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Tibet unterm Stiefel - „Man redet nicht mehr, außer mit Freunden, deren man sich wirklich sicher ist“
Ursula Gauthier, Le Nouvel Observateur, 24. Juli 2008
Unablässige Patrouillen, jeden Augenblick Ausweiskontrollen, überall Spitzel, Überwachungskameras, verdeckte Mikrophone in den Straßen: vier Monate nach den Unruhen in Tibet herrscht auf Betreiben der chinesischen Zentralgewalt in Lhasa, aus dem die Journalisten verbannt sind, ein paranoides System, das an die schlimmsten stalinistischen Verfolgungen erinnert, wie unsere Sonderberichterstatterin Ursula Gauthier feststellte.
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Chinesische Soldaten in Lhasa im Juli
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In Lhasa sind die Taxifahrer fast alle Chinesen, die Rikschafahrer fast alle Tibeter: das ist eines der sichtbarsten Zeichen für die soziale Ungleichheit, was die Tibeter mit den Zähnen knirschen lässt. Aber seit der Niederschlagung des Volksaufstands vom 14. März und der Verhängung des Kriegsrechtes, das aber nicht bei seinem Namen genannt wird, hört man nicht mehr die leiseste Klage. Man muss völlig verrückt sein oder mehr als leichtsinnig, um die Stimme zu erheben. Oder betrunken. Das war der Fall des jungen Mannes, der eines schönen Juniabends, drei Monate nach den Unruhen, ein Taxi nimmt. Er kommt aus einer „guten tibetischen Familie“, ist angeheitert und zweifellos arrogant. Er vertraut sicher zuviel auf die Fähigkeiten seines Vaters, eines hohen Parteikaders, alles wieder richten zu können. Er lässt eine Menge unfreundlicher Äußerungen über diese Chinesen ab, die sich in Tibet aufführen wie in einem besetzten Land. Unter normalen Umständen hätte der Taxifahrer sich bedeckt gehalten, schon aus Angst, dass der verwöhnte Sohn eines einflussreichen Vaters ihn um seine Lizenz bringt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Der kleine Taxifahrer aus Sichuan hält an der nächsten Kreuzung und er beschwert sich bei den Soldaten, die dort wie an jeder Straßenkreuzung postiert sind. Die Militärs stürzen sich auf den Betrunkenen. Ungeachtet seines Aussehens, das ihn als zur Nomenklatura gehörig ausweist, des Namens seines Vaters, den er laut auf Chinesisch brüllt, werfen sie ihn aufs Pflaster und treten ihn mit ihren Stiefeln - bis der Tod eintritt. Vor Schreck erstarrt hat eine ungeheure Menge dem Spektakel zugeschaut, ohne ein Wort, ohne die geringste Geste.
Mission erfüllt. Jeder Tibeter, ob oben oder unten auf der sozialen Leiter, weiß von nun an, dass er beim leisesten Verdacht der Respektlosigkeit gegenüber dem chinesischen Machapparat den Tod riskiert. Lhasa muss schleunigst die gefährlichen Ansammlungen junger Leute vergessen, die vor Aufregung schrieen während sie die Gitterstäbe der Bank of China herausrissen, Militärlastwagen mit Steinen bewarfen, chinesische Läden anzündeten und deren Besitzer verprügelten. Nachdem zunächst die unerhörten Bilder dieser Tage der Unordnung und Rebellion im Fernsehen wieder und wieder gezeigt wurden, will nun die Staatsgewalt Herz und Verstand der Menschen mit Bildern des Schreckens überschwemmen.
Die Militärpräsenz ist erdrückend, die Ausweiskontrollen hören nicht auf. Seine Papiere nicht bei sich zu haben, hat die sofortige Festnahme zur Folge, manchmal das endgültige Verschwinden. Denn der Kampf gegen die „kriminellen Elemente“, die für die Unruhen im März verantwortlich sind, ist noch lange nicht beendet. Eine Liste mit den gesuchten Unruhestiftern hängt immer noch an den öffentlichen Plakatwänden. Die Kontrollen gelten vor allem den großen, kräftigen Männern mit langen Haaren, rotbraunem Teint, einer Gebetskette am Handgelenk, einen Türkis um den Hals baumelnd oder einen goldenen Zahn: den Tibetern vom Hochplateau, die bei den Märzunruhen die große Mehrheit stellten. „Die meisten von ihnen sind in ihre Dörfer zurückgekehrt“, flüstert mir ein Bewohner Lhasas unter dem Schutz der Anonymität zu. „Diejenigen, die mehr oder weniger in die Unruhen verwickelt waren, wurden verhaftet, gefoltert, deportiert. Eine chinesische Freundin, die einige Wochen nach den Unruhen den Zug nahm, sah Hunderte von verletzten Menschen, hinkend, mit schmutzigen Verbänden, in Handschellen, die mit dem Zug nach Xining gebracht wurden. Von da aus sollte es weitergehen nach Sinkiang [Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang], wo sich die schlimmsten Straflager in China befinden. Die Familien, Nomaden oder ungebildete Bauern, trauen sich nicht, Rechenschaft über den Verbleib ihrer Verwandten zu verlangen …“.
