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Januar 2005

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD)
Top Floor, Narthang Building, Gangchen Kyishong, Dharamsala 176215, H.P.
phone +91 1892 223363 / 229225, fax: +91 1892 225874, e-mail: dsala@tchrd.org, www.tchrd.org

Kapitel Bürgerliche Freiheiten

Jahresbericht über Menschenrechtsverletzungen in Tibet 2004

D. Bürgerliche und politische Rechte

China hat das Internationale Abkommen über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) am 5. Oktober 1998 unterzeichnet, es aber noch nicht ratifiziert – mit der Begründung, für ein in der Entwicklung begriffenes Land wie es selbst, seien die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Volkes wichtiger als die bürgerlichen und politischen. China ratifizierte lediglich das Internationale Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR).

Die Tatsache, daß Peking den ICCPR noch nicht ratifiziert hat, befreit es jedoch nicht von der Pflicht, die verfassungsmäßigen Rechte seiner Staatsbürger zu gewährleisten. China ist ebenso verpflichtet, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR) niedergelegten Prinzipien zu achten und einzuhalten. In der Präambel zum ICCPR heißt es eindeutig:

”In der Erkenntnis, daß nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Ideal vom freien Menschen, der bürgerliche und politische Freiheit genießt und frei von Furcht und Not lebt, nur verwirklicht werden kann, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine bürgerlichen und politischen Rechte ebenso wie seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genießen kann…”.

China nutzt alle ihm zur Verfügung stehenden diplomatischen Mittel, um eine Untersuchung der Menschenrechtslage im Land zu blockieren. Bei Menschenrechtsfragen gibt China bilateralen Gesprächen den Vorzug vor multilateralen, weil es einfacher ist, auf ein einzelnes Land Druck auszuüben als gleichzeitig auf viele. Während der China-EU Beratungen zur Ratifizierung des ICCPR, die im Juni 2004 stattfanden, versprachen die Vertreter Chinas, sich ernsthaft mit dem Abkommen zu befassen und die notwendigen Voraussetzungen für dessen baldige Ratifizierung zu schaffen[1].

Allerdings decken sich die chinesischen Versprechungen nicht mit dem, was in der Praxis geschieht. Auch 2004 wurde die Meinungs- und Redefreiheit in China massiv unterdrückt. Ein deutliches Beispiel für das Ausmaß der Kontrolle der Redefreiheit durch die chinesischen Behörden bietet der Fall der tibetischen Schriftstellerin Woeser, die wegen ihrer Verbundenheit mit dem Dalai Lama und der tibetischen Religion verfolgt wird[2]. Ebenso verdeutlicht die Festnahme von drei chinesischen Intellektuellen, die kein Blatt vor den Mund nahmen, im Dezember und ihre kurz darauf erfolgte Freilassung, wie weit Peking mit seinen Maßnahmen geht, um die Intellektuellen im Lande zum Schweigen zu bringen.

Dem TCHRD wurden 2004 einundzwanzig Fälle von Verhaftungen wegen des Verdachts auf Aktivitäten bekannt, die von der Regierung als eine ”Gefährdung der Staatssicherheit” angesehen werden – also Aktivitäten, bei denen Freiheit für Tibet gefordert oder auch nur Verehrung gegenüber dem Dalai Lama ausgedrückt wurde. Des weiteren liegen dem TCHRD Informationen über mindestens zwanzig Fälle von Verhaftungen von Tibetern vor 2004 vor. Nach den Unterlagen des TCHRD beträgt die Anzahl der politischen Gefangenen145 Personen (Stand Dezember 2004). Die Neuauflage der ”Kampagne des harten Durchgreifens” in der Autonomen Region Tibet (TAR) und die Fortführung und Intensivierung der ”Kampagne der patriotischen Umerziehung” in den Klöstern Tibets sind klare Anzeichen dafür, daß der Staat seine Kontrolle weiter verstärkt hat. Die Ankündigung der Durchsetzung der Bestimmungen über religiöse Angelegenheiten vom 30. November 2004 gegenüber allen religiösen Vereinigungen am 1. März 2005 läßt Schlimmes für das tibetische Volk befürchten. Es ist sicher, daß religiöse Einrichtungen wie Klöster und Schulen unter strenge Kontrolle gestellt werden. Manchen droht ihre endgültige Schließung, was sich eindeutig auf die Lebensweise des tibetischen Volkes auswirken wird.

Die folgenden drei Kapitel über bürgerliche und religiöse Freiheiten und das Recht auf Information geben einen detaillierten Einblick in die schweren Verletzungen der bürgerlichen und politischen Rechte, die nach wie vor in Tibet an der Tagesordnung sind.

Kapitel I. Bürgerliche Freiheiten

  • Einführung
  • Das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung
  • Willkürliche Festnahme und InhaftierungProminente Fälle willkürlicher  Verhaftung in Tibet
  • Folter
  • Tod im Polizeigewahrsam
  • Das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren
  • Unabhängigkeit der Justiz
  • Todesstrafe
  • Anti-Terror-Übungen in Lhasa
  • Die “Kampagne des harten Durchgreifens”
  • Einrichtungen zur ”Umerziehung-durch-Arbeit”
  • Einschränkung der Bewegungsfreiheit
  • Zusammenfassung

Einführung

Die VR China unterzeichnete das Internationale Abkommen über Bürgerliche und Politische Rechte (ICCPR) am 5. Oktober 1988. Obwohl dies ein wichtiger Schritt in Richtung Verwirklichung der bürgerlichen und politischen Rechte ist, bleibt zu bedauern, daß China diesen Vertrag bislang noch nicht ratifiziert hat.

Am 14. März 2004 verabschiedete der 10. Nationale Volkskongreß Chinas eine Verfassungsänderung, die eine allgemeine Bestimmung zu den Menschenrechten beinhaltet. Der Art. 33(3) der chinesischen Verfassung lautet nun: “Der Staat achtet und schützt die Menschenrechte”. Dieser Zusatz wurde allgemein als ein Fortschritt in Sachen Menschenrechte in China gewürdigt. Solange die generelle Feststellung des Art. 33(3) jedoch nicht in geeignete gesetzliche Bestimmungen umgesetzt und vor allem durch ein effektives Rechtssystem und eine unabhängige Justiz abgesichert wird, ändert sich im wesentlichen an der allgemeinen Menschenrechtssituation in China wohl nichts.

Was die Menschenrechtslage in Tibet betrifft, so kann leider von keiner Besserung berichtet werden, sie hat sich eher verschlechtert. Nachrichten, die uns aus Tibet erreichen, liefern ein Bild der systematischen Verletzung der bürgerlichen und politischen Rechte der einheimischen Bevölkerung.

Die Art. 35 und 36 der chinesischen Verfassung gewährleisten das Recht auf Rede-, Versammlungs- und Religionsfreiheit. Aber trotz dieser verfassungsmäßigen Garantien werden die Menschenrechte in Tibet kontinuierlich verletzt, wie die Augenzeugenberichte der ins Exil geflohenen Tibeter belegen. Die Realität ist, daß sowohl die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als auch die Meinungs- und Religionsfreiheit schwer eingeschränkt sind.

Was die politischen Rechte betrifft, so kamen in dem Berichtsjahr einige bekannte politische Häftlinge frei: Phuntsok Nyidrol, die weibliche Gefangene mit der längsten Haftstrafe, wurde nach 16 Jahren aus dem Drapchi Gefängnis entlassen; Ngawang Woeser und Ngawang Gyaltsen, Mönche aus dem Kloster Drepung, welche die Demonstration vom September 1987 anführten; Geshe Sonam Phuntsok, der in dem Chuangdong Gefängnis No. 3 in der Provinz Sichuan inhaftiert war. Aus der Freilassung von ein paar politischen Häftlingen und einer rückläufigen Tendenz bei der Gesamtzahl der Häftlinge darf man jedoch noch auf keine Besserung der Menschenrechtslage in Tibet schließen.

