26. August 2008
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Olympiade - Ein Fest der Lügen

Von Jamyang Norbu


Jamyang Norbu
Jetzt, wo sich die olympischen Spiele dem Ende nähern, gibt es wohl nur wenige Menschen auf der ganzen Welt, die von all den Lügen, Täuschungen, Betrügereien, Manipulationen, all den Kontrollmaßnahmen und den Grausamkeiten, die sich die chinesische Regierung während der olympischen Spiele zuschulden hat kommen lassen, gar nichts gehört oder gelesen hätten oder sie sogar selbst bezeugen könnten. Tatsächlich hat es derart viele dieser Vorkommnisse gegeben, daß es sich lohnt, sie einmal aufzulisten, denn ich bin sicher, daß viele Leute das eine oder andere oder gar mehrere übersehen oder vergessen haben, falls sie ihnen anfänglich aufgefallen sein sollten.

Zunächst einmal wären da die spektakulären, computergenerierten riesigen „Spuren des Feuerwerks“, die bei der durchs Fernsehen übertragenen Eröffnungszeremonie „angefügt“ wurden.

Wußten Sie, daß die eintausend oder mehr Trommler, die während der Zeremonie en masse auftraten, alle Soldaten der Volksbefreiungsarmee oder Angehörige der bewaffneten Volkspolizei waren? Solche, die gerade turnusmäßig ausgetauscht waren und vielleicht noch kurz zuvor Menschen in Tibet oder Ost-Turkestan gefoltert oder erschossen haben?

Dann gab es da die allzu flotte 9jährige Lin Miaoke, die die „Ode an das Mutterland“ vorzutragen schien, obwohl sie in Wirklichkeit nur die Lippen zu einer Aufnahme des Gesanges eines anderen Mädchens bewegte, das als weniger attraktiv eingestuft worden war, nämlich der 7jährigen Yang Peiy. Falls der echte Panchen Lama (der sich unter Hausarrest in Beijing befindet) dies im Fernsehen verfolgt haben sollte, könnte er eine Art Déjà-Vu-Erlebnis gehabt haben.

Ai Weiwei, der ursprünglich den Plan für das Vogelnest-Stadion entworfen hat und einer der seltenen chinesischen Künstler oder Intellektuellen von Format ist, die noch eine eigene Meinung bewahrt haben, kommentierte: „Die Zeremonie täuschte ihre 600 Millionen Zuschauer und demütigte sie“. Noch 2007 hatte er Zhang Yimou und Steven Spielberg für ihre Choreographie der Eröffnungszeremonie kritisiert und ihnen vorgeworfen, sie würden ihrer Verantwortung als Künstler nicht gerecht werden.

Ein weiterer Programmpunkt in der Eröffnungszeremonie war eine Prozession von Kindern, die eine große chinesische Flagge ins Stadion trugen, wobei jedes der kostümierten Kinder für eine der ethnischen Minderheiten der Volksrepublik China (VRC) stand. Die Kinder waren aber alle Chinesen. Die Kinder der Minderheiten wurden vermutlich für zu barbarisch oder als potentielle Störfaktoren bei dieser großen Aufgabe betrachtet. Eines von ihnen hätte ja „Freiheit für Tibet“ rufen können.

Der Grund könnte ja auch der gewesen sein, daß es einfach keine Angehörigen von „Minderheiten“ mehr in Beijing gab. Wir wissen, daß beinahe jeder Uighure und jeder Tibeter aus der Stadt verbannt wurde, nicht nur Studenten und Besucher, sondern sogar die arme Amala, die Flitterkram an der U-Bahn-Station verkaufte. Tsering Shakyas Nichte, Dechen Pemba, wurde ebenfalls ausgewiesen, obgleich sie britischer Nationalität ist und sowohl ein Visum als auch einen Wohnberechtigungsschein besaß. Wir wissen außerdem, daß Wanderarbeiter, Beschwerdeführer von außerhalb der Stadt und viele andere Bürger die Hauptstadt unter Zwang verlassen mußten. Aber machen wir davon mal kein so großes Aufhebens, denn schließlich wurde das Visum für Joey Cheek, einem Eisschnelläufer, Goldmedaillengewinner und Menschenrechtsaktivisten, widerrufen, bloß weil er sich gegen den Völkermord in Darfur ausgesprochen hatte. Wenn nicht einmal Goldmedaillen-Gewinner zu den Olympischen Spielen reisen dürfen, wer darf es dann?

