15. Juli 03
Human Rights Watch, New York

Tibeter sind im chinesischen Rechtssystem verloren

Ein Aktivist freigelassen, andere jedoch weiterhin festgehalten

Human Rights Watch teilte heute mit, daß ein tibetischer Aktivist freigelassen wurde, was erfreulich ist, und forderte zugleich die Einstellung geheimer Gerichtsverfahren der chinesischen Behörden gegen andere Tibeter. Tserang Dondrup wurde am 11. Juli nach einem Jahr Haft freigelassen, allerdings gibt es nach wie vor kaum Informationen bezüglich der Umstände seiner Festnahme oder seiner Freilassung.

Human Rights Watch wies darauf hin, daß Chinas Weigerung, die langen Gefängnisstrafen für Tibeter zu bestätigen, wieder einmal die Entschlossenheit der chinesischen Regierung deutlich macht, zu verhindern, daß die internationale Gemeinschaft das volle Ausmaß ihres harten Vorgehens gegen die tibetischen Aktivisten erfährt.

"Weiterhin verschwinden Tibeter einfach in dem schwarzen Loch des chinesischen Rechtssystems", kommentierte Brad Adams, der geschäftsführende Direktor der asiatischen Sektion von Human Rights Watch. "Nichtöffentliche Prozesse und geheime Verurteilungen führen die Behauptung, das chinesische Rechtssystem verfahre gesetzmäßig, ad absurdum".

Es wird angenommen, daß sich Tashi Phuntsog, ein Gefolgsmann des sozialen Aktivisten und Mönchs Tenzin Delek Rinpoche, weiterhin im Gefängnis befindet; er wurde zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Wie verlautet, fand in der tibetischen autonomen Präfektur (TAP) Karze (chinesisch: Ganzi) in der Provinz Sichuan ein geheimes Verfahren gegen ihn statt.

Was inhaftierte Tibeter angeht, so erfährt man allgemein kaum etwas über die Anklagen gegen sie, noch den jeweiligen Haftort, die Strafdauer, ihre Haftbedingungen oder ihre Gesundheit. Sogar nach der Meldung von der Freilassung von Tserang Dondrup gab es keinerlei Bestätigung der Anklagepunkte gegen ihn oder gegen Tashi Phuntsog. Seit ihrer Verhaftung im Jahr 2002 ist keinerlei Hinweis auf einen dieser Männer in amtlichen Dokumenten oder den chinesischen Medien erschienen. Jedoch weiß man aus glaubwürdigen inoffiziellen Quellen von ihren Geheim-Prozessen und Verurteilungen.

Von beiden Männern wird angenommen, daß sie in schlechter gesundheitlicher Verfassung sind. Nach Berichten aus seiner Heimat konnte Tserang Dondrup nach seiner Entlassung weder sehen noch gehen und "seine Hände funktionierten nicht". Obwohl er versuchte, sich mitzuteilen, war seine Sprache unverständlich. Es ist unklar, ob sein gesundheitlicher Zustand lebensbedrohlich ist.

In den Gerichtsverhandlungen Ende letzten Jahres, die in den Medien höchste Publizität genossen, wurden Tenzin Delek Rinpoche und Lobsang Dondrup der Beteiligung an fünf Explosionen in der Provinz Sichuan für schuldig befunden. Tenzin Delek wurde im Dezember 2002 mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub zum Tode verurteilt. Lobsang Dondrup wurde am 26. Januar 2003 exekutiert. Amtliche Stellen haben niemals Tenzin Deleks angebliche Rolle bei den Vorfällen oder irgendeinen Beweis für die Schuld einer der beiden Männer vorgelegt.

Die Verhaftung von Tashi Phuntsog und Tserang Dondrup waren Teil einer "Aufräum-Aktion" gegen Tibeter, die mit Tenzin Delek in Verbindung standen. Human Rights Watch hat erfahren, daß zwischen dem Zeitpunkt der Verhaftung von Tenzin Delek im April 2002 und Februar 2003 mindestens dreizehn Personen, die ihm nahestanden, verhaftet wurden. China hat diese Verhaftungen niemals bestätigt. Vier weitere, die mit Tenzin Delek gearbeitet oder studiert hatten, sind aus Furcht vor ihrer Inhaftierung untergetaucht.

"China muß öffentlich über das Schicksal der inhaftierten Tibeter Auskunft geben", fuhr Adams fort. "Pekings Versagen im Hinblick auf eine offene Handlungsweise und seine von Repressionen gegen tibetische Aktivisten geprägte Geschichte geben berechtigten Anlaß zu Besorgnis bezüglich der Fairneß der Prozesse und der Haftbedingungen".

