12. Januar 2023

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy, www.tchrd.org
12. Januar 2023

Botschaft von vier UN-Menschenrechtsexperten an China zur erzwungenen kulturellen Assimilierung in Tibet

Das Tibetische Zentrum für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) begrüßt das Schreiben von vier UN-Menschenrechtsexperten an China, in dem sie die chinesischen Behörden um Klärung bitten, wie die jüngsten Entwicklungen in Tibet in Bezug auf repressive Gesetze, Maßnahmen und Praktiken in den Bereichen Bildung, Sprache und Religion mit den Verpflichtungen Chinas gemäß den internationalen Menschenrechtsgesetzen und -standards vereinbar sind.

Am 11. November 2022 äußerten die UN-Sonderberichterstatter für Minderheitenfragen, kulturelle Rechte, Bildung und Religions- und Weltanschauungsfreiheit in ihrer gemeinsamen Mitteilung an China ihre Besorgnis über „eine Politik der Akkulturation und Assimilation der tibetischen Kultur an die dominante han-chinesische Mehrheit durch eine Reihe von repressiven Maßnahmen gegen tibetische Bildungs-, Religions- und Spracheinrichtungen, die im Widerspruch zum Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit, zum Recht auf Bildung und zu den kulturellen Rechten des tibetischen Volkes stehen“.

Tibetische Kinder in einer Internatschule


Im Mai 2022 enthüllte ein vom TCHRD veröffentlichter Sonderbericht mit dem Titel „Sucked Our Marrow: Tibetan Language and Education Rights under Xi Jinping“ (1), wie ein Jahrzehnt von Xi Jinpings erzwungener kultureller Assimilationspolitik verheerende Folgen für die Bildungs- und Sprachrechte in Tibet hatte. Im September traf sich eine Delegation des TCHRD zur 51. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates mit den zuständigen Mandatsträgern im Rahmen des UN-Sonderverfahrens und den Menschenrechtsbeauftragten des Büros des Hochkommissars für Menschenrechte und übergab ihnen Kopien des oben genannten Berichts.

Die jüngste Mitteilung der Sonderberichterstatter an China ist insofern bemerkenswert, als sie die jüngsten Probleme und Entwicklungen in Bezug auf die tibetische Sprache, Kultur und Bildung sowie die Situation derjenigen, die sie verteidigen, hervorhebt. Nachfolgend sind ausgewählte Abschnitte aus dem Schreiben, die ähnliche Bedenken wie die im TCHRD-Bericht geäußerten, wiederspiegeln:

# Unter dem staatlich dominierenden Konzept der „Nation“ oder minzu, das den Kern von Chinas aktueller „ethnischer Politik der zweiten Generation“ (ronghe) bildet, werden alle nationalen, ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen als zweitrangig und dem Staat untergeordnet betrachtet.

# Es wird behauptet, daß die Sinisierungspolitik darauf abziele, alle Minderheiten und Gemeinschaften in die dominante han-chinesische Gruppe einzubinden.

# Es wird behauptet, daß die chinesische „Ethnopolitik der zweiten Generation“ dazu bestimmt ist, sieben Jahrzehnte, in denen den von Minderheiten bewohnten Regionen autonome Selbstverwaltungsbefugnisse eingeräumt wurden, rückgängig zu machen, mit der Absicht die ethnischen und sprachlichen Minderheiten Chinas zu assimilieren.

# Ferner wird berichtet, daß in einem im August 2021 vorgelegten 12-Punkte-Leitfaden zur „Stärkung und Verbesserung der ethnischen Arbeit“ die Forderung ergeht, daß alle ethnischen Gruppen in ihren Idealen, Überzeugungen, Emotionen und Kulturen zu einer Einheit verschmelzen, wozu die ethnischen Gruppen ihre Ideen, geistigen Vorlieben und Lebensweisen modernisieren müssen. Da es keine praktischen rechtlichen Garantien zum Schutz der Kulturen und Sprachen von Minderheitengruppen gibt und Nicht-Han-Minderheiten systematisch diskriminiert werden, ist zu befürchten, daß die ethnische Vermischung in der gegenwärtigen Situation zu einer Absorption der Minderheiten durch die han-chinesische Mehrheit führen wird.

# In der Autonomen Region Tibet wurde Putonghua (Standard-Mandarin) Ende der 1990er Jahre von der Primarstufe an zur Unterrichtssprache bestimmt. Berichten zufolge wurde Putonghua 2007 in 95 % aller Grundschulen und den meisten Mittelschulen und 2018 auch in allen ländlichen Grundschulen als Unterrichtssprache verwendet. Wie berichtet, wurden in den letzten Jahren auch in anderen tibetischen Gebieten, insbesondere in der Provinz Qinghai, immer mehr tibetischsprachige Schulen auf Putonghua umgestellt.