Wo wir schon von Aktivisten sprechen, sollten wir natürlich erwähnen, daß der chinesische Menschenrechtsaktivist Zeng Jinyan am Vorabend der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele einfach aus Beijing verschwand. Einige weitere chinesische Menschenrechtsaktivisten scheint das gleiche Schicksal ereilt zu haben, darunter auch den Anwalt Ji Sizun. Eine Freundin behauptete, sogar dasTelefonkabel in ihrem Appartement sei abgeklemmt worden. Sie sind verschwunden, einfach so. Wie die desaparecidos [die Verschwundenen] in Südamerika in den 70er Jahren.

Laut „Reporter ohne Grenzen“ wurden während der Olympischen Spiele 22 Journalisten angegriffen oder festgenommen. Mindestens 50 Menschenrechtsaktivisten wurden verhaftet und schikaniert oder gezwungen, Peking zu verlassen.

Alle Krankenhäuser in Beijing wurden angewiesen, ihre psychiatrischen Stationen abzuriegeln. Den Patienten wurde verboten, die Gebäude während der Spiele zu verlassen. Die Behörden haben dies vermutlich aus kosmetischen Gründen getan. Dem Reporter von New York Times fiel auf, daß es gar keine alten Leute auf den Straßen Beijings gab. Dies könnte auf Sicherheitsgründe zurückzuführen sein, da mehrere Hundert (vielleicht sogar Tausende) von Dissidenten, Mitgliedern unabhängiger Arbeiterorganisationen, Anhängern der Falun-Gong-Bewegung und andere Personen in spezielle staatliche psychiatrische Institutionen eingewiesen wurden, die „Ankang“ genannt werden. In diesen Anstalten müssen sie nach Meldungen von Human Rights Watch Medikamente einnehmen, werden mit Elektroschocks traktiert, und es werden unter Umständen psychochirurgische Eingriffe, möglicherweise sogar die präfrontale Lobotomie, an ihnen vorgenommen – alles, um sie von ihrem „antisozialen Verhalten“ zu „kurieren“.

Kommen wir nun zu den Spielem selbst. Es gab Berichte, daß mindestens drei der chinesischen Sportler, unter ihnen die Goldmedaillen-Gewinnerin He Kexin, das vorgeschriebene Mindestalter von 16 Jahren noch nicht erreicht hatten. Ein Experte der New Yorker Intrepidus Group für Informationssicherheit führte eine detaillierte forensische Ermittlung ihres Alters durch, die schließlich diesen Verdacht bestätigte. Interessant an der Sache ist, daß das Olympische Komitee der USA noch nicht einmal eine Untersuchung der Angelegenheit forderte. Wenn He Kexin und weitere Sportler aus Altersgründen disqualifiziert worden wären, hätten die USA viel zu gewinnen gehabt, doch es scheint, daß niemand die chinesischen Gastgeber verärgern möchte.

Bei den Einzelwettkämpfen der Frauen erzielte die amerikanische Kunstturnerin Nastia Liukin genau das gleiche Ergebnis wie He Kexin, erhielt jedoch wegen einer „hoch komplizierten Abstimmprozedur“ – so kompliziert, daß niemand weiß, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist – nur die Silbermedaille. Auch dazu schwiegen die USA. Irgendwo heißt es in der Bibel: “Und wer borget, ist des Lehners Knecht“ (Sprüche, 22,7).

