Januar 2002
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy
Narthang Building, Gangchen Kyishong, Dharamsala, H.P. 176 215, India,
Tel: 0091/1892 23363; Fax: 0091/1892 25874
e-mail: dsala@tchrd.org, www.tchrd.org

ZERSTÖRUNG DES SERTHAR INSTITUTS
EINE DOKUMENTATION

Gliederung
Vorwort
I. DAS SERTHAR INSTITUT
1. Religiöse Abteilung
2. Verwaltungsabteilung
3. Der Lehrplan
II. CHRONOLOGIE DER EREIGNISSE
III. JÜNGERE GESCHICHTE DER UNTERDRÜCKUNG
1. Vertreibungen
2. Ein Augenzeugenbericht der Vertreibungen
3. Zerstörung von Wohnungen
4. Bericht eines Mönchsstudenten über die Zerstörungen
5. Khenpo Jigme Phuntsok in Einzelhaft
6. Schmälerung der persönlichen und religiösen Freiheit
7. Selbstmord und Krankheit unter vertriebenen Nonnen: Ein Augenzeugenbericht
8. Schluß

Vorwort

Sommer und Herbst 2001 erlebten den Abriß eines führenden Zentrums buddhistischer Wissenschaft und Praxis auf der tibetischen Hochebene. In den 21 Jahren seines Bestehens hatte sich das Serthar Institut (vor Ort bekannt unter dem Namen Larung Gar) von einer einsamen Bergeinsiedelei zu einer spirituellen Oase für mehr als 8.000 Mönche, Nonnen und Laienschüler entwickelt.

Khenpo Jigme Phuntsok gründete im Jahr 1980 das Serthar Institut im Larung Tal bei der Stadt Serthar, Präfektur Karze, Provinz Sichuan, um dem dringenden Bedarf an Erneuerung der Meditation und des Studiums in ganz Tibet, der auf die Kulturrevolution in China (1966-77) hin ergab, nachzukommen. Diese nicht sektengebundene Akademie zog fast 1.000 chinesische Praktizierende vom Festland und aus Übersee als Schüler an; sie waren dann die erste Gruppe, die im Juni und Juli 2001 ausgewiesen und in ihre Heimatorte abgeschoben wurde. Von den Chinesen eingesetzte "Arbeitsteams" zielten als nächstes auf die über 4.000 tibetischen Nonnen ab, die das Serthar angegliederte Nonnenkloster bewohnten. Die offizielle Anweisung aus Beijing war, ihre Zahl auf 400 zu reduzieren und ihre Meditationshütten zu zerstören, um sicherzustellen, daß die Vertreibung endgültig ist.

Nach Aussage von Beobachtungsdiensten waren Ende Oktober mehr als 1.000 Wohnungen in Serthar zerstört worden, Tausende von Mönchen und Nonnen waren erfolgreich vertrieben worden, und man nimmt an, daß Khenpo Jigme Phuntsok in Chengdu, der Hauptstadt von Sichuan, in Isolationshaft ist. Der charismatische Gründer von Serthar war zuerst zum Zwecke medizinischer Behandlung in einem Militärhospital in Barkham, Tibetische Autonome Präfektur (TAP) Ngaba, aus seinem Institut abgeholt worden.

Die Entfernung von Khenpo Jigme Phuntsok in chinesischen Gewahrsam, die Vertreibung der Mehrzahl der Schüler des Serthar Instituts und das offizielle Verbot religiöser Lehre und Praxis sind der Höhepunkt der seit zwei Jahren eskalierenden Restriktionen und Propagandafeldzüge der chinesischen Behörden gegen die buddhistische Akademie.

Teil I

DAS SERTHAR INSTITUT

Das weite Tal, in dem das Serthar Institut liegt, ist 15 km von der Stadt Serthar im Distrikt Serthar, Tibetische Autonome Präfektur (TAP) Karze, Provinz Sichuan, entfernt, eine Gegend zwischen den früheren Provinzen Kham und Amdo. 1980 gründete Khenpo Jigme Phuntsok das Institut in dieser Nomadengegend am Ort einer bekannten Nyingma-Einsiedelei.

Khenpo Jigme Phuntsok wurde 1937 in einer berühmten religiös gesinnten Nomadenfamilie in der Dhok-region von Kham geboren. Im Alter von zwei Jahren erkannten ihn Terton Wangchuk und Tashul Lama von der Nyingma Schule des Tibetischen Buddhismus als die Reinkarnation von Terton Lerab Lingpa (1852-1926) oder Sogyal Rinpoche, einem engen spirituellen und persönlichen Freund des 13. Dalai Lama. Khenpo studierte zunächst bei einem Onkel, einem berühmten Lama-Gelehrten im Kloster Nubsur, und wurde in Dzogchen (die Lehren der Großen Vollendung) ausgebildet. Im frühen Alter von 14 Jahren erbat er von Khenchen Sonam Rinchen, Abt des Klosters Drakdzong, die Ordination zum Mönch. Ab 18 blieb er im Dzatoe Changma Retreat Zentrum, wo er unter der Leitung vieler berühmter Lehrer studierte, Meditation übte und sechs Jahre als Einsiedler lebte. Im Alter von 20 Jahren wurde er zum bhikshu (voll ordinierter Mönch) ordiniert, und mit 26 gründete er ein Retreat Zentrum, Senggey Yangtsung, in Amdo.

1980 wurde das Serthar Institut als sektenunabhängiges Studienzentrum mit weniger als 100 Studenten gegründet, eine Anzahl, die sich innerhalb von 21 Jahren wie von selbst auf 8.800 erhöhte. Später wurde unter der Leitung von Khenpos Nichte ein angegliedertes Nonnenkloster in dem Tal gebaut. Bis die Behörden im Juni und Juli 2001 größere Abbruchaktionen und Vertreibungen durchführten, war Serthar das führende Zentrum religiöser Wissenschaft in dem chinesisch besetzten Tibet. Der Standard der Lehrtätigkeit war anerkanntermaßen dem Niveau der großen Klöster im Exil in Indien ebenbürtig. Die Klosteruniversitäten mit vergleichbaren Studentenzahlen und Lehrplänen in Tibet wurden während Chinas Demokratischen Reformen (1955-1961) und der Kulturrevolution (1966-1977) zerstört, und heute ist die Zahl der in den Resten dieser Institutionen lebenden Mönche vergleichsweise gering.

1987 führte Khenpo Hunderte seiner Schüler vom Serthar Institut auf eine Pilgerreise zu den heiligen Bergen von Wutaishan in Chinas Provinz Shaanxi. Unterwegs traf er in Beijing den 10. Panchen Lama und belehrte eine Versammlung von über 5.000 tibetischen, chinesischen, mongolischen und anderen buddhistisch Praktizierenden über die 37 Übungen der Bodhisattvas. In Wutaishan wuchs die Zahl der zu seinen Lehren Versammelten gelegentlich auf fast 10.000 an. Er führte auch Retreats (Klausuren) an heiligen Plätzen und Höhlen durch. Man sagt, daß seine Schüler während dieser Pilgerreise viele außergewöhnliche Phänomene beobachteten.