Das TCHRD hat 146 Fälle von politischen Häftlingen dokumentiert, die immer noch in den diversen chinesischen Gefängnissen in Tibet einsitzen. Von diesen verbüßen 55 Haftstrafen von über 10 Jahren, und 63 % aller Häftlinge sind Mönche. Das TCHRD ist überzeugt, daß es noch weit mehr Fälle von Festnahmen gibt, die aber nie ans Licht kamen. Amnesty International weiß von mindestens 145 Fällen tibetischer politischer Häftlinge, die festgehalten werden, weil sie auf friedliche Weise für die Unabhängigkeit Tibets eintraten oder dem Dalai Lama loyal bleiben wollten. Da unabhängigen Personen der Einblick in die Gefängnisse und der Zugang zu den Häftlingen verwehrt werden, ist es absolut unmöglich, die genaue Anzahl der tibetischen politischen Häftlinge festzustellen.

In dieser Beziehung ist aufschlußreich, daß der frühere Sonderbeauftragte der UNO für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, Theo van Boven, dessen China-Besuch für Ende Juni 2004 vorgesehen war, wissen ließ, daß seine Mission auf Bitte Chinas auf später im Jahr verschoben wurde. Die Regierung begründete den Aufschub damit, daß sie zur Vorbereitung für seinen zweiwöchigen Besuch etwas mehr Zeit benötige[3]. Alle Anstrengungen, die van Bovens Vorgänger Sir Nigel Rodley seit 1996 unternommen hatte, um China zu besuchen, waren erfolglos geblieben.

Die Informationen in diesem Kapitel basieren auf dem, was tibetische Flüchtlinge und andere 2004 dem TCHRD über Menschenrechtsverletzungen in Tibet berichteten. Man kann davon ausgehen, daß die geschilderten Fälle nur einen Bruchteil der Mißhandlungen darstellen, die tatsächlich vorkamen. Die meisten Menschenrechtsverletzungen in Tibet bleiben im Dunkeln: Erfahrungsgemäß sehen sich die Beobachter bei ihren Nachforschungen über die Menschenrechtslage in Tibet großen Hindernissen gegenüber. In manchen Fällen kommen Festnahmen, , Inhaftierungen und Gerichtsurteile erst Jahre später ans Licht.

Das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung

Der Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte schreibt fest:

“Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten”.

Auch der Art. 35 der Verfassung der VR China garantiert die Freiheit von Meinungsäußerung, Publikation, Demonstration und Versammlung. Er lautet: “Die Bürger der Volksrepublik China genießen die Freiheit der Rede, der Presse, der Versammlung, der Vereinigung, der Durchführung von Protestmärschen und Demonstrationen”.

Weiterhin verbürgt die chinesische Verfassung die Glaubensfreiheit, die Würde der Person und ihre Unantastbarkeit, sowie die Privatsphäre und Freiheit bei der Korrespondenz[4].

In der Praxis wurden jedoch das ganze Jahr 2004 hindurch die dem tibetischen Volk durch die Art. 35 und 36 der chinesischen Verfassung verbürgten Rechte verletzt. Diverse repressive Maßnahmen und Schikanen wurden angewandt, um unabhängige Reporter, Autoren und Künstler  der Zensur zu unterwerfen.

Am 22. September 2003 wurde Dorjee Tsephel aus dem Distrikt Chabcha der TAP Tsolho in der Provinz Qinghai verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil er ein Lied zu Ehren des Dalai Lama geschrieben hatte[5].

Am 20. März 2004 wurden Namkha und Bagocha, die Nomadenfamilien im Distrikt Tongde, Provinz Qinghai, entstammen, vom Public Security Bureau des Distrikts festgenommen, weil die Behörden politische Untertöne in ihren Liedern mit Titel “Amdo Phadod” (Der Held aus Amdo) und “Tsenpoe Phonya” (Der Herold des Königs) witterten. Sie konfiszierten die von der Bevölkerung bereits gekauften CDs und nahmen Sänger und Liedermacher fest. Nach zwei Monaten wurden die beiden wieder auf freien Fuß gesetzt[6].

In einem ähnlichen Fall wurde Ghangshun, ein tibetischer Sänger aus der Provinz Qinghai, im Februar 2004, festgenommen, weil er ein Lied zu Ehren des Dalai Lama gesungen hatte. Bis zum heutigen Tag weiß niemand etwas über seinen Verbleib.

Willkürliche Festnahme und Inhaftierung

Art. 9 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet: “Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden”.

Art. 71 der chinesischen Strafprozeßordnung fordert, daß zum Zeitpunkt der Festnahme ein Haftbefehl vorgelegt wird. Im Art. 59 steht:

“Die Verhaftung eines Tatverdächtigen oder eines Beschuldigten muß von den Volksprokuraturen (der Staatsanwaltschaft) gebilligt oder von einem Volksgericht beschlossen werden”. Und der Art. 64 der Strafprozeßordnung fügt hinzu: “…bei der Festnahme einer Person müssen die Sicherheitsorgane einen Haftbefehl vorweisen. Die Familie des Festgenommenen oder seine Arbeitseinheit müssen über den Grund der Verhaftung in Kenntnis gesetzt werden”.

In der Praxis aber erfolgen Verhaftungen in Tibet nur all zu oft ohne Vorlage eines Haftbefehls oder Kontrolle durch die Justiz, und die Familien der Festgenommenen werden häufig in Unkenntnis über ihren Aufenthaltsort gelassen.

Im September 2004 erhielt eine Delegation der UN Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung (Working Group on Arbitrary Detention – WGAD) unter der Leitung von Leila Zerrougui die Erlaubnis zum Besuch des Gefängnisses No. 1 der TAR (Drapchi) und des Haftzentrums Lhasa (Gutsa). Die Arbeitsgruppe beklagte jedoch im Nachhinein, daß ihr im Drapchi-Gefängnis in Lhasa mitgeteilt wurde, aufgrund interner Regelungen könnten bestimmte Insassen von ihrer Liste nicht interviewt werden. Der Arbeitsgruppe war es im Hinblick auf die Vorfälle nach ihrem Besuch von 1997 aber gerade wichtig, diese Personen zu Gesicht zu bekommen. Die Arbeitsgruppe beschloß daraufhin, ihren Besuch in Drapchi abzubrechen[7].

In den vergangenen 10 Jahren hat die Arbeitsgruppe 39 Gutachten zu 208 mutmaßlichen Fällen willkürlicher Verhaftung in China erstellt. Sie kam zu Ergebnis, daß es sich bei 180 von diesen 208 Fällen in der Tat um willkürliche Verhaftung handelt. Zu den restlichen 28 Fällen konnte sie keine Aussage treffen, entweder weil die Häftlinge bereits vor der Untersuchung durch die Arbeitsgruppe frei gekommen waren oder weil zu wenig Information über sie vorlag[8].

Die UN-Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung betrachtet Freiheitsentzug dann als willkürlich, wenn er nicht gesetzlich gerechtfertigt ist, beispielsweise fortgesetzte Inhaftierung trotz einer Amnestie-Verfügung oder über das Ende der Haftstrafe hinaus. Die Inhaftierung wird ebenfalls als willkürlich betrachtet, wenn der Freiheitsentzug das Ergebnis der Verurteilung einer Person wegen der Ausübung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten Rechte und Freiheiten ist. Darüber hinaus gilt Inhaftierung als willkürlich, wenn die allgemein gültigen Normen für ein faires Gerichtsverfahren in einem solchen Maß mißachtet wurden, daß der Freiheitsentzug, welcher Art auch immer er sein mag, willkürlichen Charakter annimmt[9].

Ausgehend von diesen Definitionen trifft für die meisten Fälle tibetischer politischer Häftlinge  das Verdikt “willkürlich” voll und ganz zu: Die chinesischen Sicherheitskräfte nehmen routinemäßig Tibeter fest und setzen sie hinter Gitter, nur weil sie friedlich demonstrierten, die tibetische Flagge zeigten, politische Flugschriften verteilten, Bilder des Dalai Lama bei sich hatten oder für sein langes Leben beteten.