# So stellten die lokalen Behörden im Jahr 2017 Pläne vor für den Unterricht in Putonghua in der Tibetisch-Autonomen Präfektur Tsolo (chin. Hainan). Die Schulen in der Tibetisch-Autonomen Präfektur Golok (chin. Guoluo) wurden angewiesen, ab dem Schuljahr 2019-2020 Putonghua-Unterricht einzuführen. Auch in der Tibetisch-Autonomen Präfektur Yushu hat Putonghua die tibetische Sprache als Unterrichtssprache in allen Schulen längst ersetzt.

# Seit 2020 haben die chinesischen Behörden in den tibetischen und innermongolischen Gebieten das einheitliche Putonghua-Schulbuchsystem eingeführt, das den Unterricht in Putonghua auf allen Ebenen und in allen Klassenstufen verbindlich macht. Sowohl staatliche als auch private Schulen sind verpflichtet, die neuen Lehrbücher zu übernehmen. Damit ist das fast vier Jahrzehnte lang verwendete einheitliche tibetische Schulbuchsystem, das unter dem Namen „The Five Tibetan Provinces and Region Textbook Coordination Group“ bekannt ist, zu Ende gegangen. Diese Gruppe wurde 1982 von der Staatlichen Bildungskommission und der Staatlichen Kommission für ethnische Angelegenheiten mit dem Ziel gegründet, einheitliche tibetische Unterrichtsmaterialien für den Einsatz in Grund- und Sekundarschulen in allen tibetischen Gebieten zu entwickeln.

# Die „erste nationale Sprachkonferenz der neuen Ära“, die im Oktober 2020 in Peking stattfand, konsolidierte den übergeordneten Status von Putonghua als „nationale Standardsprache in Wort und Schrift“ in der chinesischen Politik und Praxis. Berichten zufolge unterstützte die Konferenz eine Reihe von Maßnahmen, die zur Zwangsassimilierung von Minderheiten führen, darunter die Zwangseinschreibung tibetischer Kinder in Schulen, die nicht auf der tibetischen Sprache und/oder Kultur basieren, die Einschränkung des Unterrichts in tibetischer Sprache sowohl in weltlichen als auch in klösterlichen Einrichtungen und die übermäßige staatliche Beteiligung an der Vorschulerziehung. Es wird ferner betont, daß die chinesischen Behörden deutlich darauf hingewiesen haben, daß die den nationalen Minderheiten in der Verfassung des Landes eingeräumten autonomen Befugnisse zur Verwendung und Entwicklung ihrer Sprachen der Politik zur Förderung des Putonghua untergeordnet sind.

# Seit 2011 haben die chinesischen Behörden die Beihilfe für vorschulische Bildungseinrichtungen erhöht, insbesondere in abgelegenen Nomaden- und Bauerngemeinschaften in der Autonomen Region Tibet und anderen tibetischen Gebieten. Berichten zufolge wird in all diesen Vorschulen auf Putonghua unterrichtet, obwohl die chinesischen Behörden behaupten, der Unterricht finde zweisprachig (Tibetisch und Putonghua) statt.

# Im Juli 2021 veröffentlichte das Generalbüro des Bildungsministeriums den „Plan zur Einführung der gleichen Aussprache aller Kinder“ für den Putonghua-Unterricht für Vorschulkinder. Der Plan schreibt vor, daß bis zum Herbstsemester 2021 alle Kindergärten in Minderheiten- und ländlichen Gebieten Putonghua als Unterrichtssprache verwenden und die Lehrkräfte eine Putonghua-Ausbildung absolvieren müssen.

# In letzter Zeit wurden Berichten zufolge sechs bekannte tibetische Grundschulen in den Dörfern Gemang, Bumser, Troshul, Asey, Warong und Tharshul geschlossen. Einige einheimische Tibeter haben Petitionen gegen diese Anordnung eingereicht und argumentiert, daß diese Schulen die einzige Möglichkeit sind, in der abgelegenen Nomadenregion tibetischsprachige Bildung zu bieten, aber vermutlich werden die Petitionen wenig Wirkung zeigen, denn die Behörden haben nicht nur beschlossen, alle Privatschulen zu schließen, sondern auch die Schulgebäude abzureißen.

# Am 8. Juli 2021 gab die Sengdruk-Taktse-Mittelschule im Kreis Darlag in der Tibetisch-Autonomen Präfektur Golok (chin. Guoluo) bei ihrer jährlichen Abschlußfeier offiziell ihre Schließung bekannt. Die Schule, die mit staatlicher Genehmigung und unter staatlicher Schirmherrschaft gegründet worden war, wurde auf staatliche Anordnung geschlossen, obwohl gegen kein Gesetz verstoßen worden war. Das Gesetz zur Förderung des privaten Bildungswesens in der VR China sieht vor, daß die Genehmigung einer Privatschule verlängert werden muß, wenn sie nicht gegen Gesetze verstoßen hat.

