27. November 2009
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD)
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Bericht von Dorjee Rinchen, einem Überlebenden des Massakers von Tongkhor

Ich heiße Dorjee Rinchen und bin 18 Jahre alt. Ich wurde im Dorf Tsara, Gemeinde Tongkhor, Bezirk Kardze, TAP Kardze, Provinz Sichuan, geboren, mein Vater heißt Dhondup Palden und meine Mutter Jamyang Lhamo.

Dorjee Rinchen zeigt die große Narbe seiner Schußverletzung

Letztes Jahr am 2. April 2008, kamen die Kader, die die „patriotische Erziehung“ (chin. Donggu) in der Gemeinde Zithang, Bezirk Karzde, TAP Kardze, Provinz Sichuan, durchführen, ins Kloster Tongkhor. Die Mönche traten in den Ausstand und verweigerten ihre Teilnahme.

Am 3. April 2008 überfielen die Kader des Arbeitsteams, begleitet von einem riesigen Kontingent an Sicherheitskräften der Bewaffneten Volkspolizei (PAP) und des Büros für Öffentliche Sicherheit (PSB) unser Kloster. Sie drangen in die Wohnquartiere der Mönche ein, rissen Bilder des Dalai Lama, von Tongkhor Shabdrung Rinpoche und des Panchen Lama von den Wänden, trampelten darauf herum und zerstörten sie mutwillig. Dies war zu viel für uns Mönche und wir weigerten uns, zu den Sitzungen der „patriotischen Erziehung“ zu kommen. Bei dieser Schulung müssen die Mönche sich vom Dalai Lama distanzieren, Widerstand gegen die „feindlichen separatistischen Kräfte“ geloben und der kommunistischen Partei durch ihre Unterschrift auf bestimmten Dokumenten ihre Loyalität und ihr Einverständnis mit deren Politik in Tibet bekunden.

An diesem Tag kam es zu einer größeren Protestaktion, als ein älterer Mönch und ein Laie festgenommenen wurden, weil sie sich gegen die „patriotische Erziehung“ gewehrt hatten und nicht zu dieser erschienen waren. Am Abend marschierten dann Hunderte von Mönchen, denen sich etliche ortansässige Laien anschlossen, zur Gemeindeverwaltung und forderten die sofortige Freilassung von Geshe Tsultrim Tenzin und des Laien Tsultrim Phuntsok.

Nachdem die chinesischen Beamten uns versichert hatten, daß die zwei festgenommenen Tibeter um 20 Uhr freigelassen würden, entfernten wir uns. Als wir jedoch merkten, daß sie ihr Versprechen nicht hielten, kehrten wir zurück, aber unterwegs stellten sich uns PAP und PSB-Kräfte in großer Zahl in den Weg. Es kam zu einer Auseinandersetzung.

Kloster Tongkhor

Wir forderten die Freilassung der zwei Mönche, die festgenommen worden waren, weil sie sich gegen die ihnen aufgezwungene „patriotische Erziehung“, die uns so viel Schmerz und Ungemach bereitet, gewehrt hatten. Wir riefen Parolen wie „Lange lebe der Dalai Lama“, „Unabhängigkeit für Tibet“, „Tibet gehört den Tibetern“, „Baldige Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet“ und „Laßt alle tibetischen politischen Häftlinge frei“.

Als unsere Rufe immer lauter wurden, feuerten die Militärpolizisten mit scharfer Munition in die Menge der aufgebrachten Tibeter. Dabei kamen, so weit wir wissen, 14 Tibeter ums Leben, und mindestens 83 der friedlich Protestierenden erlitten schwere Schußverletzungen. Später verhafteten die Sicherheitskräfte weitere 12 Tibeter, in denen sie die Anführer der Protestaktionen in Tongkhor sahen. Wir wurden willkürlich festgenommen, blieben fast ein Jahr lang inhaftiert und wurden auch gefoltert.“

Seit dem 10. März 2008 erhoben sich die Tibeter auf dem ganzen Hochland und demonstrierten massiv gegen die chinesische Regierung. Um diese Zeit fand auch im Kloster Tongkhor eine solche Protestaktion statt. Als Reaktion darauf schickten die Behörden eine große Menge bewaffneter Sicherheitskräfte, um gegen die Aufmüpfigen in der Gemeinde Tongkhor vorzugehen. Die chinesischen Soldaten wurden auf einem Gelände in der Nähe des Klosters Tongkhor stationiert, wo sie militärische Anti-Krawall-Übungen machten, um die dort lebenden Tibeter einzuschüchtern.