Zu jener Zeit holte der 10. Panchen Lama die Zustimmung Beijings dazu ein, daß Serthar als ein buddhistisches Institut bezeichnet wird, womit es als eine Akademie anerkannt und Serthar Larung Ngarig Nangten Lobling genannt wurde. Das offizielle Siegel des Instituts trägt den Namen "Buddhistische Akademie Larung Metropolis".

1993 vergrößerte sich Khenpo Jigme Phuntsoks bereits beachtliche Anhängerschaft auf Lehrreisen in den Vereinigten Staaten, Kanada, Deutschland, England, Frankreich, Japan, Taiwan, Hongkong, Indien, Nepal und Bhutan. Mit Geldspenden, die ihm auf dieser Reise gegeben wurden, konnten größere Bauvorhaben in Serthar finanziert werden.

Vor der jüngsten Abbruchserie hatte das Institut beinahe 9.000 ordinierte und Laienstudenten verschiedener Nationalitäten, einschließlich ungefähr 1.000 aus Übersee. Die internationalen Studenten kamen aus Taiwan, Hongkong, Singapur, Malaysia, Süd- und Nord-Korea, etliche auch aus China, etwa der Provinz Shaanxi, der Inneren Mongolischen Autonomen Region und der Autonomen Region Xinjiang (Ost-Turkestan).

Die tibetischen Studenten stammten aus verschiedenen Distrikten in Osttibet, darunter Serthar, Drango, Tawu, Dartsedo, Karze, Derge und Nyarong in der Provinz Sichuan; aus Distrikt Dechen in der Provinz Yunnan; und aus Tibetischen Autonomen Präfekturen wie Jyekundo und Malho in der Provinz Tsongon (chin. Qinghai), sowie aus Chamdo und Nagchu in der Autonomen Region Tibet (TAR). Während manche Studenten die grauen oder gelben klösterlichen Roben im traditionellen chinesischen Stil anlegten, trugen andere das tibetische Rotbraun und Safrangelb. Zusätzlich zu denen, die ständig im Institut lebten und studierten, versammelten sich einmal im Jahr viele andere Schüler, um von Khenpo Jigme Phuntsok belehrt zu werden. Sie lebten dort nur für den Zeitraum der Belehrungen und Einweihungen. Zu diesen Zeiten beherbergte das weite Tal bis zu über 100.000 Schüler.

I.1.

Religiöse Abteilung

Die Studentenschaft des Serthar Instituts bestand aus Mönchen, Nonnen und "Laien-Gelübde-Haltern" sowohl tibetischer als auch chinesischer Herkunft und aus Tantra Praktizierenden. Sie studierten in vier großen religiösen Abteilungen:

  • Ngarig Nangten Lobling
  • Internationales Religiöses Komitee
  • Pema Khandro Duling Nonnenkloster
  • Lektso Charbeb Ling

Ngarig Nangten Lobling bestand aus 2.500 tibetischen Mönchen unter der Leitung von Khenpo Tsultrim Lodroe und Tulku Tenzin Gyatso. Sie hielten jedes Jahr während des sechsten Monats des tibetischen Mondkalenders (das entspricht Juli oder August) eine spezielle sechstägige Gebetssitzung (Sangkyu Monlam) ab.

Dem Internationalen Religiösen Komitee unterstanden ungefähr 1.000 Schüler aus Gegenden der VR China, sowie ausländische Schüler aus Asien. Mandarin Chinesisch war die Unterrichtssprache für chinesischstämmige Studenten. Der Präsident des Internationalen Religiösen Komitees war Khenpo Sonam Dhargyal, und Khenpo Yeshi Phuntsok war der Leiter der Abteilung. Finanziert von dieser Sektion wurde im vierten Monat des tibetischen Mondkalenders (das entspricht Mai oder Juni) eine Gebetssitzung durchgeführt. Das Pema Khandro Duling Nonnenkloster war das Zuhause für ca. 3.500 - 4.000 Nonnen aus allen Gegenden Tibets. Die Leiterinnen der Abteilung waren die Präsidentin Jetsunma Mumey Yeshi Tsomo, Khenpos 35-jährige Nichte, und Khenpo Rigdol. Der Lehrplan gestattete Nonnen, zum ersten Mal in Tibet das begehrte Khenpo Diplom zu erwerben. Diese Abteilung hielt im ersten Monat des tibetischen Mondkalenders (etwa im Februar) eine 15-tägige Gebetszeremonie (Rinzin Bumtsog) ab. Bis zu 30.000 Menschen zog es zu diesem glücksverheißenden Beginn des tibetischen Neuen Jahres ins Serthar Tal. Lektso Charbeb Ling war die Abteilung, die tibetische "Laien-Gelübde-Halter" und Tantra-Praktizierende aus Serthar und anderen Gegenden Tibets ausbildete. Die Zahl der Schüler in dieser Abteilung war um 1.000, mit Lama Jachoe als Leiter. Sie organisierten alljährlich für acht Tage einen Gebetszyklus, Dechen Shedrop Chenmo, während des elften Monats des tibetischen Mondkalenders, ungefähr im Dezember.

Das Serthar Institut hatte ein ständiges Exekutivkomitee von sieben gelehrten Lamas (Tulku Tenzin Gyatso, Khenpo Tsultrim Lodroe, Khenpo Sonam Dhargyal, Khenpo Sabsang, Khenpo Sherab Sangpo, Tulku Longtop und Khenpo Rigdol), aber größere Entscheidungen wurden erst nach Konsultation mit Khenpo Jigme Phuntsok bestätigt und umgesetzt.

I.2.

Verwaltungsabteilung

Zusätzlich zu der Einteilung in religiöse Sektionen wurde das Institut durch vier hauptsächliche Gremien verwaltet:

  • Ausbildungsverwaltung
  • Finanzverwaltung
  • Disziplinarverwaltung
  • Leitungsbüro

Tulku Tenzin Gyatso und Khenpo Tsultrim Lodroe betreuten gemeinsam die Sektion Ausbildungsverwaltung; Khenpo Sherab Sangpo und Tulku Longtop betreuten die Finanzen; und Khenpo Sabsang und Khenpo Rigdol waren für die Disziplin verantwortlich. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichtes ist die Identität derer, die dem Leitungsbüro vorstehen, nicht bekannt. Das "Discipline Management Committee" hielt hauptsächlich drei Prinzipien aufrecht; Güte, richtige Disziplin und Übung in Zuhören, Kontemplation und Meditation. Ein Hilfskomitee wurde eingerichtet, um den Kranken, Armen, Alten und Bedürftigen zu helfen. Zusätzlich zu einem allgemeinen Krankenhaus gab es vier weitere medizinische Einrichtungen, jede für eine der vier buddhistischen Schulen. Es gab auch ein Umweltschutzkomitee, das für Gesundheitsfürsorge und Hygiene zuständig war. Ein anderes Büro kümmerte sich speziell um religiöse Angelegenheiten wie die Organisation von Butterlampenopfern und Gebetszyklen.