# Zum Zeitpunkt ihrer Schließung hatte diese halbprivate Schule etwa 300 Schüler und 40 Mitarbeiter, darunter zwei chinesische Lehrer (halbprivate Schulen werden teilweise vom Staat finanziert und sind verpflichtet, ihre Schüler zur Weiterbildung auf staatliche Schulen zu schicken).

# Die Schließung dieser Schule war für alle ein großer Verlust, da sie dank ihrer hoch engagierten Lehrer Schüler hervorgebracht hatte, die sich in der tibetischen Kultur auskannten. Außerdem wurde die Sorge geäußert, daß die tibetischen Schüler vor zusätzliche Herausforderungen gestellt würden, da sie nun dem Standardlehrplan auf Putonghua folgen und Prüfungen in Mandarin-Chinesisch ablegen müssten, um zu überleben.

# Nach der Schließung der Sengdruk-Taktse-Schule wurden die Schüler unter dem „Pflichtschullehrplan“ auf von der Regierung errichtete Internate mit Unterricht auf Putonghua geschickt. Den Schülern wurde dem Vernehmen nach gesagt, daß sie „eine falsche Erziehung erhalten hätten und umerzogen werden müßten“. Berichten zufolge haben mehrere Schüler in den folgenden Monaten die Schule verlassen.

# Sechs weitere tibetische Privatschulen in Golok waren offenbar bei der Schließung von Sengdruk Taktse auf dem Radar der Behörden. Einige der namhaften Schulen in Golok, die gefährdet sein könnten, sind die Ragya Sherig Norbu-Schule, die Machen Gangjong Rigzoe-Schule und die Tsathang-Mädchenschule im Bezirk Machen (chin. Maqin), die Minthang Chutruk Rigzoe-Schule und die Dorje Den Skills Berufsschule im Bezirk Chikdril (chin. Jiuzhi), sowie die Golok Tadrak-Schule im Bezirk Gadhe (chin. Gande). Alle 40 Lehrer der Sengdruk Taktse Schule, darunter auch zwei chinesische, wurden Berichten zufolge schriftlich über die Schließung der Schule informiert und mit Gefängnis bedroht, sollten sie das Schreiben an andere weitergeben.

# Alle Kinder in China, die älter als 6 Jahre sind (bzw. 7 Jahre unter besonderen Umständen), müssen in staatlichen Schulen eingeschult werden, um den neunjährigen Lehrplan der „Pflichtschule“ zu durchlaufen. Die neun Jahre umfassen die Primar- und die untere Sekundarstufe von 6 bis 15 Jahren. In der Autonomen Region Tibet wurde der Lehrplan für die Schulpflicht jedoch auf 15 Jahre ausgedehnt und umfaßt somit auch die Vorschule und die höhere Sekundarstufe, wodurch die staatlichen Behörden die absolute Kontrolle über die Bildung von Minderjährigen auf Kosten der Kinder und der elterlichen Wahl oder Präferenz erhalten.

# Bedenken wurden auch im Zusammenhang mit der so genannten Politik der „Doppelreduzierung“ geäußert. Am 24. Juli 2021 veröffentlichten die chinesischen Behörden die „Opinions on Further Reducing the Burden of Homework and Off-Campus Training for Compulsory Education Students (Double Reduction)“, die angeblich sofort in Kraft traten. Die Politik der „doppelten Reduzierung“ zielt darauf ab, die Belastung der Schüler durch Hausaufgaben und die von den Eltern zu tragenden Kosten für die Bereitstellung von Nachhilfeunterricht außerhalb des Campus zu verringern. Die Politik verbietet es privaten Nachhilfeunternehmen oder anderen Einrichtungen wie privaten tibetischen Kulturschulen und Nachhilfeinstituten, an Wochenenden und in den Ferien Nachhilfe außerhalb des Schulgeländes anzubieten. Statt dessen werden die Schüler ermutigt, an von der Regierung bereitgestellten Einrichtungen für „Sporttraining und außerschulische Aktivitäten“ teilzunehmen, die auf Putonghua durchgeführt werden.

# Freiwillige Initiativen von Mönchen, Gemeindeleitern und Lehrern, die tibetische Sprache und Kultur außerhalb des staatlichen Bildungssystems zu unterrichten, wurden, wie es heißt, eingeschränkt und unterdrückt.