Es wurde angeordnet, daß jeder Haushalt 100 Gyama (1 Gyama = 500 g) Brennholz zu ihrer Versorgung zu liefern habe, doch nur wenige kamen der Order nach. Am 1. und 2. April 2008 kam dann ein chinesisches „Arbeitsteam“ ins Kloster, um die Mönche der „patriotischen Schulung“ zu unterziehen. Sie sollten dabei den Dalai Lama diffamieren, sich der politischen Indoktrinierung fügen und Dokumente unterzeichnen, in denen der Dalai Lama als Separatistenführer dargestellt wurde, und sich von den feindlichen spalterischen Kräften lossagen.

Wir weigerten uns jedoch, zu unterschreiben und an den uns aufgezwungenen Sitzungen des Arbeitsteams teilzunehmen. Lobsang Jamyang, der ranghöchste Mönch, widersetzte sich dem Befehl, die Mönche zu den Sitzungen zu schicken. Die Kader forderten nun eine Zusicherung der Mitglieder des Demokratischen Verwaltungsrates von Tongkhor, daß es in Zukunft keinen solchen Widerspruch mehr geben würde. Am selben Abend noch unterbrachen die Behörden außerdem die Telefon- und die Mobilfunkverbindungen und sperrten alle anderen Kommunikationsmittel, damit keine Information über die gewaltsame Durchführung der „patriotischen Erziehung“ im Kloster Tongkhor an die Außenwelt dringen konnte.

Am 3. April um 4 Uhr morgens umstellte eine große Menge von etwa 4000 Soldaten der PAP und des PSB in etwa 98 Panzerfahrzeugen das Kloster Tongkhor von allen Seiten. Es wurde auch ein Schießbefehl für das Kloster Tongkhor erlassen. Um 8 Uhr am Morgen des 3. April 2008 überfielen Angehörige des Public Security Bureau (PSB) in Fünfer- oder Sechsertrupps die Wohnquartiere und suchten nach Bildern des Dalai Lama, von Tongkhor Shabdrung Rinpoche, dem Schutzherrn des Klosters, sowie anderem belastenden Material. Sie trampelten auf den Bildern des Dalai Lama und von Shabdrung Rinpoche herum, und Mönche, die Einspruch erhoben, wurden geschlagen. Bei dieser Suchaktion wurden der 75jährige Geshe Tsultrim Tenzin und der Laie Tsultrim Phuntsok verhaftet. Danach stürmten die Sicherheitskräfte in die Gebetshalle des Klosters Tongkhor und beschlagnahmten alle Thangkas der Linien der Shabdrung Rinpoches, der Dalai Lamas und der Panchen Lamas.

Die chinesischen Behörden verbrannten 22 Säcke von den Thangkas dieser Würdenträger, die sie aus den Zimmern der Mönche entwendet hatten. Einige Schullehrer, die in der Nähe des Klosters wohnten, wurden gezwungen, die 22 Säcke beschlagnahmter Thangkas zu dem Buthok-Platz beim Kloster zu tragen, wo sie verbrannt wurden. Die chinesischen Soldaten machten sich sogar noch lustig über die heiligen Gegenstände und, weil sie in dem kalten Wetter froren, wärmten sie sich an den brennenden Rollbildern.

Die Sicherheitskräfte fotografierten und filmten, wie sie die Bilder und Fotos von Tongkhor Shabdrung Rinpoche, des Dalai Lama und des Panchen Lama zerstörten. Wir, die hilflosen Tibeter, mußten zuschauen. Um 4 Uhr nachmittags wurden die Mönche zu einer Versammlung einberufen.

Der Klostervorsteher sprach aufgeregt über die Vorfälle vom 1. und 2. April. Er sagte, die Mönche sollten entscheiden, was nun zu tun sei. Einige von ihnen standen auf und riefen: „Wenn wir nicht mehr in unserem Kloster bleiben dürfen, werden wir es nicht bedauern, wenn wir unser Leben verlieren“. Und plötzlich beschlossen die bis zum äußersten aufgebrachten Mönche statt der Gebete, die täglich um diese Stunde rezitiert werden, zum Verwaltungsgebäude am Buthok Platz zu marschieren. Dort riefen sie Parolen wie „Lange lebe der Dalai Lama, „Laßt alle politischen Gefangenen, einschließlich Geshe Tsultrim Tenzin frei“.

Die Behörden appellierten an die Mönche, ihren Protestmarsch einzustellen und versprachen, daß sie Geshe Tsultrim Tenzin und den Laien Tsultrim Phuntsok nach einem kurzen Verhör freilassen würden. Die Mönche hielten daraufhin an einer Brücke an und murmelten ihre Parolen nur noch vor sich hin. Sie warteten bis 8 Uhr abends. Als Geshe Tsultrim Tenzin zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht freigelassen worden war, riefen sie wieder laut ihre Parolen. Sofort umstellten zahlreiche PAP und PSB-Kräfte die Mönche und feuerten mit Maschinengewehren auf die friedlich Protestierenden.

