffen, um andere Völker zu überfallen und ihre Ressourcen zu plündern. Die Geschichte wiederholt sich doch immer wieder, nur Zeit, Ort und die Völker variieren.

Doch die Protestbewegung, die im März 2008 in Lhasa begann und sich dann nach Amdo und Kham ausweitete, umfaßte fast alle Schichten der tibetischen Gesellschaft, was zeigt, daß die Verbitterung unter den Tibetern sehr tief sitzt. Ebenso heftig ist die Unterdrückung durch die Behörden. Gleichzeitig setzte der Staat seine Propagandamaschinerie in Bewegung und forderte lautstark von den Bürgern, „dankbar zu sein“. Das tibetische Volk wird mit vorgehaltener Pistole gezwungen, ihnen auch noch Dank zu erweisen. Ein paar Leute, die ihre Seelen verkauften, wurden in Form von hohen Positionen mit ansehnlichen Gehältern belohnt. Nur daß diese farbig schimmernden Pfauenfedern, die den Status einer Person ausmachen, das Blut des tibetischen Volkes vergiften. Da haben wir nun diesen neuen Vorsitzenden der Autonomen Region Tibet, den die Leute aus Lhasa mit beißendem Hohn als Pang-khu (Bettler auf Tibetisch) bezeichnen (1). Er riß seine wie die eines Metzgers rot angelaufen Kulleraugen auf und spuckte plötzlich entsetzliche Flüche gegen Seine Heiligkeit aus, wie sie nicht einmal die Kolonisatoren zu äußern gewagt hätten. Wenn Leute bis zu einem solchen verabscheuungswürdigen Grad schamlos sind, wird irgendwann eine andere Macht, wie der Wille Gottes oder das Karma eingreifen, um sie zu bestrafen.

Das kapitalste Schlagwort ist natürlich „Glück“: Es wird von jedermann verlangt, ein bisher noch nie erfahrenes Leben des Glücklichseins einmütig zu preisen. Aber wenn die Leute wirklich glücklich wären, dann müßten ihnen nicht ständig von jener unsichtbaren Hand die Pistolenläufe auf den Rücken gesetzt werden. Lhasa wäre nicht zu einer militarisierten Stadt, die Tag und Nacht von Soldaten mit Gewehren bewacht wird, geworden. Als ich einen pensionierten Kader fragte, der einen Posten in einer Abteilung der Provinzregierung innehatte und sich jetzt eines angenehmen Lebens erfreuen kann, ob er glücklich sei, schaltete er zuerst sein Mobiltelefon ab, nahm die Batterie heraus, und antwortete dann: ‚Wie kann man in Glück leben, wenn man tagaus tagein von Pistolen bewacht wird? Sind die Menschen, die im Gefängnis sind, etwa glücklich? Wir leben in einem Land, das wie ein riesiges Gefängnis ist. Wir können keinen einzigen wahren Satz äußern, ohne Angst haben zu müssen, verraten zu werden, nur die ganz Abgestumpften sind vielleicht nicht so unglücklich“. Und der Regierungsbeamte aus einer Arbeitseinheit meinte ängstlich auf meine Frage: „Wir arbeiten abwechselnd in Schichten, die ganze Nacht lang, wie kann man das aushalten? Zuerst dachte ich, am 14. März sei alles vorüber, aber dann heckten diese Behörden einen jener Sklavenbefreiungstage (2) aus, das ist einfach unerträglich für uns, ich habe bis Ende des Monats ununterbrochen Dienst, wie kann man da von Glücklichsein reden?“

(1) Woeser nennt den neuen Vorsitzenden der TAR Padma Choling nicht bei seinem Namen, sondern mit dem Spitznamen, den ihm die Einwohner von Lhasa gaben. Eigentlich heißt er Pema Trinley. Choling ist eine gänzlich von chinesischen Staatsmedien erfundene Version des Namens, die nun auch von westlichen Medien übernommen wurde.

Siehe auch: 18. Januar 2010 „Pema Thinley zum Gouverneur der TAR ernannt: Neuauflage derselben alten Geschichte“

(2) 27. März 2009: „Chinas Tag der Befreiung Tibets von Leibeigenschaft und Sklaverei verbirgt die Repression in Tibet“