Mai 2009
Von der Finsternis zur Morgenröte
von Jamyang Norbu

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Englisches Orginal: http://www.jamyangnorbu.com/blog/2009/05/17/from-darkness-to-dawn/

Chinesische Strafjustiz in Tibet von der Kaiserzeit bis zur Unabhängigkeit

Am 1. November 1728 richteten auf einer Wiese am Ufer des südwestlich vom Potala gelegenen Bamari-Kanals Soldaten des Expeditionskorps der Manchu siebzehn Tibeter hin. Dreizehn von ihnen wurden enthauptet, zwei weitere – hohe Lamas – wurden langsam erdrosselt. Die beiden wichtigsten Häftlinge, die Kashag-Mitglieder Ngabo und Lumpa wurden mittels der als „lingchi“ bekannten speziellen chinesischen Form der Exekution hingerichtet, die häufig  mit „schleichender Tod“ oder „Tod der tausend Schnitte“ übersetzt wird. Dabei wurden dem Verurteilten methodisch und über einen gewissen Zeitraum hinweg – unter Umständen einen ganzen Tag lang – Stückchen seines Körpers mit einem Messer abgeschnitten, bis er schließlich starb. Der Begriff „lingchi“ leitet sich von der klassischen Beschreibung des langsamen Berg-aufwärts-Gehens ab.

Wie der Historiker Luciano Petech (1) schreibt, waren die Einwohner von Lhasa, die man gezwungen hatte, diesem grauenvollen Ereignis beizuwohnen, von dem Spektakel – denn als solches war es beabsichtigt – zutiefst traumatisiert. Damit diese Lektion in staatlichem Terror auch dem Letzten klar werde, wurden ebenfalls die Angehörigen der Verurteilten, einschließlich der Kinder, hingerichtet. Ein tibetischer Augenzeuge jener Zeit, der Beamte und Gelehrte Dokar Tsering Wangyal, schrieb fünf Jahre später, dass er nach all den Jahren immer noch bedrückt und verstört sei, wenn er bloß daran denke. Der tibetische Minister Phola war von dem Spektakel so tief erschüttert, dass er in den darauf folgenden Tagen in vielen Tempeln in Lhasa Opfer darbrachte und Butterlämpchen für das jenseitige Wohl der Getöteten anzündete. Dabei ist hervorzuheben, dass die hingerichteten Minister seine Gegner in dem Bürgerkrieg waren, der den Expeditionstruppen den Anlass geliefert hatte, in Tibet einzumarschieren und die Einrichtung des kaiserlichen chinesischen Protektorats in Tibet zu unterstützen.

Diese besondere Form der Hinrichtung wurde in China von ungefähr 900 n. Chr. bis zum Jahre 1905 praktiziert. Allerdings berichten die Autoren einer aktuellen, von der Harvard University Press veröffentlichten Studie über „lingchi“, in Osttibet habe es unter der Administration von Zhang Erfeng bis 1910 „lingchi“-Hinrichtungen gegeben. Den Erzählungen von Khampas zufolge „führten chinesische Soldaten den langsamen Tod herbei, indem sie kleine Stücke von dem Körper abschnitten, bis das Herz erreicht war und das Leben erlosch“. Die Autoren meinen, sie könnten aus einem militärischen Notstand heraus so gehandelt haben. (2)

Die tibetische Autorin und  hervorragende Bloggerin Woeser widerlegte kürzlich in einem Interview die offizielle chinesische Propaganda über die „barbarische feudale  Sklavenhaltergesellschaft “ (die immer wieder durch Ausstellungen der angeblich im alten Tibet verwendeten Folterinstrumente wie Käfige, Hand- und Fußschellen, Schandkrägen, Steine und Messer zum Ausstechen der Augen „bewiesen“ werden soll). Wie sie erklärte, kamen die brutalsten Folterwerkzeuge aus China – die kaiserlichen Gesandten der Qing-Dynastie hatten sie nämlich erst nach Tibet gebracht. (3)

Eines der auffälligsten chinesischen Strafinstrumente in dieser Hinsicht war der „mu jia“, der in den meisten europäischen Schriften über China als „cangue“ bezeichnet wird. Er ähnelte dem Schandkragen vergangener Zeiten in westlichen Ländern, nur war das Brett des „cangue“ nirgends befestigt, sondern der Gefangene musste mit ihm herumlaufen. In Tibet war er sinnigerweise als „gya-go“ oder „Chinesische Tür“ bekannt, und die Manchu-Administration machte regen Gebrauch von ihm. Abgesehen von seiner einengenden Eigenschaft war der „cangue“ wegen seines Gewichts eine äußerst schmerzhafte Form der Bestrafung. Die übliche Weise der Bändigung von Häftlingen bestand in der Anlegung von Fußeisen („kang-chak“).