Die Studenten am Institut bauten ihre Unterkünfte selbst aus Lehmziegeln, Steinen und Holz und waren bezüglich Nahrung, Kleidung und anderen Dingen weitgehend Selbstversorger. Aufgrund der hohen Lage oberhalb der Baumgrenze mußten sie extreme Klimabedingungen aushalten, von eiskalten Wintern bis zu intensiver Sommerhitze.

I.3.

Der Lehrplan

Das Serthar Institut beherbergte über 500 Khenpos ("Doktoren der Theologie") und war weithin bekannt für die hohe Qualität sowohl seiner religiösen als auch seiner zeitgenössischen Ausbildung. Die englische, chinesische und tibetische Sprache sowie moderne EDV-Kenntnisse wurden neben traditionellen, nicht konfessionsgebundenen buddhistischen Themen gelehrt. Alle vier Traditionen des tibetischen Buddhismus konnten, ebenso wie Tibets ursprüngliche Religion Bön, gründlich studiert werden. Aller Unterricht war kostenlos.

Das Institut bot eine Vielfalt von Kursen in den klassischen Studienbereichen des tibetischen Buddhismus an. Die fünf Fächer, die unter Sutra gelehrt wurden, waren Madhyamika (Philosophie des Mittleren Weges), Pramana (Logik), Prajñaparamita (Vollendung der Weisheit), Abhidharma (Metaphysik) und Vinaya (Disziplin). Die vier Tantra-Klassen (esoterische Praxis) waren Kriya-Tantra (tätiges Tantra), Carya-Tantra (Darstellungstantra), Yoga-Tantra und Anuttara-Tantra (höheres Yoga-Tantra). Ebenso wie Debattieren und Verfassen von Aufsätzen unterrichtete das Institut Grammatik, Linguistik, Dichtung, Medizin, religiöse Kunst und Architektur. Die Fähigkeiten der Studierenden in allen Fächern während des ganzen Studiums entschieden über das Erreichen des Studienabschlusses.

Teil II

CHRONOLOGIE DER EREIGNISSE

Es wird angenommen, daß die Ursachen für die gegenwärtigen Repressalien ins Jahr 1990 zurückreichen, als Khenpo Jigme Phuntsok nach Indien reiste, um eine Audienz beim Dalai Lama zu bekommen. Während dieses Besuchs formte sich bei Khenpo eine tiefe spirituelle Beziehung zu dem tibetischen Oberhaupt im Exil. 1993 besuchte Khenpo auch eine Reihe fremder Länder, was ihm internationale Bekanntheit und neue Anhänger einbrachte. Sein außergewöhnliches Charisma und sein authentischer Lehrstil erwiesen sich bei den überseeischen Chinesen in Südostasien als besonders populär. 1994, als die chinesischen Behörden Khenpo Jigme Phuntsoks Reisen nach Übersee verboten, war die offizielle Begründung, daß Khenpo vier Jahre zuvor den Dalai Lama in Dharamsala getroffen hatte.

In dem Jahr hatte eine Sitzung in Beijing unter dem Vorsitz von Präsident Jiang Zemin - das Dritte Forum zur Arbeit in Tibet - beschlossen, die Kontrolle über Mönchs- und Nonnenklöster auf der Hochebene zu verschärfen. Religiöse Institutionen wurden nun als "Brutstätten für die spalterischen Aktivitäten der Dalai-Clique" angesehen. Aus den Direktiven des Forums folgten die Kampagnen der "patriotischen Erziehung" und des "harten Durchgreifens", und 1997 wurden in ganz Tibet "Arbeitseinheiten zur patriotischen Erziehung" eingesetzt, um Mönche und Nonnen dazu zu zwingen, den Dalai Lama zu verleumden und der Kommunistischen Partei Gefolgschaft zu schwören.

1998 suchten Beamte der Vereinigten Arbeitsfront in Sichuan und des Büros für Religiöse Angelegenheiten der Zentralregierung das Serthar Institut auf und verhörten Khenpo Jigme Phuntsok dreimal bezüglich seiner Verbindung mit dem im Exil lebenden Dalai Lama. Khenpo antwortete, daß der Dalai Lama ihm als sein spiritueller Führer geraten habe, für das Wohlergehen aller fühlenden Wesen zu arbeiten. Khenpo leugnete kategorisch jegliches politische Engagement und schwor, daß der Dalai Lama ihn niemals dazu ermutigt habe, politisch aktiv zu werden. Zu jener Zeit wurde das "Arbeitsteam" des Distrikts Serthar etabliert. Es versammelte die Studenten des Instituts zu Sitzungen politischer Indoktrinierung und verteilte Schriftstücke zur kommunistischen Ideologie.

Auf die Verhöre Khenpos und die "Umerziehungs-Sitzungen" im Institut hin wurde seine Freizügigkeit sogar in Tibet eingeschränkt. Innerhalb der Provinz Sichuan wurde ihm erst dann zu reisen erlaubt, wenn er zuvor die Genehmigung der Behörden des Distrikts Serthar eingeholt hatte. Gleichzeitig wurden zwei Kontrollposten der Sicherheitspolizei an einem weiter unten gelegenen, zum Serthar Institut führenden Weg eingerichtet, um die Bewegungen und Aktivitäten von Bewohnern und Besuchern zu überwachen.

1998 begrenzten die Behörden in Beijing darüber hinaus die Anzahl der Bewohner (Mönche, Nonnen und Laien-Studenten), die sich in dem Institut aufhalten durften. Khenpo Jigme Phuntsok wurde angewiesen, die Gesamtzahl von über 8.000 Einwohnern auf 150 zu reduzieren. Khenpo wies darauf hin, daß "die Einschränkung der Zahl der Bewohner für das Institut nicht nur große Probleme verursachen, sondern sogar sein Fundament erschüttern würde".

Khenpo Jigme Phuntsok erklärte: " ... seit es den Status einer Akademie erworben hat, ist es die Pflicht eines jeden Bewohners, das Institut zu bewahren und zu beschützen. Die Studenten sind aus eigenem freiem Willen Mitglieder des Instituts geworden und daher wäre ihr gewaltsamer Ausschluß gleichbedeutend damit, die Gesetze, welche die religiöse Freiheit garantieren, mit Füßen zu treten". Khenpo unterstrich auch den Mangel an alternativen religiösen Institutionen im heutigen Tibet, besonders für Nonnen. Als Ergebnis der wiederholten Bitten Khenpos genehmigten die chinesischen Behörden eine Erhöhung der Anzahl der Bewohner, die im Institut verbleiben durften, auf 400. Später wurde diese Zahl auf 1.400 erhöht.