# Seit 2012 sind privat geführte und finanzierte Schulen, die während der Winterferien Unterricht in tibetischer Sprache und Kultur für tibetische Kinder anboten, Berichten zufolge unter Druck geraten und wurden in rasantem Tempo geschlossen. So wurde beispielsweise die „Wonpo Language Protection Association“, eine Initiative der lokalen tibetischen Gemeinschaft im Kreis Wonpo in der Tibetisch-Autonomen Präfektur Kardze, dem Vernehmen nach aufgelöst. Ihren Mitgliedern wurde untersagt, Winterkurse und Alphabetisierungskampagnen durchzuführen. Bei einer Massenverhaftung von Tibetern in Dzachuka im August 2021 wurden Berichten zufolge auch die wichtigsten Mitglieder der „Wonpo Language Preservation Association“ verhaftet.

# Das Erlernen der tibetischen Sprache wird in den tibetischen Gebieten weiterhin dadurch verhindert, daß die Beherrschung der tibetischen Sprache auf dem Arbeitsmarkt oder bei Prüfungen im öffentlichen Dienst nicht verlangt wird. Es gibt nur wenige Berufe, die tibetische Sprachkenntnisse erfordern, wie z. B. Lehrtätigkeit, Übersetzung, Forschung und Arbeit in Fernsehstudios. Die eingeschränkte Beschäftigungsmöglichkeit für die tibetischsprachige Bevölkerung hat vermutlich vom Erlernen der tibetischen Sprache abgehalten und die Eltern veranlaßt, ihre Kinder auf chinesischsprachige Schulen zu schicken, um ihre Zukunft zu sichern. Die chinesischen Behörden rechtfertigen damit die Schließung der tibetischen Schulen. Außerdem soll es in Tibet einen Mangel an qualifizierten Lehrern für die tibetische Sprache geben, im Gegensatz zu dem Überfluß an Chinesisch- und Englischlehrern.

# Das tibetische Klostersystem, das bei der Förderung der tibetischen Sprache und Kultur an vorderster Front steht, ist als Ziel der von der Regierung geführten systematischen Kampagne zur Sinisierung des tibetischen Bildungssystems unter starken Druck geraten. So haben die chinesischen Behörden Vertreter des tibetischen Buddhismus aufgefordert, sich an die sozialistische Gesellschaft anzupassen und die Sinisierung des tibetischen Buddhismus voranzutreiben. Dies erfordert die Interpretation der zentralen buddhistischen Lehren, so daß sie die sozialistischen Werte und die Grundprinzipien der Partei fördern.

# Die tibetische Sprache in den religiösen Einrichtungen wird durch die Forderung nach vollständigem Unterricht für Mönche und Nonnen auf Putonghua untergraben. Alle buddhistischen Hochschulen und die zuständigen staatlichen Stellen wie die Einheitsfront-Abteilung und das Büro für Religiöse Angelegenheiten sind verpflichtet, Putonghua-Bildungsprogramme zu fördern. In den letzten zehn Jahren haben die chinesischen Behörden buddhistische Hochschulen in der Autonomen Region Tibet und anderen tibetischen Gebieten eingerichtet, um das traditionelle tibetische klösterliche Bildungssystem zu ruinieren und politisch korrekte religiöse Führer auszubilden.

# Die Klosterschule von Drango wurde im November 2021 abgerissen, dem Vernehmen nach unter Aufsicht der Polizei des Bezirks Drango (chin. Luhuo) und von Mitgliedern des Verwaltungsausschusses des Klosters. Zwei Wochen vor dem Abriß wurden der Abt und der Schatzmeister des Klosters willkürlich festgenommen. Die Mönche und die örtlichen Tibeter wurden gezwungen, sich an der Zerstörung zu beteiligen. Die Bezirksregierung gab als Grund für den Abriß das Fehlen einer ordnungsgemäßen Genehmigung an, doch die Tibeter vor Ort glauben, daß es sich um eine gezielte Kampagne zur Zerstörung der einzigen Schule im Bezirk handelt, die die tibetische Sprache, Kultur und Religion vermittelte. Durch den Abriß der Schule sind die Lehrer arbeitslos geworden, und die ehemaligen Schüler werden daran gehindert, sich in anderen Bildungseinrichtungen einzuschreiben.

(1) 11.5.2022 „Er saugt uns das Mark aus den Knochen: Tibetische Sprach- und Bildungsrechte unter Xi Jinping“,
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/TCHRD/2022/Sprach-%20und%20Bildungsrechte_11.5.22.html

„Sucked Our Marrow: Tibetische Sprache und Bildungsrechte unter Xi Jinping“. 2022
https://tchrd.org/wp-content/uploads/2022/05/Tibetan-Language-and-Education-Rights-Under-Xi-Jinping_TCHRD-Thematic-Report.pdf