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Kulturelle Invasion auf dem Schienenweg
Eine Bahnverbindung zum chinesischen Kernland wäre für die Tibeter nutzbringend gewesen, wenn sie bei der Entscheidung ein Mitspracherecht gehabt hätten!
von Tenzin Tsundue
Der Nomade Dhargyal, der am aktuellen Geschehen regen Anteil nimmt, ist tief bekümmert, weil das Land seiner Vorfahren aussieht, als ob dort gerade Minen explodiert wären, und seine Familie verzweifelt nach einem Stück Land sucht, wo sie ihre Yaks und Schafe vorübergehend weiden kann. Dhargyal, der nun in Dharamsala, dem Sitz des Dalai Lama und der tibetischen Regierung im Exil, wohnt, kann weder in seine weit entfernte tibetische Heimat zurückkehren, noch aufhören, sich zu sorgen.
Entlang der Bahnstrecke von Golmud in Qinghai nach Lhasa gibt es Hunderte und Aberhunderte tibetischer Familien, die wie die von Dhargyal ihr Weideland an die vor kurzem in Betrieb genommene Eisenbahn verloren haben. Während Peking mit der Bahn der höchstgelegenen der Welt als einer Meisterleistung der Ingenieurskunst und der Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung der Region Reklame macht, warten diese Familien immer noch auf eine finanzielle Entschädigung für ihren enteigneten Grund und Boden oder sie leben in Übergangsunterkünften, bis sie umgesiedelt werden.
Der Bau des neuen Schienenstrangs, der den äußersten Osten Tibets und die im südlichen Zentraltibet gelegene Hauptstadt miteinander verbindet, wurde im September letzten Jahres fertiggestellt knapp ein Jahr vor dem geplanten Zeitpunkt. Mitte Juli fuhr der erste Zug in den neuen Bahnhof von Lhasa ein. Entlang der gesamten 1.140 km langen Strecke hat sich die West-Chinesische Eisenbahnverwaltung, welche die Schienen einfach durch das Changthang genannte Grasland bauen ließ, riesige Flächen Land auf Kosten der tibetischen Bauern und Nomaden angeeignet. Da das ganze Gebiet eine erdbebenaktive Zone ist, konnten die Schienen nicht einfach auf einem schmalen Streifen Boden verlegt werden, sondern es mußten gewaltige Bahndämme mit abfallenden Böschungen errichtet werden, um dem Gleiskörper Halt zu geben. Dafür wurden auf beiden Seiten der Gleise größere Stücke Land benötigt. Der Landstreifen, der den Einheimischen für die Verlegung der Schienen weggenommen wurde, ist durchschnittlich 100 Meter breit.
In Yangpachen, ca. 90 km nordwestlich von Lhasa gelegen, dort wo Dhargyals Familie lebt, unterlief den Ingenieuren ein Fehler, und sie mußten schließlich eine andere Streckenführung wählen. Sie hatten bereits Gräben von vielen Kilometern Länge gezogen. Die Bauern klagen nun, durch die Erdarbeiten sei die empfindliche Ackerkrume zerstört worden und der Boden tauge nicht mehr für die Landwirtschaft. Die Einwohner verfügen nicht über genügend Mittel, um diesen kostspieligen Planungsfehler zu kompensieren.
Wie Nomaden in Nagchu, Damchung und Yangpachen berichten, kommen unter den Hochbrücken entlang der Eisenbahnstrecke immer wieder Tiere in großem Ausmaß zu Tode. Obwohl diese Brücken eigens dafür gebaut wurden, daß die Tiere sie unterqueren könnten, sind laut Aussage der Nomaden die Abstände zwischen den Pfeilern viel zu gering. Schafe, Yaks, Chiru (tibetische Antilopen) und Kyang (Wildesel) leben in dieser Gegend in großen Herden. Wenn nun riesige Mengen der Tiere versuchen, zwischen den Pfeilern hindurchzurennen, geraten sie häufig in Panik und dann kommen viele schwächere oder junge Tiere um. Es hat sich gezeigt, daß das, was als sichere Korridore geplant war, nun zu Todesfallen für die Wildtiere und das Vieh geworden ist.
