6. Mai 2010

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High Peaks Pure Earth übersetzte einen Brief eines tibetischen Mönches aus der am 14. April von dem schweren Erdbeben ereilten Gegend in Kyegudo (Kham), der ursprünglich am 21. April 2010 auf Tibetisch geschrieben wurde

“Benutzt das tragische Ereignis nicht als Vorwand, um Euch in Szene zu setzen“ - Brief eines Mönches aus Kyegudo

Das Erdbeben, das Kyegudo am 14. April um 7.40 Uhr traf, war ein wirklich sehr heftiges. Als erstes hörte ich, daß unser Kloster schwer beschädigt wurde und zwei Mönche umgekommen seien. Kurz darauf kamen weitere Schreckensnachrichten, eine um die andere, die Zahl der Toten steige und steige…

Über zweihundert Mönche unseres Klosters brachen sofort nach Kyegudo auf, um die Verschütteten zu retten, aber wegen des starken Verkehrs auf der Straße dorthin, erreichten wir den Ort der Katastrophe erst um acht Uhr abends. Als wir ankamen, wurde uns klar, daß es tatsächlich ein verheerendes Erdbeben war. Die Strommasten waren umgestürzt und die Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Als wir zu dem für die Organisation der Bergungsarbeiten zuständigen Büro in der Stadt gingen und fragten, wo wir mit unserer Arbeit beginnen sollten, um Menschenleben zu retten, hieß es, das Büro sei an diesem Tag schon geschlossen, wir sollten am folgenden Tag wieder nachfragen.

Mönche graben nach Verschütteten
Mönche bergen einen Verletzten

Wir wußten, daß Hilfe dringend notwendig war, und so rannten wir einfach überall dort hin, wo wir meinten, daß Menschen unter den Trümmern liegen könnten. Wir kamen zu einer teilweise zerstörten Schule, in der vermutlich um die zwanzig Schüler eingeschlossen waren. Wir sahen, wie einige chinesische Soldaten in den Ruinen gruben und versuchten, zu den Schülern zu gelangen. Wir befanden uns hinter dem Gebäude, von wo aus wir den Unterkörper eines Schülers in einem Loch stecken sahen. Jemand sagte: „Noch ehe der Tag zur Neige geht, könnten diese Kinder sterben“. Der Schrei eines Schülers war unter den Trümmern zu hören. Als die Mönche versuchten, die zerbrochenen Balken und Fliesen mit Seilen wegzuziehen, trat ein Soldat heran und fragte: „Was tut ihr denn da?“ Wir antworteten: „Unter den Ruinen ist ein Schüler gefangen“. Er warf einen Blick auf die Szene und bemerkte nur: „Ha, ha, der Schüler ist doch schon tot, sein Kopf ist zerschmettert, und für euch ist es gefährlich auf den Trümmern zu stehen“.

Wir wollten aber das Leben des Schülers retten, und einer von uns entgegnete dem Chinesen: „Ich habe keine Bedenken, in das Loch zu steigen, wenn ich dem Schüler das Leben retten kann“. Aber man hat es ihm verboten, und so konnten wir nichts tun, als uns zusammen mit den chinesischen Soldaten von der Vorderseite des Gebäudes aus durch den Schutt zu wühlen.

Vielleicht ist es wegen unserer mitleidvollen Herzen oder aus Liebe zu unseren Landsleuten, aber alle Mönche hatten genügend Kraft, um zu den Rettungsarbeiten beizutragen. Als wir so hart arbeiteten, um auf den Grund der Trümmer zu gelangen, starrten uns die Soldaten nur verblüfft an. Nach einiger Zeit kamen die Medien, und dann passierte wieder etwas, was uns sehr überraschte: Ein Mann, von dem es hieß, er sei der Distriktvorsteher, packte einen Mönch an der Schulter und fuhr ihn an: „Schert Euch weg von hier, auf, geht weg“. Als der junge Mönch etwas erwidern wollte, hielt ihn ein älterer Mönch zurück und sagte: „Bitte handle nicht so, unsere wichtigste Aufgabe im Augenblick ist, den Menschen das Leben zu retten.“

Mönche entfernen Platten mit Seilen
Ein Soldat stellt einen Mönch zur Rede

Als wir diese Stelle verließen, griffen die Soldaten nach den Schaufeln und Seilen und gaben vor, die unter den Trümmern liegenden Menschen herauszuziehen, während die Medien sie filmten. Da kam mir die Frage in den Sinn, was wohl Priorität habe: Menschenleben zu retten oder die Soldaten zu filmen? Und nachdem sie vor den Filmteams ihre Arbeit geleistet hatten, entfernten sich die Soldaten alle wieder. Es hieß, sie seien an einen anderen Platz in der Stadt gegangen, wo Verschüttete liegen. Aber die Wahrheit ist, daß sie in die Berge geflohen sind, als sie hörten, daß der Staudamm in dem etwas weiter oben gelegenen Dorf großen Schaden erlitt und die in Schutt liegende Stadt jeden Augenblick mit einer Flutwelle überschwemmen könnte.