Im März 1999 sandten die Behörden der Provinz Sichuan ein Zirkular mit dem Titel "Verantwortungs-Planungs-Dokument Nr. 45" an das Institut. Dieses kritisierte die Größe und Stärke des Instituts, die Einschreibung ausländischer Studenten, die Durchführung komplizierter religiöser Rituale, das sogenannte unorganisierte Management, die schlechten Gesundheits- und Hygienebedingungen und es beschuldigte das Institut, viele negative Seiten zu haben. Der wichtigste Punkt war, daß die Forderung der Reduzierung der Bewohnerschaft des Instituts auf 1.400 unverzüglich in die Tat umgesetzt werden müsse. Dieses Zirkular wies das Institut auch an, alle religiösen Aktivitäten einzustellen, bis seine Anordnungen erfüllt seien.

Das Zirkular der Regierung von 1999 diktierte eindeutig die zukünftige Organisation des Instituts. Es legte fest, daß von nun an Kader der VR China alle religiösen Aktivitäten überwachen, die Äbte einsetzen, jedwede Belehrungen der Lamas und Tulkus in anderen Provinzen genehmigen, "spalterische" Aktivitäten untersuchen und gegen sie vorgehen, die "patriotische Erziehung" einführen und Studenten chinesischer Abstammung sowie diejenigen unter 18 Jahren in Zukunft vom Studium an dem Institut ausschließen würden.

Bald nach dem Zirkular vom März kamen "Arbeitsteams" aus den Distrikten Karze und Serthar an, um dessen Anordnungen umzusetzen. Sie zählten die ständig ansässigen Bewohner, deren Gesamtzahl sie auf etwa 9.000 schätzten, und schlossen die nur vorübergehend Abwesenden aus. Daraufhin verfügten sie, daß nur 1.400 Bewohner (1.000 Mönche und 400 Nonnen) zwischen 18 und 50 Jahren in Serthar bleiben dürften.

Im April 2000 erfolgte der zweite Besuch von "Arbeitsteams" aus dem Distrikt Karze und der Provinz Sichuan. Sie hatten die Anweisung, tibetische Studenten in ihre Heimatregionen zurückzuschicken. Die Bewohner wurden dann während einer Massenzusammenkunft nach ihren Namen und anderen persönlichen Einzelheiten gefragt, und wieder wurden die im Institut permanent Ansässigen gezählt.

Während ihrer Anwesenheit im Jahr 2000 hielten die "Arbeitsteams" wieder Kurse ab, die auf die politische Indoktrinierung der Studenten von Serthar in chinesischer kommunistischer Ideologie abzielten. Da die Bewohner Serthars sich den offiziellen Anordnungen harnäckig widersetzten, fürchteten die "Arbeitsteams" bei ihrer Abreise, es könnte zu Massenprotesten und möglichen Unruhen kommen. Weder beim ersten noch beim zweiten dieser Besuche von "Arbeitsteams" gab es Zwangsausweisungen.

Gegen Ende des Jahres 2000 rückte plötzlich ein "Arbeitsteam" von 70 Personen im Institut an. Seine Mitglieder waren aus verschiedenen Distrikten, darunter Serthar, Karze, Nyarong, Drango, Tawu, Dartsedo und Derge in der Provinz Sichuan; Dzamthang, Chuchen und Barkham in der TAP Ngaba; Golok und Rebkong in der Provinz Tsongon; Chamdo und Nagchu in der TAR. Mit von der Partie waren auch Beamte der Regierung der VR China.

Den Bewohnern des Instituts - speziell den chinesischen Bürgern - wurde offiziell befohlen, an ihre Heimatorte zurückzukehren. Als die Studenten an die Behörden appellierten, wurde ihnen mitgeteilt, daß die Befehle direkt aus Beijing von Präsident Jiang Zemin kämen. Sie nicht zu befolgen, würde zu noch härteren Maßnahmen gegen das Institut und alle Studenten führen, die ihnen nicht Folge leisteten. Alle Bittgesuche wurden abgelehnt. Daraufhin kehrten einige Mönche und Nonnen freiwillig nach Hause zurück; die genaue Zahl ist nicht bekannt.

Am 18. April 2001 erließen die chinesischen Behörden eine Verordnung, in der sie ihren Befehl wiederholten, daß das Serthar Institut eine Obergrenze von 1.400 Einwohnern einhalten muß, was den Ausschluß von über 7.000 Studenten notwendig machte. Wie berichtet, wurden höhere Beamte aus Beijing, darunter Mitarbeiter der Vereinigten Arbeitsfront, angewiesen, den Ausweisungsbefehl durchzusetzen und die erforderlichen Abbrucharbeiten vorzunehmen.

Verschiedene Berichte von Beobachtungsorganisationen weisen darauf hin, daß der Oktober 2001 von den Behörden als letzter Termin für die Umsetzung der Verfügung vom April festgesetzt war. Die Behörden hatten Anweisung, nach diesem Datum rechtliche Schritte einzuleiten und bei fehlender Befolgung Bußgelder zu verhängen. Eine ähnliche Verfügung wurde an die Behörden in verschiedenen Distrikten und Provinzen geschickt mit der Anweisung, jeweils drei Beamte damit zu beauftragen, die Studenten aus Serthar abzuholen, deren Heimatort in ihr Gebiet fiel.

Ab April 2001 kamen "Arbeitsteams" aus verschiedenen Distrikten der Provinzen Sichuan und Tsongon, sowie der TAR im Institut an und verursachten Störungen im Ablauf der Studien, aber sie beeinträchtigten noch nicht die Aktivitäten des Instituts. Dem Institut wurde wieder auferlegt, die Mehrzahl der Bewohner zu verpflichten, bis Oktober abzureisen. Nur Studenten aus dem Distrikt Serthar erhielten die Genehmigung zum Dableiben, unter der Bedingung, daß sie dem Dalai Lama abschworen.

Die "Arbeitsteams" machten außerdem Khenpo Jigme Phuntsok für die wachsende Bevölkerung des Instituts verantwortlich und verlangten, daß er die Studenten zum Verlassen auffordere. Er erhielt den Befehl, die "Situation" zu regeln, bevor sie "außer Kontrolle gerate". Khenpo antwortete, es sei unangebracht, die Studenten zu vertreiben, denn sie seien je nur hier, um buddhistische Lehren zu studieren und fügten niemandem Schaden zu.

Teil III 1.

JÜNGERE GESCHICHTE DER UNTERDRÜCKUNG

Vertreibungen

International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR):
(Internationales Abkommen über zivile und politische Rechte)

Artikel 12 (1) (2): Jeder, der sich rechtmäßig auf dem Territorium eines Staates aufhält, soll innerhalb dieses Territoriums das Recht auf Freiheit der Bewegung und Freiheit der Wohnung haben. Jeder soll jedes Land frei verlassen können, einschließlich seines eigenen.