Der Fall von Tashi Topgyal, 50, aus dem Kreis Ngamring, Präfektur Shigatse, der am 22. Oktober 2002 verhaftet wurde, weil er zwei Monate zuvor Unabhängigkeitsposter angebracht hatte, kam dem TCHRD erst dieses Jahr zu Ohren. Die Sicherheitsbeamten entdeckten bei ihm ein Exemplar der Autobiographie des Dalai Lama sowie des Buches “Richtlinien für die zukünftige Politik Tibets”. Und der Bankangestellte Ngodup Dorjee wurde auf den bloßen Verdacht hin festgenommen, er könne mit Tashi in Verbindung stehen. Wie weiterhin berichtet wurde, verurteilte das Mittlere Volksgericht von Shigatse Tashi Topgyal zu 6 Jahren Gefängnis, die er nun in Drapchi verbüßt.

Das TCHRD erhielt die bestätigte Mitteilung, daß der 25-jährige Mönch Choeden Rigzin bei einer geheimen Razzia am 12. Februar 2004 im Kloster Gaden vom Public Security Bureau verhaftet wurde. Als die Polizisten ein Foto des Dalai Lama und eine tibetische Nationalflagge in seinem Zimmer entdeckten, führten sie ihn auf der Stelle ab. Es ist nicht bekannt, wo er hingebracht wurde, aber vermutlich ins Untersuchungsgefängnis Gutsa außerhalb von Lhasa. Am folgenden Tag nahm das PSB Tsuchung und Thargyal, zwei Freunde von Choeden Rigzin, auf den bloßen Verdacht hin fest, sie könnten auch in das “Verbrechen” involviert sein. Die beiden wurden nach einiger Zeit wieder freigelassen und durften in ihr Kloster zurückkehren. Die Behördenvertreter riefen im weiteren Verlauf alle 500 Mönche in der Halle des Klosters zu einem Meeting zusammen. Sie erklärten ihnen, Choeden Rigzin habe ein Verbrechen begangen, denn er habe gegen die nationalen Gesetze verstoßen, indem er ein Bild des Dalai Lama und ein Exemplar der tibetischen Nationalflagge bei sich aufbewahrte. Sie verwarnten die übrigen Mönche des Klosters, sich aller Aktivitäten zur “Spaltung des Mutterlandes” zu enthalten[10].

Am 27. Juli 2004 wurden anläßlich einer Empfangszeremonie für den aus der Schweiz angereisten Draksey Rinpoche, der seinem Heimatkloster Chogri einen Besuch abstatten wollte, 60 Personen festgenommen. Augenzeugen berichteten, die Gäste hätten im Rahmen der Zeremonie religiöse Banner geschwenkt, wobei auf einigen ein Schneelöwe abgebildet war, der einem Objekt nachjagte, das der verbotenen tibetischen Flagge ähnlich gesehen haben soll. Nach einigen Tagen im Gewahrsam seien die meisten der Festgenommenen wieder freigelassen worden, manche von ihnen hätten allerdings 6.000 Yuan Geldstrafe bezahlen müssen. Einige seien in der Haft auch verprügelt worden, wobei zwei Männer so schwer geschlagen wurden, daß sie nicht mehr auf ihren Füßen stehen konnten[11].

Im September 2004 verurteilten die chinesischen Behörden zwei Mönche und einen  Laien, die sie alle drei verdächtigten, Plakate mit der Forderung nach Unabhängigkeit für Tibet angebracht zu haben, zu drei Jahren Gefängnis[12].

Am 14. September 2004 wurden die beiden Brüder Nyima Tenzin, 20, und Sonam Nyima, 18, von den Behörden des Distrikts Sog, Präfektur Nagchu, TAR, festgenommen, weil sie vor dem Verwaltungsgebäude für die Befreiung Tibets demonstriert hatten[13].

Zu den genannten Fällen willkürlicher Verhaftung  ist anzumerken, daß die UN-Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung auf ihren China-Besuch hin hervorhob, daß bis dato keine gesetzlichen Maßnahmen getroffen worden seien, um Personen, die ihre Rechte im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte friedlich wahrnehmen, von der Strafverfolgung auszunehmen[14].

Bedenklich ist auch die eigenwillige Weise, in der die chinesischen Behörden gesetzliche Bestimmungen zur Aufrechterhaltung der “Staatssicherheit” und der “nationalen Einheit” interpretieren, womit der üblen Praxis der willkürlichen Verhaftungen weiterer Vorschub geleistet wird.

So lautet beispielsweise der Art. 103 des Strafgesetzes der VR China:

“Wenn immer jemand Gruppen organisiert, Verschwörungen anzettelt oder Handlungen begeht, um das Land zu spalten oder die nationale Einheit zu untergraben, so ist der Rädelsführer oder derjenige, der ein besonders schweres Verbrechen begangen hat, zu lebenslänglicher Haft oder zu bis zu 10 Jahren Gefängnis zu verurteilen, andere aktiv an der Straftat Beteiligte sind zu bis zu drei Jahren, aber nicht über 10 Jahren Gefängnis zu verurteilen, und sonstige Beteilige zu nicht über drei Jahren Gefängnis, Strafhaft, polizeiliche Aufsicht oder Entzug der politischen Rechte. Wer immer andere zur Spaltung des Landes und Untergrabung der nationalen Einheit aufhetzt, ist zu bis zu fünf Jahren Gefängnis, Strafhaft, polizeilicher Aufsicht oder Entzug der politischen Rechte zu verurteilen und die Rädelsführer oder besonders schweren Straftäter zu bis zu fünf Jahren Gefängnis.”

Die UN-Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung hat ihre diesbezüglichen Bedenken wiederholt, denn bis zum heutigen Tag gibt es im chinesischen Strafrecht keine genaue Definition des Begriffs “Gefährdung der nationalen Sicherheit”, so daß die Anwendung von Paragraphen des Strafrechts, welche diesen viel zu weit gefaßten Begriff enthalten, unweigerlich der Willkür Raum läßt[15].

Prominente Fälle willkürlicher Gefangenschaft in Tibet

Gedhun Choekyi Nyima

Der vom Dalai Lama als der 11. Panchen Lama Tibets anerkannte Gedhun Choekyi Nyima wurde am 25. April 2005 sechzehn Jahre alt: Seit über neun Jahren ist er nunmehr aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Am 17. Mai 1995 wurde der damals sechsjährige Knabe mit seinen Eltern und Brüdern von der Sicherheitspolizei abgeholt und zum Flugplatz des Distrikts Nagchu in der gleichnamigen Präfektur gebracht, und seitdem hat keiner sie mehr gesehen. Die VR China räumte ein, daß der Panchen Lama “zu seiner eigenen Sicherheit” in Gewahrsam gehalten werde. Chinas Botschafter bei der UNO in Genf, Wu Jian, erklärte, “er sei auf Verlangen seiner Eltern von der Regierung unter Schutz gestellt worden”[16].

Eine ganze Reihe von UN-Vertretern, internationalen Delegationen, NGOs und Einzelpersonen aus der ganzen Welt haben wegen der fortgesetzten Festhaltung des Panchen Lama ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht und an die chinesische Regierung appelliert, einer unabhängigen Personengruppe, die sowohl ihre als auch die Zustimmung der Tibeter findet, Zugang zu dem Jungen gewähren. Die frühere UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, bat ebenfalls darum, den Panchen Lama zu Gesicht zu bekommen. Peking verweigert jedoch nach wie vor den Zugang zu dem Jungen und erklärt stereotyp, es ginge ihm gut, er sei gesund und führe ein normales Leben, wie es einem Kind seines Alters entspreche.