Hintergrundinformationen zu Tashi Phuntsog und Tserang Dondrup

Tashi Phuntsog, Anfang vierzig, gehörte seit Jahren zu den höheren Mönchen im Kloster Kham Nalendra Thegchen Jangchub Choeling und war ein enger Vertrauter von Tenzin Delek. Zur Zeit seiner Festnahme am 17. April 20002, zehn Tage nach der Verhaftung Tenzin Deleks, lag er gerade wegen Tuberkulose im Krankenhaus. Wie verlautet, verbüßt er eine siebenjährige Haftstrafe. Unbestätigten Berichten zufolge soll im April 2003, ein Jahr nach seiner Verhaftung, wegen "Unterstützung" von Tenzin Delek eine Verhandlung gegen ihn stattgefunden haben, wonach er in das Distriktgefängnis von Dartsedo (chinesisch: Kangding) kam.

Einem Bericht aus seiner Region zufolge sollen ihn Sicherheitsleute sechs Tage nach seiner Verhaftung in Handschellen zurück in sein Kloster gebracht haben. Die Sicherheitsbeamten hätten während dieses Besuchs ein gestelltes Video von seiner Festnahme aufgenommen.

Mönche, die Tashi Phuntsog kannten, berichten, daß er Tenzin Deleks "rechte Hand" war. Zusätzlich zu seiner Mithilfe beim Bau von Klöstern, Waisenhäusern, Schulen und Altenheimen arbeitete er bei Fragen der Umweltzerstörung, wie z. B. der massiven illegalen Abholzung und dem Abbau von Bodenschätzen eng mit Tenzin Delek zusammen. Tenzin Delek hatte versucht, derartige Aktivitäten in seiner Heimat zu stoppen oder wenigstens zu begrenzen. Tashi Phuntsog war an der Sammlung von schätzungsweise 40.000 Unterschriften unter eine Petition beteiligt, die Tenzin Delek und seine Arbeit verteidigte. Anfang 2001 wurde diese Petition den chinesischen Behörden übergeben.

Nach Berichten aus der Gegend verbüßte Tserang Dondrup (auch bekannt als Jortse), ein früheres Mitglied der kommunistischen Partei Chinas und Ortsvorsteher in Ortok, Gemeinde Horlong, eine fünfjährige Gefängnisstrafe. Er ist Ende sechzig oder Anfang siebzig. Er war einer der Hauptorganisatoren der Petition zugunsten von Tenzin Delek im Jahr 2000 und hat Tenzin Delek in seinen erzieherischen, religiösen und umweltpolitischen Anstrengungen in den Distrikten Lithang und Nyagchuka aktiv unterstützt. Wie verlautet, wurde er in seinem Prozeß beschuldigt "das Volk betrogen" und zur Unterstützung von Tenzin Delek "verführt" zu haben.

Dondrups Prozeß fand irgendwann zwischen Juni und November 2002 statt, wahrscheinlich im Distrikt Nyagchuka. Man weiß, daß er ursprünglich im örtlichen Haftzentrum festgehalten wurde und daß ein Versuch, ihn in eine Anstalt zu verlegen, die im Gefängnisnetz der TAP Karze unter dem Namen Rangakha bekannt ist, scheitert, weil das Gefängnis auf Grund seiner gesundheitlichen Konstitution und seines Alters die Aufnahme verweigerte.

Einem Bericht zufolge wurde Tserang Dondrup im Juni 2002 verhaftet. Als er aus seinem Haus trat, um einen höheren Beamten zu begrüßen, wurde er sofort von bewaffneten Polizisten ergriffen. Als seine Frau und sein Enkel versuchten, die Festnahme zu verhindern, reagierte die Polizei mit Gewalt und stieß beide zu Boden. Das Haus wurde durchwühlt und ein Bild des Dalai Lama zertrümmert. Bei dieser Durchsuchung von Tserang Dondrups Haus nahm die Polizei auch Fotos mit, die er in Chengdu und Peking aufgenommen hatte, als die Petition den Funktionären der Zentralregierung übergeben wurde. Einige Tage nach diesem Vorfall wurde Tserang Dondrup bei einer öffentlichen Versammlung in Ortok aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Außerdem wurden andere Parteimitglieder davor gewarnt, ihm nachzueifern.

Human Rights Watch glaubt, daß seit 2002 mindestens dreizehn weitere Tibeter wegen friedlicher politischer Aktivitäten, die vom internationalen Recht gedeckt werden, verhaftet wurden. Drei davon, alle Mönche höheren Rangs, verbüßten einjährige Verwaltungsstrafen zur Umerziehung durch Arbeit, weil sie sich angeblich "spalterischen Aktivitäten" hingegeben hatten. Andere wurden für Zeiträume zwischen einigen Tagen und Wochen inhaftiert, weil sie versucht hatten, Neuigkeiten und Einzelheiten bezüglich der Verhaftungen, der gerichtlichen Schritte, der Behandlung, der Identität und des Verbleibs der Inhaftierten weiterzugeben. Andere scheinen einfach auf Grund ihrer langen Verbundenheit zu Tenzin Delek festgenommen worden zu sein.

Verhaftungen von Tibetern, die von China offiziell bestätigt werden:

Tenzin Delek Rinpoche: verhaftet im Jamyang Choekhorling-Kloster in Nyagchuka, Provinz Sichuan, am 7. April 2002; angeklagt der "Aufhetzung zum Separatismus" und "terroristischer Verbrechen"; mit zweijährigem Aufschub zum Tode verurteilt. Die in China übliche Praxis ist, daß nach Ablauf der Zweijahresfrist bei Wohlverhalten des Gefangenen eine solche Strafe in lebenslänglich umgewandelt wird.