Universal Declaration of Human Rights (UDHR):
(Universelle Erklärung der Menschenrechte)

Artikel 20: Jeder Mensch hat das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu friedlichen Zwecken.

Mit der Umsetzung der Order vom 18. April 2001 an über 7.000 Studenten in Serthar, das Institut zu verlassen, wurde am 24. Mai begonnen, als die Behörden ungefähr 1.000 Studenten gewaltsam in ihre jeweiligen Distrikte in Tibet und China zurückbrachten. "Arbeitsteams", das PSB (Public Security Bureau/staatliche Sicherheitspolizei) und die PAP (People's Armed Police/bewaffnete Volkspolizei) vertrieben eine große Zahl von Bewohnern, die aus Lhasa, Chamdo und verschiedenen Gegenden in Tsongon, Golok, Yushul und Kenlho stammten.

Am selben Tag leiteten zwei Distriktbeamte von der TAP Karze einen Befehl der Zentralregierung weiter, der Khenpo Jigme Phuntsoks Lehrplan und religiöse Zeremonien mit einem Verbot belegte. Khenpo befand sich zu der Zeit im dritten Monat eines siebenmonatigen Lehrzyklus. Dieser wurde am 24. Mai beendet, und von diesem Zeitpunkt an haben die Behörden alle größeren religiösen Zeremonien und andere öffentliche Ereignisse gestrichen. Für die im Institut verbliebenen Studenten sind Unterricht und Studium seither schwer beeinträchtigt.

Es wird angenommen, daß fast 3.000 der 3.500 - 4.000 Nonnen des Instituts bis November 2001 vertrieben wurden. Serthar war eine der wenigen in Tibet verbliebenen Einrichtungen, wo Nonnen studieren konnten, und das einzige Nonnenkloster mit Studienplänen, die zum Khenpo-Diplom führten. Die chinesische Regierung hat die meisten Nonnenklöster systematisch geschlossen und zerstört, oder in denen, die noch stehen, die Zulassung begrenzt. Diese massiven Vertreibungen werden ernsthafte Auswirkungen auf die Möglichkeiten der tibetischen Frauen zum Studium der Religion oder zu irgendeiner weiterführenden Ausbildung haben. Wie berichtet wurde, sind viele Nonnen zu ihren Familien zurückgekehrt und arbeiten nun auf dem Feld. Andere wurden gesehen, wie sie in den Straßen der größeren Städte bettelten. Diejenigen ohne Familie oder ein Zuhause sehen möglicherweise die Flucht ins indische Exil als ihren einzigen Ausweg.

Insbesondere behinderten, geschiedenen oder verwittweten Nonnen bot Serthar einen "Rettungsanker" in Form spiritueller Betreuung und weltlichen Unterhalts, der nun abgerissen ist. Das Bittgesuch der Nonnen an höhere Regierungsstellen, "von solchen unglaublich barbarischen Handlungen Abstand zu nehmen", wurde als eine Herausforderung der lokalen Behörden und Beijings interpretiert.

Die Vertreibungen und Zerstörungen in Serthar, die von einem großen Kontingent an Polizei- und Armeepersonal überwacht wurden, verstoßen direkt gegen Gesetze, welche die Verletzung religiöser Freiheit unter Strafe stellen. Der Artikel 251 des revidierten chinesischen Strafrechts besagt: "Bedienstete des Staates, die den Bürgern unrechtmäßig ihre Religionsfreiheit vorenthalten und Sitten und Gebräuche ethnischer Minderheiten einschränken, sind in ernsten Fällen zu bis zu zwei Jahren Gefängnis oder Strafhaft zu verurteilen".

In den Normen für die Aufnahme von unmittelbar zur Kenntnis gelangter Fälle der Verletzung demokratischer und persönlicher Grundrechte und anderer Gesetzesverletzungen wurde festgelegt, daß die Volksprokuratur jeden Fall, in dem ein Staatsbeamter einem Bürger das Recht auf freie Religionsausübung dadurch nimmt, daß er sich in seine normale religiösen Verrichtungen einmischt, einen Gläubigen zur Aufgabe seines Glaubens oder der Annahme eines bestimmten Glaubens oder der Mitgliedschaft in einer Sekte zwingt und die Rechtsverletzung einen besonders verabscheuungswürdigen Charakter und ernste und unerwünschte Folgen hatte, zu protokollieren hat. Der Prokurator ist ebenso gehalten, ein Protokoll über illegale Schließungen oder Zerstörungen gesetzlich zugelassener religiöser Stätten oder Einrichtungen zu erstellen.

III.2.

Ein Augenzeugenbericht der Vertreibungen

"Seit dem 20. Juni 2001 ist eine große Anzahl von Kräften des PSB, der PAP und Kadern der Vereinigten Arbeitsfront im Serthar Institut angekommen, um jegliche Opposition gegen die Ausweisungsbefehle zu unterdrücken. Es gab ungefähr 100 PAP Milizen aus allen 18 Distrikten der TAP Karze und ein großes Kontingent der Volksbefreiungsarmee (PLA), die dabei halfen, die Situation unter Kontrolle zu halten. Über 2.000 Personen kampierten in der Gemeinde Lorok in der Nähe des Serthar Instituts.

Die Beamten riefen uns zu sich, baten uns eindringlich und redeten uns gut zu, daß wir zu unseren jeweiligen Ursprungsorten zurückkehren sollten. Dann drohte man uns mit entsetzlichen Konsequenzen, falls wir uns nicht fügen sollten, unter anderem damit, daß unsere Familien Strafen zahlen müßten und daß Khenpo selbst und die sieben Mitglieder des ständigen Ausschusses schuldig gesprochen würden, falls wir uns den Anordnungen der Behörden widersetzten.

Die offizielle Order war ein entsetzlicher Schock und stürzte uns alle in Verzweiflung; am Anfang weigerten wir uns, den Ausweisungsbefehl zu befolgen. Im Verlauf der Massenvertreibung, die ohne jegliche Nachsicht durchgeführt wurde, forderten sie uns auf, ein Dokument zu unterschreiben, in dem wir dem Dalai Lama abschwören und uns verpflichten sollten, die Politik der chinesischen Behörden hoch zu halten, und außerdem, daß wir nicht zum Institut zurückkehren würden. Wir weigerten uns, das Dokument zu unterschreiben und hielten unsere Stellung um jeden Preis. Als die Drohungen und Warnungen immer drastischer wurden, beschlossen wir, das Institut zu verlassen, ohne das Dokument unterschrieben zu haben.