Trulku Tenzin Delek

Am 7. April 2002 nahmen die Chinesen Trulku Tenzin Delek, einen prominenten Lama aus dem Distrikt Lithang in der Provinz Sichuan fest. Ihm wurde die Beteiligung an einer Reihe von Sprengstoffattentaten zur Last gelegt, die sich 2001 in der TAP Kardze ereignet hatten.

Am 2. Dezember 2002 sprach das Mittlere Volksgericht von Kardze Trulku Tenzin Delek und seinen  Schüler Lobsang Dhondup schuldig und verurteilte beide zum Tode, den Trulku mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub, während die Todesstrafe an Lobsang Dhondup am 26. Januar 2003 vollstreckt wurde. Trulku Tenzin Delek war für sein großes Engagement für das Allgemeinwohl und die Umwelt bekannt, ebenso wie für seine entschiedene Loyalität gegenüber dem Dalai Lama. Man nimmt an, daß seine wachsende Popularität die Chinesen argwöhnisch machte, er könnte die öffentliche Meinung in seiner Umgegend politisch beeinflussen.

Die Behörden gaben über die Gründe für seine Festnahme und das harte Urteil keine Auskunft, mit der Begründung, es gehe bei diesem Fall um ein Staatsgeheimnis. Fast drei Jahre sind nun vergangen, und Trulku Tenzin Delek ist immer noch in Haft. Sein Todesurteil wurde am 14. Januar 2005 in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt.

Jigme Gyatso

Jigme Gyatso, der ursprünglich aus dem Distrikt Kersul in Amdo stammt, ist ein ehemaliger Mönch des Klosters Gaden. 1985 ging er nach Indien und erhielt dort eine Audienz beim Dalai Lama. Nach einem Jahr Aufenthalt im Kloster Drepung Gomang in Südindien kehrte er nach Tibet zurück, wo er ins Kloster Gaden eintrat. Am 30. März 1996 wurde er unter der Anschuldigung “politischer Aktivitäten” verhaftet und anschließend zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.

Chadrel Rinpoche

Chadrel Rinpoche war Abt des Klosters Tashi Lhunpo und Leiter der Suchkommission nach der Reinkarnation des 11. Panchen Lama. Er und sein Mitarbeiter Champa Chungla verschwanden am 14. Mai 1995 von dem Flugplatz Chengdu in der Provinz Sichuan. Am 21. April 1997 verurteilte das Mittlere Volksgericht von Shigatse Chadrel Rinpoche zu sechs Jahren Gefängnis. Er wurde der “Verschwörung zur Spaltung des Landes und der Weitergabe von Staatsgeheimnissen” beschuldigt. Ihm wurde vorgeworfen, bei der Suche nach dem 11. Panchen Lama gemeinsame Sache mit dem Dalai Lama gemacht zu haben. Obwohl seine Haftzeit nach Ableistung der sechs Jahre Gefängnis am 13. Mai 2001 zu Ende war, wird er vermutlich immer noch unter Hausarrest gehalten. Es gibt keinerlei Information über seinen Verbleib und gesundheitlichen Zustand.

Jampa Chungla

Jampa Chungla, der 56-jährige ehemalige Mitarbeiter von Chadrel Rinpoche, wurde 1995 wegen seiner Mithilfe bei der Suche nach dem 11. Panchen Lama verhaftet. Er wurde zu vier Jahren Gefängnis und zwei Jahren Aberkennung der politischen Rechte verurteilt. Selbst nach Verbüßung der Haftstrafe wird er noch in Gewahrsam gehalten.

Lobsang Tenzin

Lobsang wurde am 11. März 1988 wegen Teilnahme an einer Demonstration für die Unabhängigkeit und gegen die chinesische Herrschaft in der Nähe des Jokhang Tempels in Lhasa verhaftet. Er wurde angeklagt, am Tod eines PAP-Offiziers, der während der Demonstration umkam, mitschuldig zu sein. Am 19. Januar 1989 wurde Lobsang Tenzin mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub zum Tode verurteilt. Auf massiven internationalen Druck hin wurde sein Urteil im März 1991 in lebenslange Haft umgewandelt.

Ngawang Phulchung

Ngawang Phulchung setzte sich dafür ein, daß das tibetische Volk über die Menschenrechte aufgeklärt wird. Am 27. September 1987 veranstaltete er zusammen mit 20 weiteren Mönchen aus dem Kloster Drepung eine friedliche Demonstration im Zentrum von Lhasa, bei der die Achtung der Menschenrechte, darunter auch die Religionsfreiheit und das Recht der Tibeter auf Selbstbestimmung gefordert wurden. Dieser Protest war der erste in der Reihe jener berühmten Unabhängigkeits-Demonstrationen Ende der achtziger Jahre, die von der Regierung mit brutaler Gewalt unterdrückt wurden. Im April 1989 wurden Ngawang Phulchung und drei weitere Mönche wegen Bildung einer “konterrevolutionären Gruppe”, die heimlich politische Flugblätter hergestellt haben sollte, verhaftet. Ngawang, der den Behörden als der Anführer der Gruppe galt, wurde zu 19 Jahren Gefängnis und Aberkennung der politischen Rechte auf fünf Jahre verurteilt. 16 Jahre sind inzwischen vergangen, und er verbüßt immer noch seine Strafe im Drapchi-Gefängnis.

Bangri Rinpoche

Bangri Rinpoche baute aus eigenen Mitteln eine Schule für Waisenkinder auf. Im August 1999 wurde er wegen seiner angeblichen Verwicklung in ein während der Nationalen Minderheiten-Spiele in Lhasa auf dem Potala Platz geplantes Sprengstoffattentat festgenommen. Kurz danach, am 17. Oktober 1999 wurde auch seine Schule, das Gyatso Waisenhaus, geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt beherbergte es 59 mittellose Kinder zwischen zwei Monaten und 12 Jahren.

Im Mai 2001 wurde Bangri Rinpoche vor dem Mittleren Volksgericht des Bezirks Lhasa der “Spionage” und “Gefährdung der Staatssicherheit” angeklagt und zum Tode mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub verurteilt. Am 29. Mai 2001 wurde er in das Drapchi-Gefängnis im Norden der Stadt Lhasa verlegt und über ein Jahr lang in Isolationshaft gehalten.

2003 wurde das für zwei Jahre aufgeschobene Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt. Wie bereits berichtet, kann Bangri Rinpoche infolge der grausamen Folterungen im Gefängnis seinen Oberkörper nicht mehr bewegen und hat stark an Gewicht verloren. Außerdem leidet er an Magengeschwüren und Gelbsucht und sein gesundheitlicher Allgemeinzustand soll sehr schlecht sein.

Nyima Choedron

Nyima Choedron, die Partnerin von Bangri Rinpoche und stellvertretende Leiterin des ehemaligen Gyatso Waisenhauses, wurde im August 1999 zusammen mit ihrem Mann und 21 Angestellten festgenommen. Das Mittlere Volksgericht von Lhasa verurteilte Nyima Choedron wegen ihrer Zusammenarbeit mit dem Rinpoche zu 10 Jahren Gefängnis. 2002 wurde ihre Haftstrafe um 18 Monate und 2003 um ein weiteres Jahr verringert. Ihre Entlassung steht für 2008 an.

Folter

1988 ratifizierte die VR China die “Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe” (Convention against torture and other cruel, inhuman or degrading treatment – CAT). Im Sinne dieser Konvention definiert der Begriff Folter “jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden” (Art. 1).

In ähnlicher Weise besagt der Artikel 2 dieser Konvention: “Jeder Vertragsstaat trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige, gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern”.

Ferner wird im Art. 11 des CAT spezifiziert: “Jeder Vertragsstaat unterzieht die für Vernehmungen geltenden Vorschriften, Anweisungen, Methoden und Praktiken sowie die Vorkehrungen für den Gewahrsam und die Behandlung von Personen, die der Festnahme, der Haft, dem Strafvollzug oder irgendeiner anderen Form der Freiheitsentziehung unterworfen sind, in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten einer regelmäßigen systematischen Überprüfung, um jeden Fall von Folter zu verhüten”.