Ein Mann aus der Gegend von Nangchen, dessen Vater umgekommen ist, kommentierte: „Ein Erdbeben dieser Art ist eine Naturkatastrophe. Dagegen kann man nichts machen. Aber solche Gerüchte tragen dazu bei, dass unterlassen wird, Leben zu retten, die noch zu retten wären“. Um 7 Uhr am nächsten Morgen gingen wir wieder zum Katastrophenbüro und setzten unsere Arbeit in dem Trümmerhaufen fort. Die Leiche einer Hausfrau aus dem Bezirk Nangchen kam zu Tage und ihr zwei Jahre alter Sohn steckte unter den Trümmern des zweiten Stockwerks. Wir hofften, daß der Sohn noch lebe, so gruben wir mit den Soldaten weiter, bis diese wieder wegrannten, als es eine Reihe von Nachbeben gab. Als ich dieses Benehmen der chinesischen Soldaten sah, fragte ich mich, wo alle diese tapferen Helden des Erdbebens von Wenchuan denn abgeblieben seien, und warum sie denn in Kyegudo nicht zu sehen sind.

Als die Soldaten zum Mittagsessen weggingen, flehte ein kleiner Junge unter Tränen, sie möchten doch sobald wie möglich zurückkommen, um seine Familie zu retten. Als ich diese Szene mit eigenen Augen sah, war ich dermaßen erschüttert, daß ich innerlich entsetzlich litt. Die Rettungsmannschaften der Armee zogen sich, sobald sie nur den geringsten Hunger verspürten, immer wieder in ihr Lager zurück.

Als ich diesen Gedanken nachhing, wurde mir klar, daß all die Fernsehprogramme meinen Geist nur verwirrt hatten und jeder im TV Gezeigte ein perfekter Schauspieler ist. Tatsache ist, daß die Rettungsarbeit kein einfacher Job ist. Wenn beispielsweise ein Teil eines zweistöckigen Gebäudes eingefallen ist, kann auch die andere Seite jederzeit einstürzen, weshalb sich die Leute, die daneben nach Verschütteten graben, einer großen Gefahr aussetzen. Daher müssen diejenigen, die ein so großes Risiko auf sich nehmen, um das Leben anderer zu retten, Leute sein, die ihre Mitmenschen wirklich lieben oder bereit sind, ihr Leben für andere zu opfern. Aber von dieser Sorte gibt es nur wenige, und die meisten Leute sind nur Schauspieler auf dem Fernsehschirm.

Butterlampen für die Toten (Phayul)

Gegen Nachmittag an diesem Tag kamen einige der chinesischen Rettungsarbeiter, aber nach einer Stunde gingen sie mit der Begründung, daß hier keine Menschen mehr unter den Trümmern lägen, wieder weg. „Und selbst wenn es welche gibt, dann können wir doch nichts tun, um ihnen zu helfen“, sagten sie. Wir entgegneten den Soldaten, sie sollten doch nicht so handeln, denn es gäbe wahrscheinlich noch Lebende unter den Ruinen der Häuser. Leider mißachteten sie unsere Worte und entfernten sich sofort darauf.

Alle TV-Programme beteuern andauernd, daß die Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten eins seien und Seite an Seite arbeiteten, und die rührenden Szenen, wo die Menschen sich gegenseitig helfen, sind überall zu sehen. Aber in Wirklichkeit gibt es zwischen dem chinesischen und dem tibetischen Volk viel mehr Enttäuschung und Ärger als Einmütigkeit.

Als wir uns daran machten, Menschenleben im nördlichen Teil der Stadt zu retten, war, soweit wir mitbekommen hatten, von den offiziellen Teams noch niemand dorthin gesandt worden. Als wir ankamen, sahen wir jedoch viele Leute, die Spruchbänder hochhielten, auf denen ihre Rettungsparolen standen. Da kamen auch schon ein paar Photographen, die Aufnahmen von ihnen machten.