Die Behörden versuchten, uns zur Unterschrift des Dokumentes zu überreden, indem sie uns verschiedene weltliche Anreize boten - Geld, sechs Yaks und sechs Dri (weibliche Yaks), Bau und Reparatur von Häusern, Jobs und Ehefrauen. Die Nonnen erwiderten: "Khenpo Jigme Phuntsok ist unser "Wurzelguru" (spiritueller Lehrer), und wir haben überhaupt kein Bedürfnis, das Serthar Institut zu verlassen. Wir haben dem weltlichen Leben entsagt und sind Nonnen geworden, um spirituelle Studien zu betreiben, und wir sind entschlossen, unsere spirituelle Praxis bis zum letzten Atemzug fortzusetzen.

Beleidigungen, Drohungen und Schläge begleiteten die erzwungenen Vertreibungen. Die Beamten spuckten und traten nach uns, bewarfen uns mit Tassen und schwangen Pistolen, um uns zu bedrohen. Man erklärte uns, die Weigerung dem Befehl zu folgen, käme dem Begehen einer ungesetzlichen Handlung gleich und wäre gesetzlich strafbar."

III.3.

Zerstörung von Wohnungen

International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR):
(Internationales Abkommen über Bürgerliche und Zivile Rechte).

Die Ausführungsverordnungen spezifizieren: Orte religiöser Aktivitäten sollen unabhängig und durch ihre eigene Verwaltung geleitet werden, deren gesetzliche Rechte und Interessen gemäß dem ICCPR zu respektieren sind.

Artikel 17 (1) (2): Niemand soll willkürlicher Einmischung in seine Privatsphäre, Familienwohnung oder Korrespondenz ausgesetzt oder in seiner Ehre und seinem Leumund angegriffen werden. Jeder hat das Recht auf gesetzlichen Schutz gegen derlei Einmischung oder Angriffe.

International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (ICESCR):
(Internationales Abkommen über ökonomische, soziale und kulturelle Rechte)

Artikel 11(1) Die dem vorliegenden Abkommen beipflichtenden Staaten anerkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich selbst und seine Familie, einschließlich angemessener Nahrung, Kleidung und Wohnung, sowie auf eine kontinuierliche Verbesserung der Lebensumstände.

Die UN-Kommission für Menschenrechte hat "angemessene Wohnung" so definiert, daß sie das Recht auf Schutz vor gewaltsamer Vertreibung einschließt. "Gewaltsame Vertreibung" zieht "die permanente oder vorübergehende Entfernung von Individuen, Familien und/oder Gemeinschaften gegen ihren Willen aus ihren Wohnungen und/oder dem Grund und Boden, auf dem sie leben, nach sich, ohne daß sie Zugriff auf angemessene Formen rechtlichen oder anderweitigen Schutzes hätten." Die Kommission hat wiederholt erklärt, daß gewaltsame Vertreibung eine grobe Verletzung von Menschenrechten darstellt. Die Kommission schreibt vor, daß dort, wo gewaltsame Vertreibungen stattfinden, die Regierungen umgehende, adäquate und ausreichende Kompensationen und/oder eine alternative Unterbringung in Absprache mit den vertriebenen Menschen zur Verfügung stellen müssen.

Die chinesische Regierung hat in den Ausführungsverordnungen zur Verwaltung von Orten religiöser Aktivitäten verkündet, daß religiöse Handlungen an diesen Orten gesetzlich geschützt seien. Keine Organisation oder Individuen dürfen solche Rechte verletzen oder sich einmischen.

Im Juli 2001 bezeichneten die Behörden in der Provinz Sichuan das Institut als "illegal" und ordneten seine Schließung an. Über 2.000 Wohnhütten auf dem Gelände des Instituts, einschließlich der acht Gebäude, in denen das Internationale Religiöse Komitee und eine Reihe von Restaurants und Geschäften untergebracht waren, wurden im Juni und Juli 2001 abgerissen. Zwischen dem 1. und 8. Juli wurden die Behausungen von ungefähr 300 Nonnen zerstört. Chinesische Offiziell sprechen in ihrem Arbeitsbericht von der Zerstörung von 1.875 Wohnungen. Es wird jedoch angenommen, daß die tatsächliche Zahl die offiziell genannte bei weitem übersteigt.

Im Juni 2001 wurde das siebenköpfige ständige Komitee des Instituts wiederholt aufgefordert, Schriftstücke, die den Abriß rechtfertigen würden, zu verfassen und zu verbreiten. Chinesische Beamte verlangten von den Komiteemitgliedern, darin zu schreiben, daß die Zerstörung der Lehranstalt auf Anordnung des Instituts selbst erfolge. Sie wurden auch angewiesen, zwei Hütten eigenhändig zu zerstören. Die Mitglieder des Komitees weigerten sich, diesen Forderungen Folge zu leisten und erwiderten, daß ein derartiges Ansinnen ihren religiösen und gesellschaftlichen Überzeugungen zuwiderliefe.

III.4.

Bericht eines Mönchsstudenten über die Zerstörungen

"Armeepersonal in Zivil und eigens angeheuerte Arbeiter kamen in vier Lastwagen an, um die Abbruchaktion durchzuführen. Sie waren mit Spaten, Eisenstangen und Stricken ausgerüstet. Die Arbeiter bekamen für jede zerstörte Hütte bis zu 130-350 Yuan (US$41). Es gab zwei große Armeelastwagen und 40 bis 50 Geländefahrzeuge. Die Arbeiter arbeiteten von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends mit drei Stunden Pause. Sie rissen pro Tag 200-300 Hütten nieder.

Die Vernichtung der Wohnräume wurde mit aller Vehemenz durchgeführt; und zwar, um die ausgewiesenen Bewohner davon abzuhalten, ins Institut zurückzukehren. Choephel, der leitende Funktionär in der TAP Karze, führte die Aufsicht über den Einsatz. Die Hütten wurden mit allen Haushaltsgegenständen und Schreinen, die sich noch darin befanden, zerstört. Es wurde von mehreren Fällen berichtet, in denen Arbeiter nach der Zerstörung der Hütten die Habseligkeiten der Einwohner stahlen. Die Arbeiter zerrten Behinderte und alte Leute einfach heraus, manchmal deckten sie sogar die Dächer ab, während die Bewohner noch in den Häuschen waren. Während des Einsatzes waren Fotografieren und Aufnehmen von Videofilmen des verwüsteten Geländes untersagt. Alle Zufahrtswege wurden gesperrt und Besuche streng verboten. Touristen und offiziellen ausländischen Vertretern wurde der Zugang zu dem Gebiet verweigert. Es wurde bekannt gegeben, daß etwaige Besucher mit Festnahme und Haft zu rechnen hätten. Polizisten mit Pistolen und Ferngläsern überwachten das Gelände".

III.5.

Khenpo Jigme Phuntsok in Einzelhaft

International Covenant on Civil and Political Rights:
(Internationales Abkommen über Bürgerliche und Zivile Rechte)

Artikel 9 (1) Jedermann hat das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. Niemand darf willkürlicher Festnahme oder Haft unterworfen werden. Niemand soll seiner Freiheit beraubt werden, außer aus Gründen und in einer Weise, wie sie im Gesetz festgelegt sind.