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Die Überflutung von Xizang mit Han-Chinesen
Die Inbetriebnahme der Bahnlinie am 1. Juli rief bei zahlreichen Tibetern im Land selbst sowie bei denen im Exil große Ängste hervor, es könnte sich in ihrem Gefolge ein ungebremster Zustrom han-chinesischer Siedler ins Land ergießen. Dadurch stellen sich hier seltsame Assoziationen ein zu den traditionellen Geschichten über Dschingis Khan oder zu den Beutezügen der Kriegsherren, die in alter Zeit Osttibet heimsuchten und plünderten. Seit es die Eisenbahn gibt, bilden aber nicht so sehr diese kriegerischen Eroberer das Gesprächsthema der Tibeter, als der Zustrom von Wanderarbeitern oder arbeitslosen College-Absolventen aus China, für die der Zug ein unmittelbares Sprungbrett in ein Land voller Chancen darstellt.
Peking ermutigt solche Aspirationen, und es preist Tibet als "Xizang" an, was die “Schatzkammer des Westens” bedeutet. In den großen urbanen Zentren Chinas gibt es bereits um 49$ Fahrkarten für den Zug, während die Fahrkarten für die Luxusklasse 160$ kosten (in London bieten Reisebüros die Luxus-Bahnfahrt für sage und schreibe 8.000$ an.)
Die größeren tibetischen Städte wie Lhasa, Golmud, Chamdo und Shigatse sind bereits von han-chinesischen Geschäften und Waren überflutet worden. 1997 plante Peking die Umsiedlung von 80.000 Han-Chinesen in ein entlegenes Gebiet in der nordost-tibetischen Provinz Amdo. Damals gelang es westlichen Tibet-Aktivisten durch ihren Einsatz, die Weltbank zur Intervention zu motivieren und damit das Projekt wegen mangelnder Finanzierung zu Fall zu bringen. Nun wird die Eisenbahn aber die Dynamik verändern, und die Ansiedlung von Han-Chinesen wird nicht mehr zu bremsen sein. Nach Einschätzung eines chinesischen Entwicklungsinstituts werden 200 Millionen Han-Chinesen bis zum Jahr 2015 nach Tibet umgesiedelt werden. Die einheimische Bevölkerung Tibets wird auf 4-6 Millionen Menschen geschätzt, je nachdem, wie man die Grenzen Tibets definiert.
Die Tibeter befinden sich schon jetzt in ihrem eigenen Land gegenüber den Neusiedlern und Touristen in der Minderheit. Nun, da der neue "Wunderzug" in den Bahnhof von Lhasa einrollt, fürchten die Tibeter, daß sie bald in der vollständigen Bedeutungslosigkeit versinken werden. Das chinesische Tourismusministerium teilte mit, daß im vergangenen Jahr über 1,2 Millionen Touristen Tibet besucht haben, von denen 92% Han-Chinesen waren. Umgekehrt handelte es sich bei den paar Touristen, die in den 80er Jahren nach Tibet kamen, fast ausschließlich um Ausländer.
Schon seit der Ära von Mao Zedong war es der Traum der KPC, eine Eisenbahn zu bauen, die Lhasa direkt mit Peking verbinden würde. Jung Chang, die neue Autorität in Sachen Mao, schreibt im Zusammenhang mit der Übernahme Tibets durch China, daß Mao zu einer arglistigen Strategie griff, als die Roten Garden bei ihrem Versuch im Jahr 1950, Tibet militärisch zu durchdringen, auf Schwierigkeiten stießen, die durch seine einzigartige Topographie bedingt waren: Er versprach dem jungen Dalai Lama die Autonomie und begann gleichzeitig damit, Straßen zu bauen, die ins Innere Tibets führten. Als das Straßennetz dann fertig war, konnte Peking die Volksbefreiungsarmee ins Land schicken.