Lobsang Dondrup: 28 Jahre; inhaftiert in Chengdu; beschuldigt, Flugblätter für die Unabhängigkeit Tibets verbreitet und fünf Bomben gelegt zu haben; hingerichtet am 26. Januar 2003.

Nicht bestätigter Fall, immer noch in Haft:

Tashi Phuntsog: Anfang vierzig; Mönch im Kloster Jamyang Choekhorling in Nyagchuka, wahrscheinlich verhaftet am 21. April 2002, zur Zeit seiner Festnahme wegen Tuberkulose im Krankenhaus; verbüßt vermutlich eine siebenjährige Strafe.

Nicht bestätigte Fälle, freigelassen:

Tserang Dondrup (auch Jortse genannt): Ende sechzig oder Anfang siebzig; ungefähr am 7. Mai 2002 festgenommen; Laie, Dorfvorsteher und Mitglied der kommunistischen Partei; vermutlich zu einer fünfjährigen Strafe verurteilt, am 11. Juli aus unbekannten Gründen freigelassen.

Tsultrim Dargye: 36 Jahre; Mönch im Kloster Jamyang Choekhorling in Nyagchuka, am 7. April 2002 zusammen mit Tenzin Delek Rinpoche in selbigem Kloster verhaftet; nach einer einjährigen Strafe zur Umerziehung durch Arbeit freigelassen.

Tamdrin Tsering: 33 Jahre; Mönch im Kloster Jamyang Choekhorling in Nyagchuka, am 7. April 2002 zusammen mit Tenzin Delek Rinpoche in selbigem Kloster verhaftet, nach einer einjährigen Strafe zur Umerziehung durch Arbeit freigelassen.

Ashar (oder Aka) Dargye: 40 Jahre; Mönch im Kloster Jamyang Choekhorling in Nyagchuka, am 7. April 2002 zusammen mit Tenzin Delek Rinpoche in selbigem Kloster verhaftet; nach einer einjährigen Strafe zur Umerziehung durch Arbeit freigelassen.

Nicht bestätigte Fälle, festgehalten und freigelassen, aber nie offiziell verhaftet oder einer Straftat beschuldigt:

Tsultrim Dargye (Tsedi): einer von zwei Laien, die einige Zeit nach der Verhaftung der Mönche am 7. April 2002 festgehalten wurden, offensichtlich wegen Hilfeleistung beim Sammeln von Geldern zur Finanzierung eines Gesuchs anläßlich eines früheren Versuchs zur Inhaftierung Tenzin Delek Rinpoches.

Drimed Choeying (oder Drimed Gatso): einer von zwei Laien, die einige Zeit nach der Verhaftung der Mönche am 7. April 2002 festgehalten wurden, offensichtlich wegen Hilfeleistung beim Sammeln von Geldern zur Finanzierung eines Gesuchs anläßlich eines früheren Versuchs der Inhaftierung Tenzin Delek Rinpoches.

Damchoe Nyima (oder Tamdrin Nyima): ein Lama, der dieses Gebiet besuchte.

Aka Lhori (oder Akhu Lori): Geschäftsmann

Pasang: Mönch und Koch im Kloster Jamyang Choekhorling in Nyagchuka; festgenommen zusammen mit Tenzin Delek Rinpoche am 7. April 2002

Tseri Di-Di: Geschäftsmann und Verwandter von Tenzin Delek Rinpoche aus Lithang; festgenommen im Februar 2003 und freigelassen im April, vermutlich festgehalten, weil er Informationen über Gerichtsverfahren und vermutete Folter tibetischer Aktivisten in der Gegend von Nagchuka/Lithang an andere weitergegeben hatte.

Tapei (oder Tapo): Geschäftsmann, festgenommen im Februar 2003 und freigelassen im April; vermutlich festgehalten wegen Weitergabe von Informationen über den Fall Tenzin Delek Rinpoche an ausländische Journalisten.

Markam Tselo: Mönch aus Lithang, festgenommen Ende Februar 2003.

Verbleib unbekannt:

Choetsom: 19 Jahre, Novize im Kloster Jamyang Choekhorling, verschwand am 8. April 2003, dem Tag nach der Razzia im Kloster, als die Polizei das Kloster schloß; er gehörte zu denjenigen, die an diesem Tag intensiv von der Polizei befragt wurden.

Pasang: vermutlich knapp unter zwanzig; verschwand am 8. April 2003, dem Tag nach der Razzia im Kloster, als die Polizei das Kloster schloß; auch er war einer von denjenigen, die an diesem Tag intensiv von der Polizei befragt wurden.

Zwei weitere Personen, die anonym bleiben wollen, sind ebenfalls verschwunden. Sie flohen, nachdem sie erfuhren, daß die Sicherheitskräfte nach ihnen suchen.