Artikel 12 (1) (2) Jedermann hat innerhalb der Grenzen eines Staates das Recht auf Freiheit der Bewegung und des Wohnorts. Jeder hat das Recht ein Land zu verlassen, einschließlich sein eigenes, sowie wieder in sein Land zurückzukehren.

Im Spätherbst 2001 tauchten widersprüchliche Gerüchte über den aktuellen Aufenthaltsort und den körperlichen Zustand von Khenpo Jigme Phuntsok, den 68-jährigen Gründer und Abt des Buddhistischen Instituts Serthar, auf. Seit seinem 50. Lebensjahr hatte Khenpo unter Verdauungsbeschwerden und nachlassender Sehkraft gelitten. Die Massenausweisungen und Zerstörungen machten sein Leiden noch schlimmer, so daß Khenpos körperliche und geistige Gesundheit sich im Laufe des Sommers 2001 beträchtlich verschlechterte.

Den TCHRD Quellen zufolge hielten die chinesischen Behörden zu Beginn die Erlaubnis zur medizinischer Versorgung Khenpos zurück, so daß er die folgenden Monate ohne Behandlung im Serthar Institut blieb. Als die Behörden jedoch sicher waren, daß sie ihre Aufgabe, die "überzähligen" Studierende hinauszuwerfen und ihre Hütten zu zerstören, erledigt hatten, gestatteten sie Khenpo, Serthar zum Zwecke medizinischer Behandlung zu verlassen. Eine zuverlässige Quelle berichtet, daß Khenpo Anfang August 2001 in ein Militärhospital in Barkham, Präfektur Ngaba, Provinz Sichuan, gebracht wurde. Er wurde von Khenpo Tsultrim Lobdon, Tsedom und Palzue (seinen Neffen), Jetsunma Mumey Yeshi Tsomo (Khenpos Nichte und Äbtissin des Nonnenklosters von Serthar), Sonam Dhondup (einem seiner Assistenten), Pema Gelek (Leibwächter) und Raldi (Bezirks-Polizeioffizier) begleitet.

Rigzin, ein tibetischer Arzt, welcher nun am Barkham Militärhospital angestellt ist, war früher der persönliche Arzt Khenpos. Die Behörden verweigerten Khenpo jedoch die Möglichkeit, von ihm behandelt zu werden, mit der Diagnose und Behandlung wurde statt dessen ein ihm unbekannter Arzt beauftragt. Danach wurde keinen Besuchern von außerhalb mehr erlaubt, Khenpo zu sehen.

Khenpo Jigme Phuntsoks Anhänger und Studenten sind seither sehr besorgt um seine Gesundheit und über das Niveau und die Art der medizinischen Behandlung, die er unter der Aufsicht der chinesischen Behörden erhält.

Nach einem Bericht des Tibet Information Network (TIN) vom 8. November 2001 wurde Khenpo vom Barkham Militärhospital nach Chengdu, der Hauptstadt von Sichuan, verlegt. "Es ist nicht bekannt, ob er in einem Krankenhaus in Chengdu behandelt wird, wo die medizinischen Einrichtungen fortschrittlicher sind als in Barkham," schreibt die in London ansässige Beobachtungsagentur.

Es gibt auch unbestätigte Berichte, denen zufolge Khenpo Jigme Phuntsok heute praktisch unter Hausarrest steht, die frühere Entscheidung der Behörden, ihn an einen anderen Ort zu bringen, jedoch durch seine anhaltende Krankheit aufgehoben wurde.

III.6.

Schmälerung der persönlichen und religiösen Freiheit

International Covenant on Civil and Political Rights:
(Internationales Abkommen über bürgerliche und politische Rechte)

Artikel 18 (2): Niemand soll einem Zwang unterworfen werden, der seine Freiheit, einer Religion oder einem Glauben seiner Wahl zu folgen oder einen solchen anzunehmen, einschränken würde.

Artikel 19 (1) (2): Jeder hat das Recht, Meinungen ohne Beeinträchtigung anderer zu vertreten. Jedermann hat das Recht zu freier Meinungsäußerung.

Das TCHRD erhielt eine noch unbestätigte Information, daß sechs Nonnen infolge der Razzien in Serthar gestorben sind. Es wird berichtet, daß vier Nonnen aus unbekannter Ursache gestorben seien, während es von zweien heißt, daß sie sich erhängt hätten. Das TCHRD hat keine weiteren Informationen über die Namen oder die genauen Umstände dieser Todesfälle. Gut unterrichtete Quellen meinen jedoch, daß diese Todesfälle mit dem Stress und der Verzweiflung zusammenhängen, die durch den unlängst stattgefunden Überfall der Behörden ausgelöst wurden. Die Verwaltungsorgane des Serthar Instituts sollen die Todesfälle aus Angst, strengere Repressalien der chinesischen Behörden zu provozieren, heruntergespielt haben.

Chinesische Studenten aus Übersee und vom Festland waren die erste Zielgruppe der staatlichen Anordnungen, die besagten, daß es Ausländern nicht länger erlaubt sei, am Institut zu bleiben. Als diese Studenten argumentierten, daß die chinesische Verfassung religiöse Freiheit garantiere, beriefen sich die Offiziellen darauf, daß der chinesische und der tibetische Buddhismus auf verschiedenerlei Schulen zurückgingen. Der chinesische Buddhismus folge dem Hinayana-Weg, wohingegen der tibetische Buddhismus sich an die Mahayana-Tradition halte.

Die Behörden warnten die Studenten, daß das Nicht-Verlassen des Instituts innerhalb der festgesetzten Zeit als illegal betrachtet würde und zur Verhaftung führen könnte. Gegenwärtig sind keine internationalen Studenten im Institut verblieben. TCHRD-Quellen berichten, daß die ausländischen Studenten ihre tiefe Betrübnis über den Gang der Ereignisse ausdrückten und in der Hoffnung abreisten, in naher Zukunft zurückkehren zu können.

Artikel 4 der "Verwaltung religiöser Aktivitäten von Ausländern in China" legt fest, daß die VRC die Freiheit des religiösen Glaubens von Ausländern auf chinesischem Gebiet respektiert und die religiösen Handlungen von Ausländern auf chinesischem Territorium in Übereinstimmung mit dem Gesetz überwacht und beschützt.

Die Verehrung, die Khenpo bei chinesischen Buddhisten zuteil wird, hatte seit einiger Zeit bei der Regierung in Beijing Besorgnis erregt. Ein im Westen lebender tibetischer buddhistischer Lehrer nannte als einen der Gründe hierfür: "Die meisten Mönche aus China, die in Serthar studieren, sind gut ausgebildet und eher aus städtischem als aus ländlichem Milieu... es ist gerade die Art von Menschen, welche die Behörden nicht vom tibetischen Buddhismus oder tibetischen Anschauungen beeinflußt sehen wollen." Einem Bericht von International Campaign for Tibet (ICT) zufolge bezeugt ein chinesischer Arzt, der in Serthar studierte, die Offiziellen hätten den Lehrern des Instituts untersagt, Chinesen in Vajrayana zu unterrichten und zu Belehrungen nach China zu reisen, und ihnen mitgeteilt, daß es chinesischen Staatsangehörigen verboten sei, buddhistische Lehrreden von tibetischen Lamas anzuhören.

