10. November 2008
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China regiert die Tibeter mit eiserner Faust

Cameron Stewart, The Weekend Australian

In den schmalen Altstadtgassen der tibetischen Hauptstadt Lhasa fand diese Woche, verborgen vor den Augen der Weltöffentlichkeit, eine unerbittliche Militär-Operation statt. Beim Hereinbrechen der Nacht schwärmen Hunderte von chinesischen Soldaten, bewaffnet mit Schilden und Sturmgewehren, aus. China unterjocht die Tibeter mit eiserner Faust.

Sie richteten Wachtposten an jeder Straßenecke ein. Einheiten von jeweils sechs Soldaten, von denen drei Schilde und drei Gewehre tragen, patrouillieren die ganze Nacht durch die Straßen des tibetischen Viertels der Stadt – bereit, jedes Anzeichen von Unruhe sofort im Keim zu ersticken. Sie starren mich im Vorübergehen an, es ist offensichtlich, daß die Anwesenheit eines Fremden hier sie ärgert.

Bei Sonnenaufgang verschwinden die Soldaten nicht einfach, es gibt eine Wachablösung. Auch bei Tage ist der militärische Würgegriff unverändert, jedoch mit einem gruseligen Zusatz: Heckenschützen sind überall auf den Dächern rings um die heiligste Stätte Lhasas, den Jokhang Tempel, postiert, jederzeit bereit, ihre Gewehre auf Hunderte von tibetischen Pilgern zu richten, die unter ihnen betend auf dem Barkhor ihre Runden ziehen.

Heckenschützen auf einem Hausdach am Barkhor

Die Olympischen Spiele in Beijing liegen nur wenige Monate zurück, aber in Tibet herrscht keine euphorische Stimmung, wie man sie nach den Spielen erwartet hätte. Alle Hoffnungen auf größere Autonomie und Freiheit für Tibet wurden von der chinesischen Regierung zerschlagen, die, gereizt durch die anti-chinesischen Demonstrationen in Tibet und die Demütigungen während des Fackellaufes durch pro-tibetische Demonstranten, nun die Tibeter mit eiserner Faust niederhält.

In den vier Tagen, die ich in dieser Woche in Lhasa verbracht habe – der erste Besuch eines australischen Journalisten in Tibet seit dem Ausbruch der Unruhen im März dieses Jahres -, wurde ich Zeuge davon, wie sehr einer Stadt die Präsenz des Militärs zusetzen kann.

Bei meinem Zusammentreffen mit chinesischen Regierungsvertretern wurde mir klar, daß Beijing die Geduld mit dem Teil der Tibeter, die sich der Regierung entgegenstellt, verloren hat und zur Null-Toleranz übergegangen ist.

Die starke Militärpräsenz verrät Chinas unausgesprochene Angst, daß es die Herzen und Gemüter der Tibeter eher verlieren als gewinnen könnte. Denn sie werfen ja Peking gerade vor, ihre Kultur und Religion im Namen der Aufrechterhaltung der nationalen Einheit zu unterjochen.

In einem Interview mit „The Weekend Australian“ räumte Bai Ma Cai Wang, stellvertretender Gouverneur der Autonomen Region Tibet (TAR) ein, daß China nach der Niederschlagung der Unruhen im März vor kurzem die Anzahl der Sicherheitskräfte in Lhasa noch einmal aufgestockt habe. Es handelt sich um das erste öffentliche Eingeständnis, daß China das Polizei- und Militäraufkommen in Tibet verstärkt hat.

Militärpatrouillen in Lhasa

„Um die Stabilität in Tibet und die Sicherheit des Volkes zu gewährleisten und dem Wunsch des Volkes nach Sicherheit und Ordnung nachzukommen, hat die chinesische Regierung das Polizei- und Militäraufkommen in moderater Weise verstärkt“, sagte er.

Bai Ma sagte weiter, die Regierung befürchte eine Wiederholung der Ausschreitungen vom März dieses Jahres, die der „Dalai Clique“ und den Unterstützern des Dalai Lama anzulasten seien. „Nach den Unruhen vom 14. März haben der Dalai Lama und seine Unterstützer ihre separatistischen Aktivitäten weiter verstärkt.“

Obwohl der Dalai Lama das spirituelle Oberhaupt des tibetischen Volkes ist, wurde er in Lhasa von den Chinesen, die ihn als politischen Aktivisten für ein unabhängiges Tibet bezeichnen, einfach aus dem Erscheinungsbild der Stadt getilgt. Es gibt keine allgemein sichtbaren Bilder mehr von ihm, und aus Angst vor Bestrafung lassen sich die Tibeter in der Öffentlichkeit auch nichts mehr von ihrer Verehrung für ihn anmerken.

„Das Bild des Dalai Lama ist bereits aus den Köpfen der Tibeter verschwunden“, sagte Bai Ma. Doch die langen Schlangen von Tibetern, die vor dem Potala Palast darauf warten, den früheren Dalai Lamas ihre Ehrerbietung zu erweisen, und die Tausende von buddhistischen Pilgern, die sich jeden Tag inbrünstig vor dem Jokhang Tempel niederwerfen, erwecken einen ganz anderen Eindruck.