Es ist sehr unfair, traurig und entmutigend, daß sie die enorme Rettungsarbeit die von den Mönchen und gewöhnlichen Tibetern vollbracht wurde, als das Verdienst der chinesischen Bergungsteams hinstellen. Die Wahrheit ist, daß die ganze Stadt von schwer bewaffneter Polizei bewacht wurde. Ich dachte, wie gut es doch wäre, wenn die Regierung mehr Rettungsteams einsetzen würde statt all der Sicherheitskräfte, die die Menschen unter Kontrolle halten sollen. Und als ich weiter über die Politik dieses Regimes nachdachte, fragte ich mich, was wohl die Zielscheibe der Gewehre sei, die die Soldaten tragen? Als ich begriff, daß die tatsächliche Zielscheibe der Gewehre die Menschen von Kyegudo sind, die gerade ihre Lieben verloren haben, traten mir die Tränen in die Augen.

Ich hörte, daß der chinesische Premier Wen Jiabao in Kyegudo eingetroffen sei. Wen sagte zwar: „Euer Verlust ist unser Verlust und Euer Leid ist unser Leid“ – ein Ausspruch der viele Menschen in der Gegend angeblich tief bewegte, aber sein Besuch hatte offensichtlich die Auswirkung, daß alle Teile der Stadt blockiert waren und die Bergungskräfte nur mehr Akteure in den staatlichen Fernsehnachrichten waren.

Am fünften Tag nach dem Erdbeben stattete Präsident Hu Jintao der Katastrophenregion einen Besuch ab. Er begrüßte die Soldaten: „Ihr müßt jetzt sehr müde sein und ich möchte Euch für eure enormen Anstrengungen danken“. Er äußerte kein einziges Wort über die fünfzehntausend Mönche und Nonnen, die unermüdlich vor Ort arbeiteten. Im Gegenteil, es gab eine Menge Vorfälle, wo die Mönche und Nonnen beschimpft und schikaniert wurden, und es wird ihnen jetzt auch noch befohlen, mit ihrer Arbeit aufzuhören: „Es ist jetzt an der Zeit, daß ihr euch zurückhaltet“, bekommen sie zu hören.

Ich kann getrost sagen, daß wir eine bessere und effizientere Arbeit leisteten, als das, was wir von den Soldaten zu sehen bekamen, und wir haben nichts illegal getan. Wir hegen nicht den Wunsch, daß jemand zu uns komme und seine Hochschätzung für unsere Arbeit ausdrücke. Das wäre jenseits unserer Erwartungen, aber wir sind unendlich bedrückt, daß all unsere lebensrettende Arbeit von den Behörden als gesetzwidrige Aktivität angesehen wird.

Die Zufahrtsstraße zur Stadt und alle Straßen in der Stadt waren während des Besuchs von Hu Jintao elf Stunden lang geschlossen. Was die Rettung von Menschenleben betrifft, sind die Folgen von Hus unpopulärem Besuch in der Region nicht abzuschätzen. Mir kam zu Ohren, daß eine Gruppe von Mönchen auf dem Weg zum Kloster Trango war, um dort Mönche zu retten, aber sie wurden unterwegs angehalten und der Fahrer des Fahrzeugs sogar von der Polizei verwarnt.

Die ganze gekünstelte politische Show und der sinnlose Aktionismus der Offiziellen verzögerten nur die Rettung von Menschen, die unter den Trümmern nach Hilfe schrieen, sowie die Austeilung von Nahrungsmitteln an die Hungernden und die vom Tode Bedrohten. Da die Chinesen jedoch ausgezeichnet schauspielern und Propaganda machen können, scheint es, daß sie die Blicke der internationalen Gemeinschaft erfolgreich auf sich ziehen.

Abschließend möchte ich zu etwas aufrufen, nämlich dazu, daß dieses tragische Geschehen nicht als eine Bühne für politische Akteure mißbraucht wird. Die Rettung von Menschenleben sollte doch die oberste Priorität einer Regierung sein. Bitte sehen Sie davon ab, den Überlebenden des Erdbebens noch mehr unnötiges Leid zuzufügen!

Auf einer Bühne, die um den Preis des Lebens von Tausenden von Menschen errichtet wurde, ein politisches Drama zu inszenieren, ist eine weitere tragische Szene und kann nur als unmenschliches Verhalten bezeichnet werden.

Das „Bewußtsein der Hingegangenen“, am 21. April 2010

Diese Bilder sind der Serie von 970 Bildern entnommen, die das große Hilfswerk der Mönche zeigen