Eine andere Form der legalen Folter und Bestrafung, die die Chinesen in Tibet einführten, waren die Daumenschrauben. Zusammen mit anderen Folterwerkzeugen waren derartige Instrumente dieses Jahr in der Ausstellung „50. Jahrestag der demokratischen Reformen in Tibet“ in Peking zu bewundern, wo sie die Barbarei des „alten Tibet“ bezeuge sollten. Aber für dieses angeblich tibetische Folterutensil gibt es nicht einmal eine tibetische Bezeichnung. Statt dessen tauchen genau diese Daumenschrauben in einem Kompendium aus der Ming-Zeit über derartige Gerätschaften auf. (4)

Folterinstrumente aus der Zeit der Ming

Die Hinrichtung durch Enthauptung (shatou) war die Standardstrafe der Chinesen für alle, die ihre Herrschaft in Tibet herauszufordern wagten. Um 1910, als es in Tibet zu Akten des Widerstandes und der Rebellion gegen die kaiserliche chinesische Herrschaft kam und der 13. Dalai Lama nach Indien floh, war sie die bevorzugte Art der Hinrichtung. Wie ein alter Mönch berichtete, der Zeuge einer Hinrichtung auf dem chinesischen Paradeplatz (jiaochang) in Shigatse wurde, musste sich der verurteilte Tibeter hinknien, während ein Manchu-Soldat sein Haar nach hinten zog, um seinen Hals zu strecken und ihn für das Schwert (dadao) des Scharfrichters bereitzumachen. (5)

1728 wurde das Amt der „Ambane“ oder kaiserlichen Residenten in Lhasa geschaffen. Die ersten beiden Ambane, Seng Ta-zing und Me Ta-zing (wie sie in den tibetischen Aufzeichnungen genannt werden), reorganisierten Militär und Verwaltung in Tibet und führten offenbar die chinesischen Formen der Strafjustiz ein, die dann neben den traditionellen tibetischen Strafen angewandt wurden. Allerdings waren die chinesischen Strafen, wenn es um Unterdrückung der Tibeter ging, deutlich effektiver. In seiner Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts in Tibet kommt Petech zu dem Schluss, die kaiserliche Macht in Tibet habe unter anderem auf dem Terror basiert, der sich seit der blutigen Repression von 1728 den Gemütern der tibetischen Aristokratie eingeprägt hatte. (6)

Die vermutlich übelsten Erfahrungen mit chinesischer Despotie und dem Justiz-Terror dürfte Osttibet gemacht haben – und zwar nicht nur in der Manchu-Zeit, sondern auch in der republikanischen Periode und der darauf folgenden Ära der Kriegsherren. Der englische Diplomat Eric Teichman, der 1918 die Verhandlungen zwischen der tibetischen und der chinesischen Armee in Kham vermittelte, schreibt: „Es gibt keine bisher bekannte Foltermethode, die hier nicht gegenüber den Tibetern praktiziert würde – in Stücke schneiden, häuten, kochen, zerreißen und so weiter.“ (7)

Ich blätterte gerade in einem alten National Geographic Heft vom September 1921 über das Leben in Osttibet und stieß dabei auf ein Photo eines gigantischen Kessels – wie sie in Klöstern benutzt werden, um den Tee für die Mönche zuzubereiten. Die Bildunterschrift lautet: „Ein Kessel, in dem Chinesen Tibeter gekocht haben“. (8) Sheltons Artikel enthielt keine weiteren Informationen dazu, aber in seinem Buch „Pioneering in Tibet“ fand ich einen detaillierten Bericht über das „Kochen von Tibetern“. Er war im Bezirk Drayak auf diesen schauerlichen Kessel gestoßen. Der chinesische Oberst, der die örtliche Militärgarnison kommandierte, hatte 45 oder 50 Tibeter gefangengenommen und darüber nachgedacht, wie er es anstellen sollte, von den Tibetern gefürchtet zu werden. Also fesselte er drei Gefangene und steckte sie in den Kessel mit kaltem Wasser. Er brachte das Wasser langsam zu Kochen und garte die Gefangenen gründlich durch. Danach wurden sie an die Hunde verfüttert. Shelton selbst sah noch die blanken Knochen auf Steinen liegen. Andere Gefangene wurden mit Öl übergossen und lebendig verbrannt. Wieder anderen hackte man die Hände ab und schickte sie als Warnung dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Manchen Gefangenen wurden die Arme und Beine an zwei Yaks gebunden, die dann losstieben und sie in Stücke rissen.“ (9)

Es sollte hier deutlich gemacht werden, daß das alte tibetische Strafrecht, das traditionell auf Songtsen Gampo zurückgeführt wird (und vom ersten Phagmotruba-König überarbeitet und später vom 5. Dalai Lama und Desi Sangye Gyatso noch einmal revidiert wurde), verschiedene Formen der Todesstrafe wie Ertränken und Erschießen mit Pfeilen vorsah. Diese Strafen wurden für Kapitalverbrechen verhängt. Aber wir sprechen hier von historischen Zeiten, als „Verräter“ in London aufgehängt, geschleift und gevierteilt wurden, und die Inquisitoren in Spanien und Italien sowie Calvin in Genf Häretiker auf Scheiterhäufen verbrennen ließ, als man in Massachussetts „Hexen“ folterte und hängte. Indessen wurde zum Tode Verurteilten im kaiserlichen Peking noch Anfang des 20. Jahrhunderts Stück um Stück von ihrem Körper weggeschnitten, bis sie starben. 

Riesenkessel zum "Kochen von Tibetern"

Die letzte Aufzeichnung über Ertränken als Form der Todesstrafe in Tibet stammt aus dem Jahr 1884, als das tibetische Parlament bestimmte, daß der Sengchen Lama ertränkt werden müsse, weil er dem britischen Spion Sarat Chandra Das zur Einreise nach Tibet verholfen hatte. Der damalige Strafrechtskodex sah auch andere Körperstrafen wie Amputation der rechten Hand oder das Durchtrennen der Achillessehne für Wiederholungstäter vor, aber diese Strafen wurden später in ganz Tibet abgeschafft.