Der Art. 10 des “Internationalen Abkommens über Bürgerliche und Politische Rechte” (ICCPR) fordert, daß ein jeder, dem seine Freiheit entzogen wurde, menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt wird. Das UN-Menschenrechtskomitee vertritt die Ansicht, daß die im Art. 10 genannten Forderungen allgemein verbindliche Normen des Völkerrechts darstellen, die nicht angetastet werden dürfen[17].

Ebenso verfügt der Art. 38 der Verfassung der VR China: “Die persönliche Würde der Bürger der Volksrepublik China ist unverletzlich”.

In Tibet wird in Wirklichkeit jedoch routinemäßig und in großem Umfang gefoltert. Foltermethoden sind Verabreichung von Elektroschocks, Ausdrücken von brennenden Zigaretten auf dem Gesicht des Opfers, Anlegen von Handschellen, Daumenschrauben und Fußfesseln, Aufhängen an der Decke, extremen Temperaturen ausgesetzt zu sein, langzeitige Einschließung in Isolationshaft, Überstülpen von Kapuzen, Prügeln und heftiges Schütteln, Entzug von Nahrung, Wasser und Schlaf, Zwangsarbeit und erschöpfender, militärartiger Drill.

Das Menschenrechtskomitee kam zu dem Schluß, daß Handlungen wie das Anlegen von Handschellen, Überstülpen einer Kapuze, Schütteln und Schlafentzug, einzeln oder kombiniert, gegen das Verbot der Folter und grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung verstoßen[18]. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter erklärte, anhaltender Schlafentzug käme der Folter gleich[19]. Das UN-Menschenrechtskomitee ist ferner der Meinung, daß die langzeitige Isolierung einer Person in Einzelhaft einen Verstoß gegen das Recht, frei von Folter zu sein, darstellt[20].

Fortgesetzte Inhaftierung ohne Verbindung zur Außenwelt sowie Folterung und Mißhandlung von Häftlingen mit dem Ziel, Geständnisse aus ihnen zu erpressen, sind in Tibet weit verbreitet. Aussagen von ehemaligen politischen Gefangenen lassen darauf schließen, daß Folter bei der Vernehmung die Regel ist. So wurde berichtet, daß “Vernehmungsbeamte, die zur Folter greifen, um einen Fall zu lösen, nicht getadelt, sondern für ihre verdienstvolle Handlung gar noch belohnt werden”[21]. Das Recht auf die Überprüfung der Festnahme durch einen Richter, die Bestimmung des  habeas corpus und das Recht auf gesetzliche Vertretung durch einen Anwalt sowie auf Kontakt zur Außenwelt bieten die Gewähr für eine menschliche Behandlung des Häftlings[22]. Die UN-Menschenrechtskommission kam zu dem Ergebnis, daß Inhaftierung in völliger Isolation und über einen längeren Zeitraum “die Anwendung von Folter begünstigt und an und für sich schon eine Form der grausamen, unmenschlichen und herabwürdigenden Behandlung darstellt”[23]. Weiterhin verbietet der Art. 15 der UN-Konvention gegen Folter, eine durch Folter erzwungene Aussage als Beweis heranzuziehen. Auf diese Weise gewonnene Geständnisse dürfen in einem Strafverfahren nicht gegen den Angeklagten verwendet werden – höchstens gegen die Person, die sich der Folterung schuldig gemacht hat.

In dem Weißbuch “Chinas Fortschritt bei den Menschenrechten” von 2003 wird behauptet, daß ein ”beachtlicher Fortschritt bezüglich der gesetzlichen Garantien für die Menschenrechte” erzielt worden sei. Und weiter: ”Die öffentlichen Sicherheitsorgane haben dem Gesetz konsequent Geltung verschafft und es im Interesse der Bevölkerung angewandt... Menschenrechtsverletzungen wie der Einsatz von Folter zur Erpressung von Geständnissen, der Mißbrauch von Schußwaffen und polizeilichen Gerätschaften und andere Zwangsmaßnahmen wurden streng geahndet”.

Im Gegensatz dazu werfen die Berichte von ehemaligen politischen Gefangenen, die dem TCHRD zugehen, Licht auf das Ausmaß von physischem und psychischem Leid, das den Häftlingen zugefügt wird. Das beweist, daß die Behörden überhaupt nichts unternehmen, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Im April 2004 erreichten Nyima und Nyidron, die wegen ihrer Teilnahme an einer friedlichen Demonstration eine fünfjährige Haftstrafe verbüßt hatten, Dharamsala und berichteten dem TCHRD von der Folterung und unmenschlichen Behandlung, die sie im Gutsa Haftzentrum und später im Drapchi Gefängnis  erlitten hatten: “Sie schlugen uns, übergossen uns mit kochendem Wasser, peitschten uns mit ihren Gürteln aus und drückten ihre brennenden Zigaretten auf unseren Leibern aus. Nach unserer Ankunft in Drapchi wurden wir sogleich zum Drill wie beim Militär gezwungen und mußten die Gefängnisregeln und andere Verordnungen auswendig lernen”.

Nyima, eine ehemalige Nonne aus dem Kloster Phenpo Podo im Kreis Phenpo Lhundrup, Bezirk Lhasa, berichtet, was sie in Drapchi durchmachte: “Jamdron, eine Nonne aus dem Kloster Phenpo Gyara, und ich wurden mit einem elektrischen Viehstock geschlagen, bis wir bewußtlos zu Boden fielen. Als sie kaltes Wasser über uns gossen, kamen wir wieder zu uns, und dann gingen die Prügel weiter, bis unser Körper ganz taub war. Danach steckten sie uns in Einzelzellen. Das Jahr und die acht Monate, die wir in Isolationshaft verbrachten, erhielten wir als Tagesration nur einen Dampfwecken und eine Tasse heißen Wassers”[24].

Die ehemalige politische Gefangene Damchoe Dolma, 29, die gegen die Unnachgiebigkeit, welche die Behörden ihrem Kloster gegenüber an den Tag legten, protestierte, wurde zusammen mit sieben weiteren Nonnen des Klosters Shargon (Gemeinde Jangkar, Kreis Phenpo Lhundrup) im Juli 1995 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Das Mittlere Volksgericht sprach alle Nonnen der “konterrevolutionären Propaganda” schuldig. Damchoe Dolma schilderte dem TCHRD die Mißhandlungen, die sie im Gefängnis auszuhalten hatte.

“Im Drapchi Gefängnis versammelten die Polizisten alle Nonnen, um ihnen das Lied beizubringen, das sie beim Besuch der örtlichen politischen Führung im Gefängnis vorzutragen hatten. Wir alle weigerten uns jedoch, das Lied zu lernen. Man drohte uns mit Bestrafung, falls wir das Lied nicht lernten. Wir weigerten uns immer noch. Also zwang man uns dazu, von 9.00 bis 17.00 Uhr in der prallen Sonne stramm zu stehen, lediglich eine Stunde Pause um die Mittagszeit wurde uns zugestanden. In jener Nacht gegen 23.00 Uhr kamen Soldaten in meine Zelle und brachten mich in einen anderen Raum, um mich zu verhören. Sie waren zu fünft. Sie fragten mich ständig, warum ich mich weigere, das Lied zu lernen. Ich antwortete nicht. Da schlugen sie mit einem elektrischen Viehstab auf mich ein, bis ich bewußtlos wurde. Als ich wieder zu mir kam, fragten sie mich, ob ich jetzt das Lied lernen und singen würde. Als ich es ablehnte, droschen sie mit dem Viehstab auf mich ein, bis ich durch den Schock wieder das Bewußtsein verlor. Ich erwachte auf dem Boden des Waschraums in meinem Zellengang. Ich hatte meine Hosen eingenäßt und eingekotet. Weil mein Mund so geschwollen war, konnte ich nicht mehr sprechen. Mein Gesicht war mit Blutergüssen und offenen Wunden übersät. Sieben Tage lang wurde ich in diesem Zustand im Waschraum gelassen. Danach wurde ich in eine Einzelzelle verlegt und erhielt nur eine Mahlzeit am Tag. Die Nahrung reichte kaum zum Überleben. Die Soldaten gaben mir gerade so viel zu essen, daß ich nicht sterben würde. Ich bekam eine Schüssel Wasser und eine kleine Schale Reis. Sechs Monate lang sperrten sie mich in die Einzelzelle ein, danach schickten sie mich wieder in meine Abteilung zurück. Wir erhielten politische Schulungen. Außerdem mußten wir Pullover stricken. Falls wir die festgesetzte Quote nicht erreichten, mußten wir die Nacht über durcharbeiten und wenn wir dann immer noch nicht fertig waren, wurde uns der monatliche Familienbesuch gestrichen”[25].