Diese Jagd nach Gesichtern hat die Straßen Lhasas von den beeindruckenden mit Schmuck behangenen Nomaden geleert, die die Gebetsmühlen in Schwung brachten. Es gilt vor allem, jede Ähnlichkeit mit diesen stolzen Khampas zu vermeiden, die es wagten, sich gegen die chinesischen Herren aufzulehnen. Das war das Aus für die ethnische Mode, die bei den jungen Leuten Lhasas, die in sein wollten, angesagt war. „Niemand trägt mehr schulterlange Haare, das ist viel zu gefährlich“, erklärt ein Musiker mit bitterem Lachen. „Wir haben uns alle so eine zerfranste Frisur zugelegt, wie sie dem Lifestyle der Chinesen entspricht…“ In der Hoffnung, nicht den Verdacht der allgegenwärtigen Uniformierten zu erregen.
Man kann keine drei Schritte machen, ohne an jeder Kreuzung, vor jedem öffentlichen Gebäude, an allen sensiblen Punkten oder symbolischen Orten der Stadt (Tankstellen, Post-, Bankgebäuden usw.) auf Gruppen von Soldaten zu stoßen, die mit bösem Gesicht fächerförmig verteilt sind, das Gewehr im Anschlag, den Finger am Abzug. In allen Straßen und Gassen, alle fünf Minuten, marschiert im Gleichschritt eine Militärpatrouille vorbei, das Gesicht verschlossen, in Tarnanzügen. Grau-grüne Lastwagen fahren ständig durch die Hauptstraßen und stellen ihre Ladung zur Schau, Bewaffnete Volkspolizei mit kompletter Ausrüstung Helm, Schild, Gummiknüppel, Gewehr … Reichen die zahlreichen um die Stadt verteilten Kasernen nicht mehr aus, um den Truppenansturm unterzubringen? Ostentativ besetzen aus Sichuan herangekarrte Einheiten mit ihren polierten Fahrzeugen, ihrer Ausrüstung auf neuestem Stand das Tibetische Museum, die Tibetische Bibliothek, die von nun an für Besucher geschlossen bleiben.
Zu dieser Inszenierung, die darauf abzielt, Herz und Verstand zutiefst mit Schrecken zu erfüllen, kommt noch der Teil des Eisbergs hinzu, der bekanntlich unter Wasser ist und den man nicht sieht: die Tausende von Spitzeln, als normale Bürger verkleidet, als Nomaden, ja sogar als Mönche, die an allen öffentlichen Orten die Gespräche belauschen. „Man redet über nichts Persönliches mehr, es sei denn mit Freunden, deren man sich sehr sicher ist und an Orten, an denen man sich vor Lauschern wirklich sicher fühlt“, vertraut mir ein Tibeter halblaut an. „Nehmen Sie den Platz vor dem Jokhang Tempel, das ist der am besten bewachte Ort des Planeten.“ In der Tat, man braucht nur den Kopf zu heben und sich umzuschauen: neben den klassischen Überwachungskameras wurden die Gebäude, die den Vorplatz des majestätischen Herzens von Lhasa säumen, mit neuen Videokameras ausgestattet, die quasi am Ende langer horizontaler Arme sitzen. Sie sind „Fischaugen“, sie können sich um 360 ° drehen und filmen. Es geht das Gerücht um, dass ebenso Mikrophone mit Zoom angebracht wurden, die ein privates Gespräch aufzeichnen können, das in zehn Metern Entfernung von ihnen geführt wird.