Die Amputation von Händen und Füssen ist eine der Standard-Anschuldigungen der Chinesen und ihrer westlichen Propagandisten gegen den Dalai Lama und seine Regierung. Dabei wird natürlich nicht erwähnt, dass solche Bestrafungen wie auch die Todesstrafe 1913 in Tibet abgeschafft wurden – eine höchst signifikante, bis heute (sowohl von Peking als auch von Dharamsala) übersehene historische Tatsache, deren Einzelheiten wir noch besprechen werden. Chinesische Propaganda-Veröffentlichungen, Filme und Ausstellungen zeigen stets als Beweis für ihre Behauptungen alte Fotos von amputierten Gliedern, Schädeldecken, Knochen-Ornamenten und Trompeten aus menschlichen Schenkelknochen. Die Leser werden sich vielleicht erinnern, dass der Dalai Lama in den 70er und 80er Jahren beschuldigt wurde, er hätte 108 Jungfrauen exekutieren lassen und ihre Schenkelknochen für rituelle Instrumente verwendet.

Es ist häufig nicht ganz klar, ob solche grausamen Bestrafungen aus der Zeit, als Tibet unter der Herrschaft des kaiserlichen China stand, auf der alten tibetischen Rechtssprechung basierten oder ob es sich dabei um chinesische Strafmethoden handelte, die während der kaiserlichen Herrschaft in Tibet eingeführt wurden. Das Abschneiden von Gliedern passt hervorragend zu einer chinesischen Strafe mit dem Namen „Fünf Schmerzen“ (wutongku), die von dem berühmten Gesetzgeber und Minister der Qin-Dynastie Li Si erfunden wurde. Dabei wurde dem Opfer zuerst die Nase abgeschnitten, dann eine Hand und ein Fuß und anschließend wurde es kastriert. Schließlich wurde ihm auf Taillenhöhe der Oberkörper abgetrennt. Als eine Ironie des Schicksals wurde Li Si 208 v. Chr. selbst auf diese Weise hingerichtet.

Aber anstatt sich mit den Ursprüngen derartiger Strafmethoden zu befassen, ist es vielleicht wichtiger zu klären, unter wessen Herrschaft den Tibetern diese grausamen Strafen angetan wurden – unter tibetischer oder chinesischer? Das ist eine entscheidende Frage, denn Chinas wichtigster „Beweis“ dafür, dass Tibet ein „untrennbarer Teil Chinas“ sei, besteht darin, dass Tibet von 1700 bis 1912 unter der Herrschaft der Manchu gestanden habe.

Folterinstrument aus einer Ausstellung

Daher ist es recht vielsagend, dass Peking und seine Propagandisten im Westen immer dann, wenn sie das Thema „Grausamkeit und Barbarei“ der alten tibetischen Gesellschaft und Regierung auftischen, notgedrungen nur europäische Besucher zitieren können, die Tibet vor seiner Unabhängigkeit im Jahr 1912 bereist haben. Ihre bevorzugten Autoren sind L.A. Waddell, Percival Landon, Edmund Candler und Captain WFT O’Conner, die abgesehen davon, daß sie ihre Erkenntnisse vor 1912 sammelten, alle das britische Invasionskorps von 1904 begleiteten und sich folglich alle Mühe gaben, Tibet und seine Gesellschaft in ihren Schriften zu dämonisieren, um so ihr kriegerisches imperialistisches Unterfangen zu rechtfertigen.

In einem offiziellen Dossier Pekings vom 2. März 2009 zum „50. Jahrestag der demokratischen Reformen in Tibet“ gibt es ein Kapitel mit der Überschrift „Das alte Tibet – eine feudale Sklavengesellschaft unter theokratischer Herrschaft“. Darin wird auf die erste ausführliche Schilderung der alten tibetischen Gesellschaft, die der britische Journalist Edmund Candler verfasste, Bezug genommen. In sachlichem Ton wird festgestellt, er habe 1904 Tibet besucht und die alte tibetische Gesellschaft im Detail beschrieben. (10) Tatsächlich aber war er Kriegsberichterstatter für die Daily Mail und als „eingebetteter Journalist“ mit dem britischen Expeditionskorps unterwegs. Ferner wurde er beim ersten Zusammenstoß in Guru von schwertschwingenden tibetischen Milizionären schwer verletzt. Nicht nur war er alles andere als ein unparteiischer Zeuge, er hielt sich auch nur relativ kurz in Tibet auf.

Zu dieser Zeit begannen die Tibeter, die Herrschaft der Manchu in Frage zu stellen, aber ungeachtet dessen, wie politisch überzeugend sie waren, waren sie natürlich nicht in der Lage, wie auch immer geartete Veränderungen im Verwaltungs- und Rechtssystem Tibets herbeizuführen, solange sie die Chinesen nicht hinauswerfen konnten. Die chinesischen Foltermethoden und die Enthauptungen fanden erst 1912 ein Ende, als sich die chinesische Garnison in Lhasa ergeben hatte und die Truppen in ihre Heimat zurückkehrten.

Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, dass der junge XIII. Dalai Lama und viele seiner Gefolgsleute sich nicht nur von der chinesischen Herrschaft befreien, sondern auch die chinesischen Gesetze und Strafen abschaffen wollten. Im Dezember 1893 hielten Vertreter Großbritanniens und Chinas in Darjeeling Gespräche über die Modalitäten für die Regulierung des Handels mit Tibet ab. Die Tibeter selbst waren bewusst von den Verhandlungen ausgeschlossen worden, aber der Kashag entsandte Minister Shatra als Beobachter. Wie ich bereits in einem früheren Essay ausgeführt habe, empfanden die Briten Shatras Anwesenheit als anmaßend und demütigten ihn öffentlich. L.A. Waddell befand sich damals in Darjeeling und interviewte Shatra mehrmals. Shatra bat Waddell als Gegenleistung um eine Zusammenstellung des britischen Straf- und Zivilrechts, die er nach Lhasa mitnehmen wollte, „um die Regierungsgeschäfte zu verbessern.“ Waddell kam seiner Bitte nach und gab ihm Übersetzungen der allgemeinen Inhalte der britisch-indischen Rechtsvorschriften. Waddell zufolge war Shatra höchst beeindruckt von der Rechtspraxis, dass ein Angeklagter nicht gegen sich selbst aussagen musste, und rief aus: „Warum tun wir dann aber, indem wir dem chinesischen Rechtssystem Folge leisten, das genaue Gegenteil, und foltern den Beschuldigten, bis er die Tat gesteht?“ (11)

Das erste klare Anzeichen für die aufgeklärten Intentionen des Dalai Lama für die Zukunft seines Volkes wurde nach seiner Inthronisierung im Jahr 1895 deutlich. Der bisherige Regent Demo Rinpoche plante nach seiner Demission gemeinsam mit seinen Brüdern Norbu Tsering und Lobsang Dhonden die Ermordung des Dalai Lama. Die Verschwörung wurde aufgedeckt und Demo und seine Brüder wurden verhaftet. Die Nationalversammlung (tsongdu) war außer sich und forderte die Todesstrafe für sie, aber der Dalai Lama verwarf diesen Beschluss mit der Begründung, die Todesstrafe widerspreche den Grundsätzen des Buddhismus. Professor Melvyn Goldstein berichtet von einem Gerücht, demzufolge Demo im Gefängnis heimlich umgebracht worden sei. Natürlich könnte ein übereifriger Beamter so gehandelt haben, aber es gibt überhaupt keine Beweise dafür. Sir Charles Bell schreibt in seiner Biographie des „Großen Dreizehnten“, der Dalai Lama habe ihm erzählt, dass er „… bis zu seiner Flucht nach Indien in keinem einzigen Fall eine Hinrichtung erlaubt hat“. (12)

Besucher einer chinesischen Ausstellung über die barbarischen Strafmethoden in Tibet

Nach seiner Rückkehr aus dem Exil, am achten Tag des vierten Monats des Jahres des Wasserbüffels (1913), verkündete der “Große Dreizehnte“ in seiner Unabhängigkeitserklärung die Abschaffung dessen, was wir heute als „grausame und unübliche“ Bestrafungsmethoden ansehen – zusätzlich zu seinem vorhergehenden Verbot der Todesstrafe. Im Detail heißt es: „Ferner gab es bisher als eine Form der Bestrafung die Amputation von Gliedern der Bürger. Künftig werden derartig harte Strafen verboten.“ (13) Kopien dieser Proklamation wurden in ganz Tibet verbreitet und mussten in den Ämtern eines jeden Distrikts vorliegen.

Charles Bell führt im Index seines Buches „Tibet Past and Present“ drei Referenzen für „das Verbot der Todesstrafe in Tibet“ an. (14) Der angesehene britische Reiseautor, Kunstkritiker und Historiker Robert Byron besuchte Tibet in den frühen 30er Jahren und hielt als eine Tatsache fest: „Die Todesstrafe ist ja nun abgeschafft worden.“ (15) Wie der Pflanzenkundler Frank Kingdom-Ward 1937 anläßlich des Mordes an einem Regierungs-Kurier notierte, hatte der Bezirksmagistrat sogar in einer so entlegenen Region Tibets wie Zayul nicht die Möglichkeit, die Todesstrafe zu verhängen. Kingdom-Ward zog folgenden Schluss: „…die moderne tibetische Regierung, welche die barbarische noch vor 25 Jahren übliche Praxis, Kriminelle zu verstümmeln, eingestellt hat, ist nun ins andere Extrem gefallen und außerordentlich zurückhaltend bei der Anwendung der Todesstrafe geworden.“ (16)

William Montgomery McGovern, ein amerikanischer Anthropologe, der 1922 verkleidet nach Lhasa  reiste (und der möglicherweise als Inspiration für die Figur des Indiana Jones diente), erwähnt nicht nur die Abschaffung der Todesstrafe, sondern auch die Feststellung des Dalai Lama, dass derartige Bestrafungen nicht dem Geist des Buddhismus entsprechen. Weiter schreibt er: „Auch für schwere Straftaten wie Mord können die Richter jetzt nur noch Auspeitschen oder Verbannung anordnen. Der Magistrat von Lhasa erklärte, diese Strafen seien nicht streng genug, um andere Missetäter abzuschrecken und bedauerte, dass das alte System abgeschafft worden sei.“ (17)

Ferner notierte Charles Bell, dass Nepal gegen die Abschaffung der Todesstrafe in Tibet Einwände erhoben habe. Es hätte einige Fälle gegeben, wo Tibeter Nepalesen ermordet hätten, aber mit geringeren Strafen davongekommen seien. Ein „hoher tibetischer Regierungsbeamter“ erzählte Bell, die nepalesische Regierung habe gefordert, diese Tibeter selbst hinrichten zu dürfen. „Bisher haben wir dem nicht zugestimmt. (18)