Das TCHRD erhielt die Information, daß der Gesundheitszustand von zwei politischen Langzeitgefangenen, Rigzin Wangyal und Lobsang Tenzin, kritisch sei. Rigzin Wangyal wurde 1996 verhaftet und 1997 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Infolge der wiederholten und langjährigen Folterungen ist seine Gesundheit zusammengebrochen und er kann sich nicht mehr ohne fremde Hilfe auf den Füßen halten noch Speise zu sich nehmen[26]. Lobsang Tenzin, ein früherer Student der Tibet-Universität, wurde 1988 wegen Teilnahme an einer Unabhängigkeits-Demonstration verhaftet. Seine lebenslängliche Haftstrafe wurde 1994 auf 18 Jahre reduziert. Im Drapchi Gefängnis wurde er so brutal geschlagen, daß er einen Nierenschaden davontrug und außerdem an psychischen Störungen leidet [27].

Tibetische politische Häftlinge werden routinemäßig gefoltert, nicht nur zum Zweck der Erzwingung von Geständnissen, sondern auch, um ihre patriotischen Gefühle zu brechen und um ein abschreckendes Beispiel zu geben, das anderen Tibetern als Warnung dienen soll, die Politik der chinesischen Regierung in Frage zustellen. Fast alle tibetischen Gefangenen werden schweren physischen und psychischen Mißhandlungen unterzogen, sei es durch die Kräfte des Public Security Bureau oder durch die Gefängnisaufseher.

Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis benötigen viele politische Gefangene medizinische Betreuung über einen längeren Zeitraum, zuweilen auch physische und psychische Rehabilitation. Wenn sie die Kosten der Behandlung nicht aufbringen können, müssen sie das Krankenhaus verlassen, ohne eine angemessene Behandlung erhalten zu haben. Meistens ist das Martyrium der politischen Häftlinge mit ihrer Entlassung noch nicht zu Ende. Zu den durch die Haft verursachten physischen und psychologischen Traumata kommt hinzu, daß Mönche und Nonnen es nach ihrer Entlassung besonders schwer haben, ins normale Leben zurückzukehren. Sie unterstehen der ständigen Überwachung durch die Behörden und werden periodisch zu Verhören einbestellt. Von ihren ehemaligen Klöstern werden sie ausgegrenzt, denn diese dürfen es nicht wagen, ehemalige politische Gefangene wieder aufzunehmen, weil sie damit den Argwohn der Behörden und ihr Einschreiten riskieren würden. Gemieden von ihrer eigenen Gemeinschaft, sehen diese Mönche und Nonnen ihre Situation durch den Mangel an Arbeitsmöglichkeiten noch weiter erschwert.

Im Oktober 1999 wurde Geshe Sonam Phuntsok, der allgemein als der Geshe von Kardze bekannt war, wegen seiner Ausreise aus Tibet mit Hilfe illegaler Reisedokumente, die er sich in Lhasa beschafft hatte, sowie wegen der Durchführung einer Zeremonie für das lange Leben des Dalai Lama verurteilt. Im Oktober 2004 wurde er nach Verbüßung der fünfjährigen Haftstrafe entlassen. Seitdem ist es ihm verboten, religiöse Belehrungen zu erteilen und Schüler zu unterweisen. Außerdem schränkten die Lokalbehörden seine Bewegungsfreiheit empfindlich ein[28].

Nyidron, eine ehemalige politische Gefangene, die in Drapchi gefoltert und elf Monate in Isolationshaft gehalten wurde, berichtete dem TCHRD:

“Wegen der erlittenen Verletzungen wurde ich ins Krankenhaus eingeliefert, wo ich lange Zeit lag. Dennoch mußte ich es vor meiner vollständigen Genesung verlassen, weil meine Familie die enormen Behandlungskosten nicht mehr aufbringen konnte. Meinem Kloster war untersagt worden, mich wieder aufzunehmen, und ich konnte auch keine Arbeit finden, durch die ich meinen Lebensunterhalt hätte verdienen können. Zusammen mit meiner Freundin Nyima machte ich 2002 einen kleinen Lebensmittelstand in Ramoche in Lhasa auf, aber nach einem Monat befahlen uns drei Polizisten des PSB-Büros von Lhasa City, den Stand zu schließen, weil er angeblich ein Treffpunkt für Reaktionäre sei. Für ehemalige politische Gefangene ist das Leben sehr hart. Sie bekommen weder Arbeit in Kooperativen noch in der Privatwirtschaft. Die Behörden stellen ihnen keine Registrierungszertifikate oder sonstige Genehmigungen aus, wenn sie sich als Kleinunternehmer selbständig machen wollen. In Tibet ist ein Mensch am Ende, wenn er eine wie auch immer geartete politische Vergangenheit hat”[29].

Am 21. September 2003 wurde Namdrol Lhamo, eine der sogenannten “14 singenden Nonnen”[30] nach Ableistung ihrer Haftstrafe von 12 Jahren entlassen. Sie schilderte dem TCHRD, wie ihr Leben außerhalb des Gefängnisses verlief:

“Während ich in Drapchi im Gefängnis war, starben meine Eltern. Das Leben kann für ehemalige politische Gefangene sehr hart sein, es ist ihnen kaum möglich, eine ehrbare Arbeit in der Gesellschaft zu finden. Eineinhalb Jahre arbeitete ich in einem Laden in Lhasa für einen Monatslohn von 50 Yuan. Viele ehemalige politische Gefangene enden als Tellerwäscher in Restaurants ohne irgendeine Sicherheit für ihren Arbeitsplatz; sie können auf der Stelle entlassen werden, wenn der Inhaber von ihrer Vergangenheit erfährt. Besonders schwierig ist es für Mönche und Nonnen in ihrem früheren Kloster wieder aufgenommen zu werden. Die Polizei beobachtet all ihre Bewegungen genauestens”[31]. Namdrol Lhamo litt nach ihrer Entlassung an psychischen Störungen. Bevor sie ins Exil floh, mußte sie ihr Haus verkaufen.

Gyaltsen Dolkar, die ebenfalls zu den “14 singenden Nonnen” gehörte und wegen ihres Eintretens für die Unabhängigkeit Tibets 12 Jahre im Gefängnis saß, wurde am 21. März 2004 entlassen. Sie erzählte dem TCHRD, wie sie selbst noch nach der Entlassung drangsaliert wurde:

“Ich wurde vom lokalen PSB-Büro einbestellt. Dort wurde ich fotografiert und mußte ein Dokument unterschreiben, in dem ich zu versichern hatte, daß ich mich künftig von allen politischen Aktivitäten fernhalten würde. Gleichzeitig war mein Gesundheitszustand sehr schlecht und ich benötigte dringend ärztliche Behandlung. Nach einigen Tagen fuhr ich nach Hause, aber dort hielt ich es nicht lange aus, denn ich war sehr niedergeschlagen, weil meine Eltern während meiner Zeit im Gefängnis gestorben waren. Ich kehrte nach Lhasa zurück und versuchte, meinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Brot und Nudeln zu verdienen. Ich konnte jedoch auch nach meiner Haftentlassung nicht frei leben. Politische Gefangene haben es nach ihrer Entlassung sehr schwer. Infolge ihres politischen Hintergrunds bekommen sie kaum Arbeit. Außerdem schikaniert die Polizei sie ständig und schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein. Politische Gefangene sind auch nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis mit unsichtbaren Ketten gefesselt”[32].