Die brasilianische Stabhochspringerin Fabiana Murer erzählte, das olympische Personal habe während des Finales im Vogelnest ihren Stab für verloren erklärt, weshalb sie den Wettkampf nicht antreten und auch keine Medaille gewinnen konnte. Sie hatte nach den Ausscheidungskämpfen die besten Chancen für eine Goldmedaille. Murer sagte, sie würde ganz gewiß nie mehr nach China kommen. Es könnte von den Offiziellen so hingedreht worden sein, aber den meisten Berichten zufolge benahmen sich die chinesischen Sportler kameradschaftlich und gesittet. Das ist bewundernswert, wenn man bedenkt, was einige von ihnen durchmachen mußten.

Die New York Times veröffentlichte eine Reihe von Artikeln über die vielen chinesischen Berufssportler, die unter großem Druck trainieren müssen. Goldmedaillen-Gewinner wie der Kanute Yang Wenjun, der Sohn armer Reisbauern, und Ma Pengpeng, ein Ruderer und Provinzsieger aus der Stadt Handan, wurden bereits als Kinder zwangsrekrutiert. Ihnen wurde der normale Bildungsweg versagt, damit sie ihr ganzes Leben dem Sport widmen und trainieren können, wie die Behörden es für sie vorgesehen hatten. Es gab andere Geschichten über Goldmedaillengewinner im Gewichtheben, die in der Folge verarmten und so krank wurden, daß sie starben, und über andere Sportler, die wie Müll weggeworfen wurden, als sie verbraucht und dem Staat nicht mehr von Nutzen waren. Ein weiterer Artikel berichtete von der ungewöhnlichen Häufigkeit von Verletzungen bei chinesischen Athleten infolge Zwangstrainings und wiederholter Erschöpfung. Das soll nicht heißen, daß der Westen nicht auch seine Probleme mit dem Sport und der Gesundheit der Sportler hätte, aber der extreme Zwang und die Kontrolle, die der Staat über die Karrieren der Sportler, sogar über ihr Leben, ausübt, sind eine ganz andere Sache.

Aber gehen wir zeitlich ein wenig zurück. Es scheinen Diskussionen darüber im Gange zu sein, ob die Chinesen mit ihrer Fackel im Mai tatsächlich auf dem Gipfel des Mount Everest waren oder nicht. Es gibt ernsthafte Gründe anzunehmen, daß das alles gestellt war. Die chinesische Regierung sorgte dafür, daß alle Ausländer, sogar auf der nepalesischen Seite des Everest, hinausgeworfen wurden, unter ihnen auch das BBC-Team, das in Khumbu kampierte, um über das Ereignis zu berichten. Sogar die ausländischen Journalisten, die früher eingeladen worden waren, um Chinas großen Sieg zu protokollieren, wurden wieder ausgeladen. Das aus 30 Personen bestehende Evererst-Team wies keinen einzigen ausländischen Journalisten oder unabhängigen Beobachter auf. Einem nepalesischen Blog (Blogdai) zufolge bieten die offiziellen Filmaufnahmen der angeblichen Gipfelzeremonie, so wie sie den westlichen Medien gegeben worden waren, den zwingendsten Beweis für die Vortäuschung falscher Tatsachen. Keine alten und verblaßten Gebetsfahnen, die den Gipfel sonst markieren und auch mal ein paar Gipfelsaisonen überdauern, sind darauf sichtbar. Das vollständige Fehlen von visuellen Referenzpunkten – bekannte Gipfel, Bergketten oder andere Dinge im Hintergrund gibt zu denken. Die Bergsteiger waren viel zu gesprächig für die Höhe. Eine Vermutung ist, daß die olympische Fackel auf dem Gipfel des Mount Everest im Mai nicht zu entzünden war, so daß der große Augenblick für die Kameras einfach etwas weiter unten inszeniert wurde.