Der linksstehende Journalist Alan Winnington war der erste Europäer, dem nach der „Befreiung“ durch das kommunistische China die Einreise nach Tibet gestattet wurde. Damals, als noch das traditionelle Rechtssystem in Kraft war, wurde er vom „Obersten Magistrat und Bürgermeister von Lhasa“, Gorkar Mepon, darüber informiert, dass in Tibet „schon seit mehreren Jahren keine Todesurteile mehr verhängt wurden“. Winnington fragte nach „weniger drastischen Urteilen“ wie Amputation von Gliedern, und erhielt eine unerwartete Antwort: „Soweit ich mich erinnere, wurde eine solche Strafe in meiner Zeit nicht verhängt“, versicherte der Mepon. (19)

Obwohl es Mängel und gelegentliche Irrtümer bei der Anwendung des Gesetzes gab, muss man seine Durchführung fast schon als monumental, zumindest aber als äußerst eindrucksvoll bezeichnen. Tibet war eines der ersten Länder auf der Welt, die die Todesstrafe abschafften. Bekanntermaßen halten die USA an ihr fest, und sie wird gelegentlich sogar in buddhistischen Ländern wie Sri Lanka und Thailand verhängt. Thailand versucht buddhistische Empfindlichkeiten damit zu beschwichtigen, dass der Verurteilte durch einen Vorhang hindurch erschossen wird. Japan verhängt immer noch die Todesstrafe und Bhutan schaffte sie erst im Jahr 2004 ab.

Sogar die seltenen Fälle, in denen die revolutionäre juristische Entscheidung des Dalai Lama missachtet oder ihr zuwidergehandelt wurde, zeigen, wie sehr sich Tibet den Idealen des „Großen Dreizehnten“ verpflichtet fühlte. Als 1924 ein Soldat bei der Bestrafung starb, wurde Tsarong, der Oberkommandeur der tibetischen Armee, ein Mann, der persönlich das Leben des Dalai Lama gerettet hatte, degradiert und auf Dauer von seinen militärischen Pflichten entbunden.

Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über Hinrichtungen nach 1913, zudem zeigt der einzige Fall offiziell verhängter „grausamer und unüblicher“ Bestrafung, wie tief sich dieses Gesetz bereits in das Gemüt der Tibeter eingegraben hat. Einige Jahre nach dem Tod des XIII. Dalai Lama plante der Politiker Lungshar einen gewalttätigen Staatsstreich. Nach dessen Scheitern wollten viele Regierungsbeamte Lungshar hinrichten lassen, aber das Gesetz verbot das. Also wurde er zu einer alternativen Strafe verurteilt – zur Blendung. Die Operation wurde verpfuscht. Derartige Strafen waren schon so lange nicht mehr in Anwendung, dass sogar der Akademiker Melvin Goldstein – von wenig tibet-freundlicher Gesinnung – vermerkt, die Klasse von Leuten, die früher Hinrichtungen und derartige Körperstrafen ausführten, hätten es sehr schwierig gefunden, so etwas zu tun: „Sie teilten der Regierung mit, sie könnten das überhaupt nur durchführen, weil ihre Eltern ihnen erzählt hätten, wie man dabei vorgeht.“

Abgesehen von diesem Fall gibt es keine einzige Aufzeichnung über „Augenausreißen“ oder Amputation als Strafe in Tibet. Alan Winningtons Buch enthält nichts dergleichen. Anna Louise Strong, die führende amerikanische Propagandistin des chinesischen Kommunismus, bereiste Tibet und schrieb zwei Bücher. Aber obwohl sie darin in Greueltaten und Grausamkeiten geradezu schwelgt, verfügt sie nur über ein Foto eines blinden Mannes, das sie in beiden Büchern abbildet. (20) Er bleibt namenlos, aber Strong behauptet, er sei von Rebellen geblendet worden, weil er bei der Ausbesserung einer von der Volksbefreiungsarmee gebauten Straße geholfen habe. Eine chinesische Propaganda-Illustrierte von 1981 zeigt dasselbe Foto eines „von Rebellen geblendeten Hirten“. (21) Bis heute habe ich in dem chinesischen Propagandamaterial kein einziges Foto von jemandem entdeckt, der als legale Bestrafung durch die tibetische Regierung geblendet worden wäre. Ferner ist die Behauptung „von Rebellen geblendet“ mit Vorsicht zu genießen, denn es wurden offenbar nirgendwo Einzelheiten über das Opfer oder die Tat aufgezeichnet. Außer diesen Bildunterschriften gibt es keine Angaben.

Derartige propagandistische Übungen seitens Chinas überraschen immer wieder durch ihren kompletten Mangel an näherer Spezifizierung der angeblichen Greuel im alten Tibet. Nicht nur haben die sogenannten Opfer keine Namen, auch die Namen der Täter – Feudalherren oder örtliche Magistrate – werden nie genannt, und das ist noch befremdlicher. Die Chinesen sind im Besitz aller tibetischen Gerichtsdokumente der Vergangenheit. Dennoch wurde meines Wissens kein einziger tibetischer Aristokrat, Beamter oder Magistrat jemals bezichtigt, jemandem die Augen ausgerissen oder die Hände und Füße abgehackt zu haben. Tausende Tibeter wurden wegen konterrevolutionärer und „spalterischer“ Straftaten angeklagt, aber ich habe nie gehört, dass ein tibetischer Aristokrat oder Magistrat wegen dieser „grausamen und barbarischen“ Folterungen und Verbrechen, die die chinesische Propaganda schildert, hingerichtet worden wäre. Auch die so fein säuberlich in museumsartigem Ambiente ausgestellten Folterwerkzeuge lassen jeden Herkunftsnachweis vermissen. In den Beschriftungen werden nirgends die Namen der Personen, Gefängnisse oder Gerichte genannt, bei denen diese Objekte erworben wurden. Noch wird die Zeit, aus der sie stammen oder wann sie verwendet wurden, erwähnt.