Tod im Polizeigewahrsam

Die Brutalität, mit der in chinesischen Gefängnissen gefoltert wird, wird durch die Zahl der Todesfälle bewiesen, die sich in den Haftzentren oder unmittelbar nach der Entlassung aus ihnen ereignen. Das Durchschnittsalter der tibetischen politischen Gefangenen, die seit 1987 in der Polizeihaft starben, beträgt der Datenbank des TCHRD zufolge nur 26 Jahre.

Der Art. 22(2) der Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen legt fest: “Kranke Häftlinge, die eine spezielle Behandlung benötigen, sind in dafür geeignete Einrichtungen oder zivile Krankenhäuser zu verlegen”. Die Gefängnisaufseher in Tibet scheinen jedoch erst zu handeln, wenn ein Häftling dem Tode nahe ist, und dann ist es oft zu spät, denn er kann nicht mehr gerettet werden.

Von ehemaligen politischen Häftlingen hat das TCHRD mehrere Berichte über Todesfälle in der Haft erhalten. Seit 1987 hat das TCHRD 87 Todesfälle von tibetischen politischen Häftlingen dokumentiert, die infolge der erlittenen Folterungen starben. Bei den meisten von ihnen führten die wiederholten Folterungen und Mißhandlungen, und die Verweigerung rechtzeitiger und angemessener medizinischer Behandlung zu einer rapiden Verschlechterung ihres körperlichen Zustands. Zum Tod durch Folter und Mißhandlung kann es im Gefängnis oder unmittelbar nach der Entlassung kommen.

Am 15. Januar 2004 starb der 65-jährige Yeshi Gyatso zu Hause, nachdem er aus medizinischen Gründen aus dem Lhasa Haftzentrum entlassen worden war. Yeshi wurde im Juni 2003 wegen angeblicher politischer Tätigkeiten verhaftet und in der Folge vom Mittleren Volksgericht von Lhasa zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

Das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

In Tibet wird Personen, die wegen politischer Delikte angeklagt sind, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, wie es in den Artikeln 10 und 11(1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben ist, zumeist verweigert.

Chinas Bürgern wird das Recht auf Beistand durch einen Anwalt durch das 2003 erlassene Verwaltungsgesetz “Verordnung über Rechtshilfe” garantiert. In der Praxis aber wird den Verhafteten der Zugang zu rechtlichem Beistand meistens solange verwehrt, bis die Strafverfolgung ihre Ermittlungen abgeschlossen und den Fall vor Gericht gebracht hat. Der Angeklagte hat dann gewöhnlich schon längere Zeit ohne Verfahren in der Haft gesessen, was von mehreren Monaten bis zu über einem Jahr sein kann. Besuche von Angehörigen darf er erst erhalten, nachdem das Gericht sein Urteil gefällt hat und er in das Gefängnis überführt wurde, in dem er seine Strafe zu verbüßen hat. Außerdem bietet das chinesische Gesetzsystem nur ungenügend Schutz vor der Verwendung von Beweismaterial, das durch rechtswidrige Mittel wie Folter erzwungen wurde.

Eine sorgfältige Prüfung der Prozeßakten von politischen Häftlingen in China ergibt, daß sich die Gerichtsurteile oftmals fast wörtlich an den Text der ursprünglichen Anklageschrift halten. Außerdem bietet die Berufung keinen ausreichenden Rechtsweg für eine Überprüfung von Strafsachen. In der Tat machen es die Behörden den Angeklagten in Tibet sehr schwer, bei einem höheren Gericht gegen ein Urteil Berufung einzulegen, weil denjenigen, die sich für den Verdächtigen verwenden oder diesem selbst die Vergeltung des Staates droht.

Das chinesische Recht kennt das Prinzip der “Unschuldsvermutung” nicht, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist. Die UN-Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung stellte fest, daß China noch keine Klausel in sein Gesetz aufgenommenen hat, daß niemand für schuldig befunden werden darf, der nicht zuvor einer Straftat überführt und dessen Schuld bewiesen wurde[33].

Am 14. April 2004 gaben drei Rechtsexperten der UN-Menschenrechtskommission eine Erklärung heraus, in der sie ihre große Sorge über die Lage von Trulku Tenzin Delek zum Ausdruck brachten und gleichzeitig die ernsten juristischen Mängel bei dem Verfahren beanstandeten, das hinter geschlossenen Türen stattfand. Besonders hoben sie die Verletzung des Rechts auf einen öffentlichen Prozeß hervor, die Verletzung des Rechts, einen Anwalt seiner eigenen Wahl zu erhalten und die Verweigerung des Rechts, das dem Gericht gegen den Angeklagten vorgelegte Beweismaterial einzusehen und prüfen zu können, ferner die incommunicado Inhaftierung (ohne Kontakt zur Außenwelt) und die Mißhandlung in der Vorprozeßphase. Weiterhin äußerten sich die UN-Experten besorgt über die mutmaßlichen Verstöße gegen die Menschenrechte im Verlauf des Prozesses, und sie mahnten die Behörden, den Fall Tenzin Delek Rinpoche in einem neuen Verfahren aufzugreifen, das sich an den internationalen Normen für ein ordentliches Verfahren orientiert[34].

Unabhängigkeit der Justiz

Der Art. 126 der chinesischen Verfassung legt fest: “Die Volksgerichte sollen ihre Gerichtsbarkeit gemäß den gesetzlichen Bestimmungen unabhängig ausüben, frei von Einmischung durch Verwaltungsorgane, gesellschaftliche Organisationen oder Individuen”. In der Praxis ist der Justizapparat jedoch von den politischen Vorgaben der Regierung und der Partei abhängig. Sowohl auf zentraler als auch auf lokaler Ebene greifen Regierung und Partei routinemäßig in die Arbeit der Justizbehörden ein.

Im chinesischen Justizwesen sind drei Organe dafür zuständig, dem Gesetz Geltung zu verschaffen: die Prokuratur[35], die Gerichte und die Polizei. Alle drei unterstehen der strengen Kontrolle der Kommunistischen Partei. Die chinesische Justiz steht daher in deutlichem Kontrast zu einem der Grundprinzipien der Vereinten Nationen, nämlich der Unabhängigkeit der Justiz.

“Die Justiz hat über die ihr vorgelegten Tatbestände unparteiisch zu entscheiden, auf der Basis von Fakten und nach dem Gesetz, ohne irgendwelche Beschränkungen, unzulässige Beeinflussung, Verlockungen, Druck, Drohungen oder Einmischung, von woher und aus welchem Grund diese auch immer erfolgen mögen”[36].

Die mangelnde Unabhängigkeit der chinesischen Justiz tritt in den Fällen besonders deutlich zutage, wo es um politische Anklagen geht. Die Volksgerichte unterliegen auf allen Ebenen der genauen Überprüfung und Kontrolle durch parallele und höhere Organe der Kommunistischen Partei, den sogenannten “Ausschüssen für Politik und Gesetz”. Außerdem macht die Kommunistische Partei jedem Volksgericht die Auflage, daß die sogenannten “Gerichtsbeschluß-Ausschüsse”, die sich aus dem Gerichtspräsidenten und anderen höheren Justizbeamten zusammensetzen, wichtige und heikle Fälle nicht nur einer eingehenden Prüfung unterziehen, sondern das Urteil noch vor der eigentlichen Verhandlung festlegen müssen. In der juristischen Fachpresse Chinas wird dieses System ganz unverhohlen als “zuerst das Urteil, dann der Prozeß” bezeichnet.