In andere Regionen wie die Innere Mongolei, die Mandschurei und Ostturkestan (Xinjiang) verlegte Bahnlinien zeigen, daß die Massen-Zuwanderung von Han-Chinesen nicht verhindert werden kann. Sie stellen heute 95% der Bevölkerung in der Mandschurei. Es gibt kaum noch Mongolen, die ihre eigene Sprache beherrschen. Das aufsässige Ostturkestan steht unter der strengen Kontrolle der Volksbefreiungsarmee.
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Schikanöse Entwicklungspolitik
Die Eisenbahn ist ein Teil des chinesischen Entwicklungsprogramms für den Westen, und sie soll weiter in den Himalaya-Gürtel hineingetrieben werden, um den direkten Handel zwischen Süd- und Ostasien zu fördern. Peking plant die Weiterführung der Bahnstrecke zu südtibetischen Städten wie Shigatse, Gyantse, Nyingchi und Yadong. Ferner gibt es Pläne für zwei weitere Bahnlinien, die Chengdu und Yunnan in Südchina mit der Lhasa-Golmud-Bahn verbinden sollen.
Die neue von Golmud aus startende Bahnlinie wird Tibet durch die unvermeidliche Einführung der modernen Lebensweise chinesischer Prägung homogenisieren. Trotz aller Werbung Pekings für derartige Programme wegen ihres vermeintlichen Potentials, die tibetische Wirtschaft anzukurbeln, werden die Tibeter im großen und ganzen keinen Anteil daran haben, denn sie verfügen in der Regel nicht über die erforderlichen technischen und wissenschaftlichen Kenntnisse. Die unbesetzten Stellen für Zimmerleute, Installateure, Elektriker und Ingenieure dienen als Vorwand, um zusätzliche Han-Siedler nach Tibet zu holen und sie dann dort einzustellen.
Symbolisch mag die Eisenbahn für den Beginn einer neuen Phase der Vereinnahmung Tibets durch China stehen, wovon das Land heutzutage jedoch tatsächlich überrollt wird, ist eine nur am Konsum orientierte Kultur, deren extremste Auswüchse Karaoke-Bars, Alkoholismus, Prostitution und Drogenhandel darstellen; hinzu kommen die massive Ausbeutung der Bodenschätze und die Überflutung der Region durch Touristen. Das ist ein neuer Lebensstil, der von der wirtschaftlichen Entwicklung gefördert wird und der ungezügelten Marktwirtschaft entspricht, aber in direktem Widerspruch zu dem steht, was allgemein als die grundlegenden Werte der tibetischen Kultur betrachtet wird. Gegen diese neue Invasion ist eine Abwehr kaum möglich, denn die Fassade von Liberalismus und der vielversprechenden höheren Lebensqualität sind zu verlockend. Was die Kulturrevolution mit ihrer Brutalität und der Indoktrination kommunistischer Ideen nicht geschafft hat zu zerstören, was die Gesetze und die eiserne Faust der Unterdrückung im Laufe der letzten 50 Jahre nicht vernichten konnten, das fällt jetzt durch das Betreiben des chinesischen Staates und dessen beabsichtigter und gleichzeitig gedankenloser “Hanifizierung” der Globalisierung zum Opfer.
Wenn Peking Tibet wirklich weiterentwickeln will, muß es die Bedürfnisse der Tibeter berücksichtigen. Die Einführung und Durchsetzung seiner eigenen Sichtweise von "Entwicklung" ist nichts als Schikane. Diesen Punkt sollte man gerade jetzt, wo die Eisenbahn Lhasa erreicht hat und ihre Fangarme noch tiefer ins Innere Tibets ausstreckt, gut zu verstehen versuchen: Solange die Tibeter nicht entscheiden können, was sie wollen oder nicht, sind die Eisenbahnschienen nichts als ein Werkzeug der kulturellen Invasion.
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