Einziges Bild eines menschlichen "Lasttiers"

Genau betrachtet, hat die chinesische Propaganda über das „menschenverachtende Sklavensystem“ kaum Substanz: die immer gleichen alten Fotos von Folterinstrumenten (häufig chinesischen Ursprungs) und menschliche Oberschenkelknochen oder Schädel, wie sie seit jeher in Kuriositätenkabinetten oder Antiquitätengeschäften in Kathmandu, New York und Delhi zu finden sind, und die man heutzutage sogar in Peking, Hongkong und Shanghai bekommen dürfte.

Das folgende hat damit nicht direkt etwas zu tun, aber ich muss es einfach erwähnen (und das Thema damit auch endgültig abschließen), denn dieser hanebüchene Vorwurf wird praktisch in jeder chinesischen Propagandaschrift verbreitet, auf die ich gestoßen bin. Es geht um das Foto eines tibetischen Mannes, der einen anderen Tibeter huckepack trägt. Der Bildtext liest sich so: „Beamte auf dem Rücken tragen – eine der zahlreichen Zwangsarbeiten, die den Leibeigenen auferlegt wurden.“ (22) Erstens ist der getragene Mann ganz sicher kein Beamter, wie man an seiner Kleidung sehen kann. Zweitens hat der Apparatschik im Ministerium für Wahrheit in Peking, der sich das aus den Fingern gesogen hat, offenbar nicht mitbekommen, dass die Tibeter Reiter und Tibet ein Pferdeland war. Alle Tibeter reisten zu Pferde, auch Frauen, Kinder, alte Menschen und hohe Lamas. Nur Bettler und Pilger gingen zu Fuß, und letztere taten es, um auf diese Weise die durch ihre Pilgerreise erworbenen Verdienste zu mehren. Sogar der Dalai Lama ritt auf einem Pferd oder manchmal auch auf einem hornlosen Yak (nalo), wenn er sich von einem Ort zum anderen bewegte. Er besaß eine Sänfte (ein Geschenk des chinesischen Kaisers), aber sie wurde lediglich bei einigen offiziellen Prozessionen in Lhasa benutzt. Sonst gab es in Tibet keine Sänften oder Tragestühle. Vor 1912 benutzten die Ambane wie auch andere chinesische Beamte in Tibet und Kham Amtssänften (guanjiao).

In der Tat rechnen einige Gelehrte die bemerkenswerten militärischen Erfolge, die Zhao Erfeng in Osttibet erzielte, dem Faktum zu, dass er im Gegensatz zu anderen chinesischen Mandarinen nicht an seiner Sänfte und seiner Opiumpfeife hing, sondern hart im Nehmen war und mit seinen Männern die Mühsal des Soldatenlebens teilte. Eric Teichman schreibt über ihn: „Anders als die etwas effeminierten und die Bequemlichkeit liebenden Männer aus Szechuan verachtete er den Tragestuhl und ritt zu Pferde durch Osttibet.“ (23)

Auch wenn das durchaus bewundernswert ist, so möchte ich betonen, dass in Tibet alle – die höchsten Lamas, Aristokraten, Damen und sogar der oberste Gouverneur von Osttibet – auf dem Pferd ritten oder zu Fuß gingen.

Bei dem Brauch, Menschen zu benutzen, um andere Menschen zu tragen, handelt es sich definitiv um eine chinesische und nicht um eine tibetische Sitte. Personenbeförderung im alten China erfolgte hauptsächlich auf Tragestühlen, in Sänften und Rikschas, die alle von armen chinesischen Kulis gezogen oder getragen wurden. Der berühmte Roman „Rikscha“ (Lo Tuo Xiang Zi) von Lao She beschreibt auf zu Herzen gehende Weise das elende Dasein eines dieser TB-geplagten und opiumrauchenden menschlichen Lasttiere. Unter der kommunistischen chinesischen Herrschaft wurde einer meiner Cousins (dessen gesellschaftliche Stellung sich für ihn ungünstig auswirkte) in Lhasa gezwungen, als Kärrner einen Handkarren (therka) zu ziehen. Das war mehr als zwanzig Jahre lang seine Arbeit. Er schleppte Baustoffe, Waren und Menschen durch die heilige Stadt und hat noch heute dicke Schwielen an den Händen.

Wenn man sich die Aufzeichnungen von Tibet-Reisenden zwischen 1913 und der chinesischen Invasion ansieht, dann stellt man fest, dass darin keine Berichte über grausame Bestrafungen mehr vorkommen, so wie sie in früheren Reiseberichten üblich waren – gleichgültig, ob die Texte von Europäern oder Chinesen verfasst  wurden. Heinrich Harrer, der die meisten der eher negativ gehaltenen Berichte der früheren englischen Reiseschriftsteller gelesen hatte, schreibt: „Wir haben niemals derart grausame Bestrafungen gesehen. Die Tibeter sind wohl im Lauf der Zeit nachsichtiger geworden. Ich erinnere mich an eine öffentliche Auspeitschung, die meinem Eindruck nach zu milde ausfiel.“

Charles Bell erwähnt ebenfalls, die Tibeter seien mit der Zeit milder und zivilisierter geworden und deutet dabei gerne einen zivilisatorischen Effekt durch den Kontakt mit Britisch-Indien an. Albert Shelton ist explizit der Meinung, die Tibeter wären infolge des Einflusses der englischen Sitten und Gesetze, welche der Dalai Lama und die tibetischen Beamten in ihrem Exil in Darjeeling kennengelernt hatten, humaner und zivilisierter geworden. Bis zu einem gewissen Punkt können wir Bell und Shelton zustimmen, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Briten in Indien und auch in ihren anderen Kolonien Einheimische in Massen aufhängten. Somit kann die Entscheidung des XIII. Dalai Lama über die Abschaffung der Todesstrafe nicht unbedingt auf dieses spezifische Vorbild zurückgeführt werden.