Eine Woche nach Beginn der Spiele kam heraus, daß alle chinesischen Journalisten eine 21-Punkte umfassende Liste mit Anweisungen von den Behörden erhalten hatten, auf der stand, was sie nicht erwähnen sollten, um negative Berichterstattung während der olympischen Spiele zu vermeiden. Die Liste wurde bei einer Pressekonferenz des IOC zur Sprache gebracht, doch der Sprecher des IOC leugnete, etwas von dieser Liste zu wissen und stellte ihre Authentizität in Frage. Als Teil der Abmachungen, um die Spiele ausrichten zu dürfen, hatte die chinesische Regierung nicht nur den ausländischen, sondern auch den chinesischen Journalisten während der Olympiade die Pressefreiheit versprochen.

Wir sollten uns daran erinnern, daß China für die Dauer der Spiele auch seinen eigenen Bürgern Redefreiheit garantiert hatte. Mittlerweile weiß jeder von den schändlichen „Protestzonen“, die die Behörden im Hinblick auf die Spiele eingerichtet hatten, damit die Leute dort protestieren und demonstrieren könnten. Und wir wissen auch, daß diejenigen Chinesen, die eine Genehmigung zum Protestieren (insgesamt waren es 77) beantragt haben, nicht nur alle abgewiesen wurden, sondern viele der Antragsteller sogar festgenommen wurden. Aber sicherlich sollte die Verurteilung zweier alter Frauen, der 79jährigen Wu Dianyuan und der 77jährigen Wang Xiuying, zu jeweils einem Jahr „Umerziehung-durch-Arbeit“ (láojiào), weil sie um eine Protesterlaubnis gebeten hatten, als der Gipfel der vielen unmenschlichen, brutalen und repressiven Handlungen der chinesischen Regierung während der olympischen Spiele angesehen werden. AFP berichtete, Wang und Wu dürften ihre Strafe zuhause abzusitzen, doch würden sie sofort in ein Arbeitslager geschickt, falls sie erneut unangenehm auffielen.

Wang und die fast blinde Wu sind nur zwei der 1,5 Mio. Männer, Frauen und Kinder, deren Häuser in Peking vor den olympischen Spielen niedergewalzt wurden, um Platz zu schaffen für den Bau der olympischen Einrichtungen und die städtischen Verschönerungsprojekte. Einer Rubrik im Boston Globe zufolge „kam das ‚Centre on Housing Rights and Evictions (COHRE)’ (Zentrum für Wohnrecht und Ausweisung) in Genf zu dem Schluß, daß die chinesischen Behörden, um die betroffenen Bewohner zu vertreiben, zu Schikanen, Repressalien, Inhaftierung und sogar Gewaltanwendung griffen“. Der Abbruch der Behausungen und die Zwangsräumung wurden ohne einen ordentlichen Verwaltungsbescheid vorgenommen. Die meisten Enteigneten wurden nicht entschädigt, und diejenigen, die es wurden, bekamen gewöhnlich nur einen Bruchteil ihres Eigentumswertes“, so wie im Fall der beiden Großmütter.

Der Artikel „China’s Totalitarian Games“ im Boston Globe ist Ausdruck für die zunehmende Empörung und Verurteilung von Chinas repressivem und unglaubwürdigem Regime, sowie der abstoßenden eigennützigen Engherzigkeit des IOC, zu der die Weltpresse sich schließlich durchgerungen hat. Man lese auch den Leitartikel der New York Times „Beijing’s Bad Faith Olympics“. Sollte all das nur ein vorübergehendes Phänomen sein? Werden alle ihre Schnauzen wieder in den chinesischen Futtertrog stecken, wenn sich der Reiz des Neuen an ihrer moralischen Entrüstung abgenutzt hat? Ich hoffe, nicht. Vielleicht sind die Risse in Pekings Fassade diesmal zu viele und zu groß, um einfach darüber hinwegzusehen. Wenn die Sensibilisierung anhält, dann muß dem IOC in gewisser Weise gedankt werden, weil es der Freiheit und Demokratie unwillentlich diesen Dienst erwiesen hat. Indem es China die Spiele zusprach und der chinesischen Regierung gestattete, in Lug und Trug zu schwelgen und alle und alles zu unterdrücken, öffnete es der Welt die Augen für das zutiefst heuchlerische und üble Wesen des kommunistischen Chinas.