Ich besuchte Tibet zusammen mit Steve Lewis, einem Journalisten von News Limited, und Michael Johnson, einem liberalen Abgeordneten und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Parlamentarierkreises für australisch-chinesische Freundschaft, auf Einladung der chinesischen Regierung, die uns antrieb: „Berichten Sie in Australien über die Wahrheit in Tibet.“

Deshalb kamen wir in Lhasa mit hochrangigen Funktionären der Kommunistischen Partei, Abgeordneten und örtlichen Gouverneuren in Kontakt, doch das offizielle Programm beinhaltete keine Begegnungen mit angesehenen Buddhisten oder Personen, deren Ansichten von der offiziellen Linie abweichen.

Als ich um die Erlaubnis bat, das Drapchi Gefängnis besuchen zu dürfen, in dem sich mindestens 202 der bei den März-Unruhen festgenommenen Tibetern befinden, wurde mir dies verweigert.

Nur einmal, als wir uns bei Nacht aus unserem Hotel stahlen und auf ein paar der wenigen Englisch sprechenden Tibeter stießen, bekamen wir andere Meinungen zu hören. Doch selbst dann sprachen sie nur widerwillig, weil sie Angst hatten, daß sie gesehen oder gehört werden könnten, wenn sie mit uns reden.

Ein Mönch sagte, es gäbe in den letzten Wochen mehr und mehr Chinesen und mehr und mehr Soldaten in Lhasa. Doch niemand, so fügte er hinzu, würde etwas dagegen sagen, weil sie alle fürchteten, daß es der Polizei berichtet werde. „Überall sind Geheimpolizisten, sie überhören nichts, was man sagt... Manchmal ist der Barkhor voller Spitzel, die uns genau zuhören.“

Ein von Soldaten umgebener Mönch

Er sagte ferner, die Tibeter „fühlten sich sehr schlecht“ angesichts dieser Lage, doch sie seien ohnmächtig und könnten nichts dagegen tun.

Ein anderer Mönch erzählte, die Chinesen hätten überall an den stark von Touristen frequentierten Orten, wo diese mit Tibetern ins Gespräch kommen könnten, Abhörgeräte installiert… niemand traue sich mehr, mit Fremden über die wirkliche Lage in Tibet zu sprechen.

Am Montag sahen wir mit eigenen Augen, wie eine Gruppe tibetischer Mönche in ein Polizeifahrzeug gepackt und fortgebracht wurde. Wir versuchten, eine Erklärung dafür zu erhalten, doch ohne Erfolg.

Die chinesische Regierung hat nichts unversucht gelassen, um die ortsansässigen Tibeter zu überwachen. Sie hat überall an Gebäuden Fernseh-Kameras installiert und zusätzlich zu der hohen Anzahl von Polizisten und Soldaten in Uniform auch noch viel Polizei in Zivilkleidung eingesetzt.

In Gesprächen mit den chinesischen Offiziellen kam deren Frustration über die Situation deutlich zum Ausdruck. Sie können nicht verstehen, weshalb Jahre des wirtschaftlichen Wachstums die Tibeter nicht von ihren Träumen nach Autonomie und Unabhängigkeit von China abgebracht hätten. Es gibt bei Chinesen nur wenig Verständnis und schon gar keine Akzeptanz dafür, daß die Tibeter andere Prioritäten setzen könnten.

Bei solchen Treffen zitierten die chinesischen Vertreter Statistiken über die Verbesserung der Gesundheit, der Wohnverhältnisse, des Lebensstandards und der Lebenserwartung der Tibeter. Die chinesische Regierung hat Milliarden von Yuan in die Ökonomie Tibets gepumpt, so viel, daß die staatlichen Subventionen etwa 75% des Brutto-Inland-Produkts ausmachen.

Das Ergebnis ist in und um Lhasa sichtbar, wo man breite neue Straßen, anspruchsvolle Modegeschäfte und große Kaufhäuser, die Großbildschirm-Fernseher anbieten, bewundern kann.

Es gibt offensichtlich eine Mittelschicht, der es gut geht, modisch gekleidete Bürger mit Mobiltelefonen am Ohr, die die neuesten Autos fahren. Das Problem ist, daß diese ganze Mittelschicht fast ausschließlich aus Han-Chinesen besteht, aber nicht aus Tibetern, die überwiegend Hirten und Bauern sind und denen die Schreib- und Lesekompetenz und die Bildung fehlen, um die durch die chinesischen Investitionen geschaffenen wirtschaftlichen Möglichkeiten nutzen zu können.

„Während eine Minderheit von Tibetern mit Stellen im öffentlichen Dienst belohnt wurde, wird die Mehrheit der Tibeter, die nicht die Voraussetzungen hat, um von den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten zu profitieren, marginalisiert“, sagt Ben Hillman, Tibet-Experte des China-Institutes der Australischen Nationaluniversität.