Sogar nach den Reformen des XIII. Dalai Lama war das tibetische Rechtssystem zugegebenermaßen mangelhaft, korrupt und beinhaltete nach wie vor brutale Strafmaßnahmen. Die Standard-Strafe in Tibet war das Auspeitschen mit einer Lederpeitsche. Immerhin war das nicht ganz so grausam wie die Strafe mit der Neunschwänzigen Katze der Königlichen Marine (die in der Marine und britischen Gefängnissen noch bis 1957 eingesetzt wurde), wo manchmal die Enden der Riemen mit Stahlkugeln oder Drahtstacheln verstärkt wurden, um die durch das Auspeitschen möglichen Verletzungen zu maximieren.

Die Zahl der Todesopfer unter den Delinquenten wurde in Tibet auch dadurch vermindert, dass man sie aufs Gesäß statt auf den Rücken schlug. Dennoch war das nach heutigen Standards unzweifelhaft brutal, und ich bin keineswegs der Ansicht, dass diese Praktiken zu rechtfertigen seien: Weder im Tibet vor 1950 noch in den zahlreichen Ländern Afrikas und Asiens, wo das heute noch gang und gäbe ist, zum Beispiel Pakistan, Afghanistan, Singapur, Malaysia, Nigeria, Saudi Arabien und natürlich China. Dort hat man diese Praxis allerdings modernisiert und greift gerne zum elektrischen Schlagstock.

Tibetische Gefängnisse waren bestimmt ungemütliche Orte. Aber Inhaftierung war generell nur während des Strafverfahrens üblich, vermutlich wegen der damit verbundenen Kosten und sonstigen Probleme. Woeser zufolge gab es in Lhasa nur zwei kleine Gefängnisse. Sie schreibt: „Sie waren gerade einmal groß genug für ca. 20 Häftlinge.“ Andere Informationen über die tibetische Rechtssprechung besagen, dass es im Gerichtsgefängnis von Shol in Lhasa nur Platz für „30 bis 50 Gefangene“ gab, während das zentrale Gefängnis Nangtse-shak lediglich über zwei große Zellen und einen Kellerraum verfügte, in dem schätzungsweise maximal 30 Personen inhaftiert werden konnten. (24) Kriminelle wurden häufig in Fußeisen gelegt und konnten damit ohne Bewachung in der Stadt herumlaufen und um Essen betteln. Politische Gefangene mit einer gewissen Bedeutung wurden nach West- oder Südtibet verbannt, wie zum Beispiel Kunphel la, Changochen, Khyungram und andere. Nur eine sehr geringe Anzahl von politischen Gefangenen war tatsächlich in den Gefängnissen von Lhasa inhaftiert. Lungshar wurde vier Jahre lang eingesperrt und Gedun Chophel saß drei Jahre lang ein.

Als Gedun Chophel im städtischen Gefängnis saß, hatte er laut Donald Lopez eine eigene Zelle in einem der oberen Stockwerke und durfte Essen und Bettzeug von Freunden entgegennehmen. Dann wurde er ins Zhol-Gefängnis verlegt. „Die physischen Haftbedingungen dort waren zwar schlechter, aber dafür bekam er Schreibzeug. Er konnte mit seiner Arbeit an den Weißen Annalen fortfahren und schrieb auch Briefe und Gedichte. Nach seiner Freilassung versorgte ihn die Regierung mit einer Wohnung hinter dem Jokhang, oberhalb des Landwirtschaftsministeriums sowie ein aus Geld und Getreide bestehendes Stipendium mit der Anweisung, dass er an den Weißen Annalen weiterarbeiten sollte. Das tat er allerdings nicht.“ (25) Ich habe das nicht etwa erwähnt, um den Umgang der tibetischen Regierung mit dem großen Gelehrten schönzureden, sondern um einen Vergleich mit den Bedingungen in chinesischen Gefängnissen zu schaffen. Hat jemals ein Insasse in einem „laogai“ (Arbeitslager) ein geschichtliches Werk oder Poesie geschrieben?

Generalamnestien, bei denen alle Häftlinge freigelassen und die Gerichte und Gefängnisse geleert, gereinigt, frisch verputzt und mit glückverheißenden Zeichnungen verziert wurden, waren in Tibet nicht unüblich. Der Anlass dafür konnte die Auffindung einer neuen Inkarnation des Dalai Lama oder dessen Inthronisierung sein oder aber, wenn er ein „Hindernis-Jahr“ (kag) [www.tibet.com/Med_astro/astro.html] durchlief. Auch anlässlich der Einsetzung eines neuen Regenten oder einer nationalen Krise oder Feierlichkeit konnte eine Amnestie ausgerufen werden.