Es waren schreckliche Augenblicke, einige Mönche, die hinter mir standen, fielen von den Schüssen getroffen um. In der Dunkelheit konnte ich nicht feststellen, wer sie waren. Die Protestierenden stieben in alle Richtungen auseinander, aber die Soldaten feuerten weiter auf die Fliehenden. Zu diesem Zeitpunkt wurde ich von einer Kugel an der Rückseite meines rechten Arms getroffen, wodurch ein großes Stück Fleisch von der Schulter gerissen wurde. Mit letzten Kräften kroch ich hinter einen Baumstumpf, wo ich mich versteckte und nicht mehr vom Fleck rührte. Ich sah, wie eine Frau von einer Kugel getroffen wurde, und ihre Schwester hilflos auf dem Boden neben ihr wimmerte. Obwohl ich der verwundeten Frau helfen wollte, konnte ich es wegen meiner eigenen schweren Verletzungen nicht tun.

Eine erschreckende Szene geht mir immer noch nach: Ein Mönch namens Lobsang Rinchen konnte nicht mehr an sich halten, er stürzte sich den aus ihren Maschinengewehren feuernden Sicherheitskräften entgegen und schrie: „Schießt mich tot, schießt mich tot!“. Eine einzige Kugel in die Schläfe streckte ihn nieder, und mit einem dumpfen Schlag fiel er zu Boden. Auch Tsering Kyi wurde niedergeschossen, ihr Bruder versuchte sie auf dem Rücken wegzutragen, aber nach wenigen Schritten starb sie. Das Geschehen war zu entsetzlich, um den Anblick länger aushalten zu können. Ich sah deshalb zu, daß ich von diesem Ort des Mordens und des Grauens wegkam.

Druklo Tso
Thubten Sangden
Tsewang Rigzin

Später erfuhr ich, daß mindestens 14 der protestierenden Tibeter durch die Schüsse der chinesischen Sicherheitskräfte ums Leben gekommen waren.

1. Tsewang Rinzin aus dem Dorf Juruda (Disziplinär des Klosters Tongkor)

2. Kunchok Sherab (Mönch von Tongkor), 30, aus dem Dorf Khasung

3. Lhungo, 35 (zuerst als Lhego genannt) aus dem Dorf Walanda

4. Tsering Kalden aus dem Dorf Walanda

5. Thupten Sangden, 27, (ehemaliger Gesangsmeister des Klosters) aus dem Dorf Tsera

6. Lobsang Rinchen, 25, aus dem Dorf Nyatri

7. Choezin (Mönch) aus dem Dorf Sothok Da

8. Bhu Bhu Delek, 30 (Laie) aus dem Dorf Sothok Da

9. Tsering Dhondup (Mönch) aus dem Dorf Khasung

10. Tsering Dhondup (Laie) aus dem Dorf Dru-yak

11. Druklo Tso, 34 (Frau) aus dem Dorf Kugra

12. Tseyang Kyi, 23, (Frau) aus dem Dorf Tsang Ngoe

13. Sonam Tsultrim, 22, (Laie) aus dem Dorf Nyatri

14. Kunsang Choedon, 35, aus dem Dorf Mokrin

Kunchok Sherab
Lhungo
Lobsang Rinchen

Kunsang Choedons Vater Tsang-gon verlor auf den Tod seines Sohnes den Verstand. Bald starb er aus Elend und Gram. Ich hörte von mehreren Seiten, daß 83 der Protestierenden ernste Verletzungen erlitten hatten. In dem staatlichen Krankenhaus wurde mir die ärztliche Behandlung versagt, weshalb ich das ganze letzte Jahr starke Schmerzen hatte und entsetzlich litt. Später erfuhr ich von der Festnahme von 12 weiteren Tibetern durch die Sicherheitskräfte.

Das Fahrzeug, in dem Geshe Tsultrim Tenzin, den sie als ersten im Kloster Tongkhor festnahmen, abtransportiert wurde, mußte sein Heimatdorf Balada passieren. Die Dorfbewohner blockierten jedoch die Straße, indem sie sich einfach hinlegten. Deshalb brachten die Sicherheitskräfte ihn zurück in die Gemeinde Zithang, wo er etwa zwei Wochen lang festgehalten wurde. Und Tsultrim Phuntsok, den sie zusammen mit Geshe Tsultrim Tenzin festgenommen hatten, kam für einige Monate ins Gefängnis von Kardze.