Genug, um eine Atmosphäre der Paranoia zu schaffen, die an die schlimmsten Verfolgungen der Stalinära erinnert. Die einfachen Leute sind deshalb überzeugt davon, dass die Chinesen über fantastische technische Möglichkeiten verfügen. „Als die Hausdurchsuchungen anfingen, hat mir meine Kinderfrau unter Tränen anvertraut, dass sie zwei Fotos des Dalai Lama, die sie besessen hatte, selbst vernichtete“, erzählt eine Intellektuelle. „Warum hat sie sie nicht versteckt? Weil sie gehört hatte, dass die Chinesen ein spezielles Anzeigegerät besäßen, das piepst und selbst die am besten versteckten Fotos des Dalai Lama entdecken würde…“.
Dieser äußerste Schrecken, der das Irrationale streift, erklärt vielleicht teilweise das Fehlen von Fotos von der Niederschlagung der Unruhen. Gewiss die haben die Ordnungskräfte während der Hausdurchsuchungen, der Kontrollen, besonders nach Bildern gesucht, die Computer gefilzt, die Speicherkarten der Mobiltelefone und alles konfisziert, was nur im Entferntesten an die Ereignisse im März erinnerte. Doch muss man dabei auch die Selbstzensur in Rechnung stellen: „Wenn jemand den Mut aufbrachte, Aufnahmen von den Toten zu machen, dann muss er jetzt noch mehr Mut haben, diese nicht zu vernichten. Diese Aufnahmen außer Landes zu bringen, grenzt an Heroismus.“ So wird einem hinter vorgehaltener Hand versichert. Jeder, der auch nur irgendein im mindesten „heikles“ Foto besitzt, wird wie ein Verbrecher behandelt.
Alle Touristen, auch die chinesischen, müssen die eiserne Regel respektieren: keine Fotos, die für Verstimmung sorgen könnten. Die Agenturen, deren Aufgabe es ist, sich der ausländischen Besucher anzunehmen, haben sich gegenüber dem Tourismusbüro verpflichtet, ihre Kunden genau zu überwachen: „Keine Fotos vom Militär, keine von Polizisten. Keine Fotos von während der Unruhen zerstörten Gebäuden. Machen Sie keine Fotos von irgendwelchen Vorkommnissen, von etwaigen Zusammenstößen der Bevölkerung mit den Ordnungskräften. Bitte respektieren die Regeln, wir sind verantwortlich für Ihr Verhalten.“
Bis zu diesem Tag hat sich diese Strategie bezahlt gemacht: kein einziges Foto von den Gemetzeln im März, noch von den massiven Verhaftungen, die daraufhin erfolgten, ist durchgesickert. Was die von der augenblicklichen Militärpräsenz angeht, so reduzieren sich diese auf ein paar Fotos, die kursierten. Am 25. Juni hat China dennoch angekündigt, Tibet wieder für den Tourismus zu öffnen. In Wirklichkeit werden nur einige wenige unabhängige Reisende zugelassen. Was die akkreditierten Journalisten angeht, die theoretisch willkommen sind, so hindert man sie systematisch daran, sich dorthin zu begeben. Tibet ist die einzige Provinz Chinas, zu der der Zugang nur mit einer Spezialerlaubnis möglich ist fortan gelten drakonische Einschränkungen: der Aufenthalt ist auf sechs Tage begrenzt, die Besuche und Reiserouten müssen vorher festgelegt werden, der Guide, der Fahrer und sogar das Fahrzeug müssen vorher bestimmt werden, keinerlei Abweichung davon ist möglich… Hier werden die Touristen überwacht, wie die Milch auf dem Feuer.
„Bis zu den olympischen Spielen ist mit nichts anderem als mit dieser Augenwischerei statt einer wirklichen Öffnung zu rechnen“, so schätzt der Besitzer eines privaten Cafés die Lage ein. „Eine Konzession an die internationale Öffentlichkeit, genauso unecht wie die angebliche Wiederaufnahme des Dialoges mit den Sondergesandten des Dalai Lama.“ China versucht in Tibet offensichtlich Zeit zu gewinnen. Doch mit welchem Ziel? Was wird es nach den Olympischen Spielen machen? Endlich den wahren Ursachen für die Wut der Tibeter abhelfen? Oder, so wie es die traumatisierten Bewohner Lhasas befürchten, „die Endlösung“, wenn erst einmal die Welt ihre Aufmerksamkeit abgewendet hat?
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