Bei der kommunistischen Propaganda über die „schrecklichen Verliese im Potala mit ihren giftigen Skorpionen“ handelt es sich um Altweibermärchen. Vermutlich gab es in den Gefängnissen von Lhasa Skorpione und Spinnen, wie an jedem anderen dunklen Ort auch. Lungshar beklagte sich bei seinem Sohn darüber. Der in Lhasa gebürtige Thupten Khetsun erwähnt in seinen Memoiren, wie ein chinesisches Propagandateam in einem Gefängnis in Lhasa fotografierte und Filmaufnahmen machte. Zuvor hatte es dort Skelette und Skorpione hingebracht. „Das Nachbarschaftskomitee von Shol lies Kinder Skorpione fangen, die für den Propagandafilm verwendet wurden. Aber als sie dann mit den Aufnahmen begannen, blieben die Skorpione nicht auf den Leichen sitzen, die dort plaziert worden waren, sondern versuchten in die Mauerritzen zu entkommen. Deshalb musste man sie mit auf dem Film unsichtbarem Garn festbinden.“ (26)

Thupten Khetsuns Buch demonstriert auch, wie lächerlich unbedeutend der traditionelle tibetische Strafvollzug im Vergleich zu dem von China aufgebauten gigantischen Gefängnis- und laogai-System ist, das in Tibet (und der VR China) weiterhin existiert. Allein in Lhasa und Umgebung gab es nach 1959 große Gefängnisse und Haftanstalten wie Silingpu, Tering, Norbulingka, Drapchi, Gutsa (möglicherweise habe ich ein paar vergessen), wo Tausende Gefangene inhaftiert waren. In mindestens dreien davon saß auch Thubten ein. Thubten war auch in den Zwangsarbeitslagern (laogai) in Nachen und Powo-Tramo inhaftiert, wo Zehntausende tibetische Gefangene einsaßen und viele Tausende starben. Wir dürfen auch die großen laogai-Lager in Amdo und Kham – Tsaidam, Rang-nga-khang in Minya und Yakraphuk nördlich von Dartsedo nicht vergessen. Man braucht wohl nicht zu erwähnen, dass dieses System nach wie vor praktiziert wird.

Die barbarische Grausamkeit, Ungerechtigkeit und die Schreckensherrschaft, welche die Tibeter unter der Manchu-Regierung bis zu ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1912 erdulden mussten, wurden unter der Herrschaft der chinesischen Kommunisten nicht beendet, sie blieben die gleichen und wurden einfach fortgesetzt.

Anmerkungen

1. Petech, Luciano. China and Tibet in the Early XVIIIth Century, E.G. Brill, Leiden, 1972, pg 149

2. Brook,Timothy. Bourgon, Jerome. Blue, Gregory. Death By a Thousand Cuts, Harvard University Press, 2008, pg 251.

3. Zhang Nan, Voice of America, Mar 29, 2009, “Tibetan Writer Questions Beijing’s Version of Tibetan History” Source: VOA, 29 March, 2009.

Deutsch siehe: “Tibetische Schriftstellerin stellt Pekings Version der tibetischen Geschichte in Frage (März 2009)“, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/ctc/2009/Woeser_tib.Geschichte_31.3.html

4. Wang Qi, ed. Sancai tuhui Illustrated compendium of the three powers [heaven, earth, humanity]. Nanking: wuyun xuan, 1609.

5. Conversation with Loten la, Dharamshala, November 1973.

6. Petech, pg196.

7. Teichman, Eric, Travels of a Consular Officer in Eastern Tibet, Cambridge University Press, London, 1922, pg 228.

8. Shelton, Albert. “Life among the People of Eastern Tibet”, National Geographic Magazine, September 1921, pg 325.

9. Shelton, Albert. Pioneering in Tibet, Fleming H. Revell, New York, 1921, pg 93-94.

10. “Full Text: Fifty Years of Democratic Reform in Tibet” http://news.xinhuanet.com/english/2009-03/02/content_10928003_4.htm

11. Waddell, L.A., Lhasa and its Mysteries, Methuen & Co., London, 1906, pg 48.

12. Bell, Charles: Portrait of a Dalai Lama, Wm. Collins, London, 1946. pg

13. Shakabpa, W.D. Tibet: A Political History, Yale, 1967, pg 248.

14. Bell, Charles: Tibet Past and Present. London: Oxford University Press, 1924. See index: “Capital punishment abolished in Tibet, 142, 143, 236.”

15. Byron, Robert. First Russia then Tibet. London: Macmillan & Co., 1933. pg 204

16. Kingdon-Ward, Frank. In the Land of the Blue Poppies. New York: Modern Library, 2003. pg 222.

17. McGovern, William. To Lhasa in Disguise. New York: Century Co., 1924. pp. 388-389. pp. 388-389

18. Bell. Tibet Past and Present, pg. 236.

19. Winnington, Alan. Tibet: The Record of a Journey. London: Lawrence & Wishart Ltd., 1957. pg 99.

20. Strong, Anna Louise, Tibetan Interviews, New World Press, Peking 1959 between pg 110-111. Strong, Anna Louise, When Serfs Stood Up in Tibet, New World Press, Peking 1965, between pg 74-75

21. Jin Zhou, ed. Tibet No Longer Mediaeval, Foreign Language Press Beijing, pg 56.

22. Ibid. pg 56

23. Teichman, pg 36-37

24. French, Rebecca. The Golden Yoke: The Legal Cosmology of Buddhist Tibet, Cornell University, Ithaca, 1995, pg 325

25. Lopez Jr., Donald S. The Madman’s Middle Way: Reflections on Reality of the Tibetan Monk Gendun Chopel, The University of Chicago Press, Chicago, 2006, pg 43

26. Khetsun, Tubten. (translated by Matthew Akester) Memories of Life in Lhasa under Chinese Rule, Columbia University Press, New York, 2007, 51-52