Deshalb geht die Frustration der Tibeter noch über den allmählichen Untergang ihrer Kultur und Traditionen unter der chinesischen Herrschaft hinaus: Es ist auch ein Problem der wirtschaftlichen Entwicklung, ähnlich dem vieler indigener Völker auf der Welt, die von wirtschaftlich erfolgreicheren Einwanderern an den Rand gedrängt werden.

Es gibt Anzeichen dafür, daß einige chinesische Offizielle ihren Fehler erkennen, sich in der Vergangenheit zu sehr auf den Aufbau der Infrastruktur und nicht auf die Tibeter selbst konzentriert zu haben. „Das Bildungswesen in Tibet ist noch immer nicht zufriedenstellend“, sagte Wang Jinjun, stellvertretender Direktor des Informationsbüros des Staatsrates. „Wir werden uns nun mehr mit den Hirten und Bauern befassen müssen.“

An der wirtschaftlichen Notlage der Tibeter hat sich auf den Volksaufstand vom Frühling dieses Jahres hin nichts geändert, aber den Tourismus in Tibet hätte er fast zum Erliegen gebracht. Geschäfte und Cafés sind leer, und es ist kaum ein ausländischer Tourist in der Stadt zu sehen.

„Die Tibeter haben sich dies nur selbst zuzuschreiben“, sagte Wang De Wen vom tibetischen Volkskongreß, „weil so viele von ihnen bei den Krawallen mitgemacht haben, bei denen 1317 Menschen festgenommen wurden.“

In Lhasa wimmelt es von paramilitärischen kräften

„Diese Tumulte wurden von den Tibet-Separatisten organisiert, an deren Spitze der Dalai Lama und seine Anhänger stehen, die den großen Sprung vorwärts in der Entwicklung Tibets nicht wahrhaben wollen. Sie haben die Gewaltausbrüche angezettelt, die ganze mutwillige Zerstörung, die Plünderei und das Anzünden von Geschäften“, sagte er. „Diese Ausschreitungen haben der Wirtschaft einen verheerenden Schaden zugefügt, der seit sich März auf 320 Millionen Yuan (70 Millionen $) beläuft.“

Der stellv. Generalsekretär des tibetischen Volkskongresses, Tonga, wollte sich nicht zu den nach den Unruhen verhafteten Personen äußern, behauptete aber, die meisten der Tibeter, die in die Ausschreitungen involviert waren, bereuten nun ihre Taten. „Nach unserer Erziehungsmaßnahme bereuen die meisten von ihnen, was sie getan haben.“ Auf die weitere Frage hin, was das zu bedeuten habe, erwiderte er: „Ein maßgeblicher Regierungsbeamter unterrichtete sie darüber, was richtig und was falsch ist“.

Tibetische Beamte, mit denen wir sprachen, wiesen alle Behauptungen zurück, daß die Religionsfreiheit der Tibeter extrem eingeschränkt sei. Der Leiter des Büros für religiöse Angelegenheiten der Autonomen Region Tibet (TAR), Kalsang, leugnete die im Westen weithin verbreitete Ansicht, tibetische Mönche müßten als Teil des „Erziehungsprogramms“ in den Klöstern Seine Heiligkeit den Dalai Lama schmähen.

Ihm widersprach teilweise einige Tage später Wang Jinjun, der zugab, daß Mönchen in Tibet in „Informations-Programmen über Gesetzeskunde“ beigebracht werde, Religion und Politik nicht miteinander zu vermischen.

Der erstaunlichste Aspekt bei den Zusammentreffen mit den chinesischen Beamten war das Ausmaß ihrer Feindseligkeit gegenüber dem Dalai Lama, der, zusammen mit der tibetischen Regierung-im-Exil beschuldigt wird, den Aufstand geschürt und die tibetische Sache im Westen zu einer cause celebre gemacht zu haben.

Die chinesische Regierung betrachtet die ständig wiederholten Beteuerungen des Dalai Lama, daß er nur größere Autonomie für Tibet innerhalb Chinas, nicht aber die Unabhängigkeit anstrebe, als nicht der Wahrheit entsprechend.

Als ich frage, ob die Probleme Chinas in Tibet geringer würden, wenn Tibet mehr Autonomie zugestanden würde, während China gleichzeitig die nationale Kontrolle über die Region beibehalten würde, machte Wang Jinjun eine ablehnende Geste und sagte, so etwas würde Tibet in den Status des Feudalismus zurücksinken lassen. „Tibet darf nie wieder in den Zustand einer rückständigen Gesellschaft unter theokratischer Herrschaft zurückfallen“, sagte er.

Von der menschlichem Dimension dieses verfahrenen Problems kann man bei einem Spaziergang durch Lhasa einen Eindruck gewinnen, wo ich an meinem letzten Tag eine Gruppe Tibeterinnen beobachtete, die ihre Babies auf den Rücken gebunden hatten und schwatzen und lachten – unter den wachsamen Augen eines Scharfschützen auf einem Dach!