III.7.

Selbstmord und Krankheit unter vertriebenen Nonnen: Ein Augenzeugenbericht

"Wangmo war eine 21-jährige Nonne aus dem Distrikt Drango. Sie beging am 6. Juli 2001 Selbstmord, indem sie sich mit dem Gürtel ihrer Robe erhängte. Ich sah mit eigenen Augen ihre Leiche am Ast eines Baumes baumeln. Wangmos alte Eltern hatten ebenfalls im Institut gewohnt.

Ungefähr 200 Nonnen werden in Krankenhäusern in den Distrikten Drango, Serthar und Barkham behandelt. Im Laufe der Vertreibungen fielen viele Nonnen wegen des gewaltigen Schocks in Ohnmacht. Unfähig, die erzwungenen Einschränkungen zu ertragen, verließen Hunderte von Nonnen bei Nacht das Institut. Ein paar Geistliche, vor allem Nonnen, erlitten Nervenzusammenbrüche. Die gewaltsame Trennung von Khenpo Jigme Phuntsok, unserem Wurzellama, und die Restriktionen in den religiösen Übungen, denen wir unser Leben widmeten, hatte enorme psychologische Auswirkungen."

III.8.

Schluss

Beijings Bürokratie zögert, Gründe für die Razzia in Serthar anzugeben, und die wenigen offiziellen Kommentare, die es gibt, sind widersprüchlich. Ein Funktionär des Büros für religiöse Angelegenheiten in Sichuan äußerte Sorge wegen der "sozialen Stabilität" und rechtfertigte die Vertreibungen damit, daß sie "auf Befehl der Zentralregierung durchgeführt" worden seien. Lokale Beamte gaben jedoch eine Erklärung ab, welche die kürzlich erfolgten Ausweisungen als eine "Operation der Umorganisierung" bezeichneten. Wieder ein anderer Beamter sagte, die Polizei sei herbeigerufen worden, um Serthars wachsende Bevölkerung "zu säubern und in die rechten Bahnen zu lenken". Durchweg leugneten die Beamten, daß bei der Ausweisung und Vertreibung von über 7 000 Studenten Gewalt angewendet worden sei.

In öffentlichen Verlautbarungen rechtfertigen die Behörden der VRC ihre Aktionen lediglich als Mittel, um die übergroße Zahl von Studenten zu reduzieren. In vertraulichen Dokumenten wird das Serthar Institut hingegen beschuldigt, mit der "Dalai Clique" zu sympathisieren, antichinesische Elemente zu beherbergen und nicht den "offiziellen Standpunkt" zu vertreten. Die Anwesenheit zahlreicher internationaler Studenten in Serthar wurde als eine potentielle Bedrohung der "Stabilität" der Nation angesehen. Das offizielle Mißtrauen der Religion gegenüber wurde von Hu Jintao, dem Vizepräsidenten der VRC, im März 2001 ausgesprochen, als er sagte, daß "illegalen Aktivitäten unter dem Deckmantel der Religion energisch Einhalt geboten werden muß...". Hu, der designierte Nachfolger von Jiang Zemin, ist ein streng linientreuer Funktionär; von 1988 bis 1992 war der Sekretär der KP in der Autonomen Region Tibet.

Vor der Razzia in Serthar hatte offensichtlich ein höheres Parteimitglied Präsident Jiang Zemin und anderen in der Beijinger Hierarchie gegenüber seine Sorge darüber geäußert, daß "die Anzahl der Mönche und Nonnen unkontrolliert gelassen werde". Das könnte "eine Gefahr separatistischer Aktivitäten" darstellen. Berichten zufolge untersuchte daraufhin die "Abteilung Vereinte Arbeitsfront" diesen Verdacht und sprach das Institut von jedem Fehlverhalten frei, denn sie habe "wenig bis keinen Beweis spalterischer Aktivität" gefunden. Dennoch bestanden die Regierung auf den Ausweisungen.

Als 1996 die erste Welle der Kampagne zur "patriotischen Erziehung", die sich in erster Linie die Mönchs- und Nonnenklöster vornahm, begann, blieb das Serthar Institut verschont. Dies wird allgemein dem Status des Instituts als "Akademie" zugeschrieben, demzufolge Serthar eher als eine Lehranstalt denn als religiöse Institution betrachtet wurde. Berichte lassen aber vermuten, daß Khenpos Weigerung, der Inthronisierungszeremonie für den von den Chinesen bestimmten Panchen Lama 1995 in Lhasa beizuwohnen, die chinesische Führung erboste. Beijing ließ das Institut in den 80iger und frühen 90iger Jahren ohne staatliche Einmischung wachsen und gedeihen, weil die religiöse Führung in ihren spirituellen Lehrreden niemals auf politische Angelegenheiten zu sprechen kam. Die wachsende Popularität und internationale Bekanntheit des Instituts wirkten jedoch als Katalysator für den schon vorhandenen Argwohn der Chinesen.

Aussagen von gut unterrichteten Flüchtlingen bestätigen, daß die Einwohner des Serthar Instituts die chinesischen Behörden niemals herausgefordert, noch sich ihnen gegenüber irgendeines Vergehens schuldig gemacht haben, so daß die jüngsten Repressalien als eine von Angst hervorgerufene Reaktion gesehen werden. Man ist überzeugt, daß es keinen realen Beweis zur Rechtfertigung der behördlichen Maßnahmen gibt. Wegen der hohen Zahl an Studenten wird von offizieller Seite behauptet, das Serthar Institut sei kein reiner Lehrbetrieb, und es wird verdächtigt, in politische oder Spionagetätigkeiten verwickelt zu sein.

Die Razzien in Serthar im Jahre 2001 widersprechen den häufigen Beteuerungen der chinesischen Regierung, in Tibet herrsche religiöse Freiheit. Der Abriß und die Zerstörung dieses erstrangigen Instituts für höhere buddhistische Studien - im heutigen Tibet gibt es an Größe, Umfang und Qualität der Lehre kein vergleichbares - ist nicht nur ein großer Verlust für Tibet, auch die Gelehrsamkeit in der internationalen Welt buddhistischer Studien wird durch diese Untat betroffen. In den Worten zweier Studenten, die nach ihrer Ausweisung aus Serthar kürzlich ins Exil flohen: "Die chinesischen Behörden fürchteten offensichtlich den Einfluß, den all diese hochgebildeten Intellektuellen eines Tages haben würden. Deshalb starteten sie diesen Angriff auf Serthar im Namen von 'Revisionspolitik und Disziplin'."

nach oben