Sonam Tsultrim
Bhu Bhu Delek
Tseyang Kyi

Boykott des Tibetischen Neujahrfestes

Nach den Demonstrationen vom vergangenen Jahr in der Region Kardze und den vielen Toten starteten die dortigen Tibeter eine Bewegung zum Boykott der landwirtschaftlichen Tätigkeit. Auf diese Weise wollten sie den Tod der tibetischen Demonstranten in den drei traditionellen Provinzen Tibets betrauern und ihre Solidarität mit denjenigen bekunden, die weiterhin in Haft sind, wo sie Folter und Unsägliches erleiden. Ein Flugblatt, das zum Boykott von Losar (Tibetisches Neujahr) aufrief, war in Umlauf gebracht worden und erschien in verschiedenen Orten der Region Kardze an den Mauern. Die chinesischen Behörden inszenierten dann selbst die Neujahrsfeiern, indem sie beispielsweise auf dem Buthok Platz bei dem Kloster Tongkhor eine Unmenge an Feuerwerkskörpern entzündeten. Damit wollten sie Normalität vortäuschen und zeigen, daß die Leute in Feststimmung seien. Genau das Gegenteil war jedoch der Fall.

Landwirtschafts-Boykott

Im Rahmen dieser Bewegung verzichteten die Tibeter in der gesamten Region Kardze auf die Bestellung ihrer Felder, um den Tod der Demonstranten zu betrauern. Die chinesischen Behörden beriefen daraufhin ein Meeting von tibetischen Bauern aus diversen Dörfern ein und verwarnten sie streng: „Wenn irgendeiner von euch bis zum 11. März seine Felder nicht umpflügt und bestellt, dann wird euer gesamtes Ackerland von der Regierung eingezogen werden“. Aber wir fügten uns immer noch nicht den Anordnungen der chinesischen Regierung.

Als sie jedoch von dem eindringlichen Appell des tibetischen Exil-Premierministers Samdhong Rinpoche erfuhren, der uns mahnte, auf die Felder zu gehen und diese schleunigst umzupflügen, begannen die Tibeter sofort mit ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit. Aus Loyalität und als ein Zeichen des Respekts für den Exil-Premierminister pflügten wir unsere Äcker, obwohl wir in dem gesamten Bestell- und Erntezyklus einen Monat zurücklagen. Wegen dieses verspäteten Starts brachten einige marktfähige Agrarprodukte wie Kartoffeln und andere Gemüsearten keine gute Ernte, und wir trugen einen spürbaren Verlust davon.

Die chinesische Regierung, die die Herzen der Tibeter zu gewinnen suchte, belohnte jene Haushalte, die sich an dieser Solidaritätsdemonstration nicht beteiligt hatten, mit großen Geldgeschenken.

Die Gründe für meine Flucht ins Exil

Als Reaktion auf die landesweiten Protestaktionen, die über das tibetische Hochland hinwegfegten und in erster Linie von der monastischen Gemeinschaft angeführt wurden, intensivierte die chinesische Regierung die „patriotische Erziehung“, was wiederum zu Demonstrationen und Festnahmen von Tibetern in großem Maßstab führte. Auch im Kloster Tongkhor führten die Behörden zahlreiche neue Regeln und Bestimmungen ein, so daß all diejenigen Mönche, die an anti-chinesischen Aktivitäten beteiligt waren, hinausgeworfen wurden. Jene, die im Kloster bleiben möchten, müssen sich den Forderungen der Regierung fügen, Voraussetzung ist, daß sie sich den „feindlichen separatistischen Kräften“ außerhalb Tibets widersetzen. Eine Obergrenze für die Belegschaft der Klöster wurde festgesetzt. Solche harte Maßnahmen konnten wir nicht hinnehmen. Es war reines Glück gewesen, daß ich nicht zugleich mit meinen Freunden bei der Demonstration festgenommen worden war. Ich hatte den Eindruck, daß ich noch eine Gnadenfrist hatte und dann auch verhaftet würde. Daher entschloß ich mich, aus Tibet zu fliehen. Außerdem hegte ich den sehnlichen Wunsch, Seine Heiligkeit den Dalai Lama zu treffen und meine monastischen Studien in den buddhistischen Schriften fortzusetzen. Nach reiflicher Überlegung, aber schweren Herzens, verließ ich meine Heimat in Richtung Lhasa, wo ich einen Guide anheuerte, der mir half nach Nepal zu fliehen. Ich bezahlte ihm dafür 15.000 Yuan. Am 7. November 2009 traf ich im Tibetischen Flüchtlingslager in Dharamsala ein.

 
 
Kloster Tonghor