Bei der vierten Sitzung des 8. Ständigen Ausschusses des Volkskongresses der TAR am 29. September 2004 wurde eine Reihe personeller Veränderungen im Verwaltungsapparat beschlossen[37]. Abgesehen von ein paar Umgestaltungen im Volkskongreß und der Volksregierung gab es die meisten Versetzungen und Neubesetzungen in der Justiz, d.h. bei den Mittleren Volksgerichten und insbesondere bei den Prokuraturen[38] aller sechs Präfekturen der TAR, außer Lhasa, das einen besonderen Status besitzt. Nur zwei von 13 neuen Kadern in den Prokuraturen der einzelnen Präfekturen der TAR sind Tibeter, während es von fünf Neuernennungen nur ein Tibeter in die Prokuratur auf TAR-Ebene schaffte. In ähnlicher Weise erfolgte von sieben Neubesetzungen bei den diversen Mittleren Volksgerichten nur eine mit einem Tibeter. Diese personellen Veränderungen zeigen, daß immer häufiger chinesische Kader gegenüber tibetischen bevorzugt werden und daß die ”regionale Autonomie” für Peking eher eine Übung in Integration als in Diversifikation ist.

Das TCHRD befürchtet, daß die ethnische Disparität bei der Stellenbesetzung im Justizbereich ebenso wie Pekings Politik , chinesische Kader aus diversen Berufssparten für eine gewisse Zeitspanne aus anderen Provinzen nach Tibet zu versetzen, die ohnehin nur minimale Autonomie Tibets noch weiter schmälern wird.

Todesstrafe

Laut dem Art. 48 des chinesischen Strafrechts müssen alle Todesurteile dem Obersten Volksgericht zur Überprüfung und Billigung vorgelegt werden. 1980 beschloß der ständige Ausschuß des Nationalen Volkskongresses Chinas jedoch, die Berechtigung zur Überprüfung von Todesurteilen im Falle von Mord, Raub, Vergewaltigung, Brandstiftung und anderen Verbrechen, welche eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bedeuten, auch niedrigeren Instanzen zu übertragen. Dieses System, das unter dem Namen xia fang (übertragen) läuft, wurde nachträglich durch das “Staatsgrundgesetz” und die Verordnung von 1983 bestätigt und außerdem noch 1997 vom Obersten Gerichtshof gebilligt. Das Resultat ist, daß es nun im der chinesischen Rechtssystem einen Konflikt zwischen dem Strafrecht und den Gesetzen und Verordnungen zugunsten des xia fang gibt. Im Legislaturplan des 10. Nationalen Volkskongresses (März 2004) ist eine Ergänzung zum Strafverfahrensgesetz über das Prozedere bei der Überprüfung von Todesurteilen vorgesehen. Demzufolge soll der Oberste Gerichtshof, so wie der Art. 48 des Strafgesetzes es verlangt, wieder zur höchsten Instanz bei Berufungen im Falle von Todesurteilen werden.

Der Art. 212(5) im Strafverfahrensgesetz der VR China von 1996 lautet: “Die Vollstreckung von Todesurteilen muß öffentlich bekanntgegeben werden”. China betrachtet Statistiken über die Todesstrafe jedoch immer noch als “Staatsgeheimnis”. Es ist daher unmöglich herauszufinden, wie viele Menschen der jedes Jahr in China hingerichtet werden. 2003 wurde einigen Berichten zufolge an über 5.000 Straftätern wegen diverser Verbrechen die Todesstrafe vollzogen[39].

China ist ein Land, in dem alljährlich mehr Menschen hingerichtet werden als in der übrigen Welt zusammengenommen. Nicht vergessen werden sollte auch, daß die Todesstrafe, die ursprünglich bei 32 Schwerverbrechen verhängt wurde, allmählich auf 73 verschiedene Delikte ausgeweitet wurde[40].

Anti-Terror-Übungen in Lhasa

Die dritte “Internationale Konferenz Politischer Parteien in Asien”, die vom 3. bis 5. September 2004 in Peking stattfand, brachte Vorsitzende und Vertreter von 81 politischen Parteien aus 35 Ländern, darunter auch der Kommunistischen Partei Chinas (CCP), zusammen. Bei der Konferenz wurde die Beijing Declaration verabschiedet, in der es heißt:

“Terrorismus, Separatismus und Extremismus sind zu einer Art Seuche geworden, welche die Menschheit heimsucht. Wir verurteilen und bekämpfen entschieden alle Formen von Terrorismus. Wir befürworten eine Stärkung der Kooperation unter souveränen Staaten und regionalen Organisationen zur Terrorismus-Abwehr, und die Ergreifung von Maßnahmen zur Beseitigung der Grundursachen des Terrorismus, wobei den Vereinten Nationen die wichtigste Rolle zukommt. Es darf keine doppelten Standards geben, außerdem darf der Kampf gegen den Terrorismus nicht an eine bestimmte ethnische Gruppe oder Religion gebunden sein”[41].

Unter dem Vorzeichen der Terrorismus-Bekämpfung gehen die chinesischen Behörden gegen tibetische Dissidenten vor und schikanieren Personen, die sie “spalterischer Tätigkeiten” verdächtigen. Die häufigen Anti-Terror-Übungen in der tibetischen Hauptstadt zeugen von der Nervosität der Behörden, was den Terrorismus angeht. Die erste eintägige Anti-Terror-Übung mit der Bezeichnung “Himalaya 03”, wurde am 17. November 2003 vom chinesischen Militär abgehalten. Die zweite fand am 12. September 2004 statt. Dabei übten chinesische Soldaten die Rettung von Geiseln, die Entschärfung von Bomben und die Reaktion auf biochemische Angriffe. Bei diesen Übungen, die drei Stunden dauerten, wurde auch der Rettungseinsatz bei Entführungen, Sprengstoff- und biochemischen Anschlägen sowie die Festnahme von Terroristen geprobt[42].

Wie ein chinesischer Funktionär sagte, verfolgen derartige Militärübungen den Zweck, die Streitkräfte im Hinblick auf den Kampf gegen Separatisten, die zum Gefolge des im Exil lebenden geistlichen Oberhaupts der Tibeter, des Dalai Lama, gehören, in ständiger Alarmbereitschaft zu halten[43]. Das offizielle Nachrichten-Webportal Xinhua zitierte die Veranstalter: “Diese Anti-Terror-Manöver werden angesichts der häufigen Terrorakte in der ganzen Welt abgehalten, um die Abwehrbereitschaft für den Fall von Terrorangriffen in der Region zu testen”[44].

China sollte Anti-Terror-Maßnahmen nur in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht durchführen. Das TCHRD ist der Ansicht, daß die Abstempelung von Minderheiten, wie etwa der Tibeter, die harmlosen kulturellen oder religiösen Aktivitäten nachgehen oder in friedlicher Weise für politische Unabhängigkeit oder Autonomie eintreten, als Terroristen, eine grobe Verletzung der international verbrieften Rechte auf Freiheit der Meinung und Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Religionsfreiheit darstellt. Es ist daher unbedingt erforderlich, bei allen Maßnahmen zur Terrorismus-Bekämpfung genau zu prüfen, ob sie mit den internationalen Menschenrechts- und humanitären Gesetzen vereinbar sind.

Die  “Kampagne des harten Durchgreifens”

Die Wiederaufnahme der Kampagne des harten Durchgreifens in Tibet deutet auf eine Rückkehr der chinesischen Regierung zu ihrer Hardliner-Position hin: Sie geht nun noch schärfer gegen diejenigen vor, die angeblich die Einheit Chinas unterminieren. Mit dieser Kampagne, die 1983 entwickelt worden war, um Verbrechen und Korruption einzudämmen, wurde in der Autonomen Region Tibet im April 1996begonnen. Hier dient sie hauptsächlich dem Zweck, den Einfluß des Dalai Lama auszuschalten und tibetischen Dissens im Keim zu ersticken.

Im Zuge der Kampagne des harten Durchgreifens wurde jeglicher Ausdruck von Verehrung gegenüber dem Dalai Lama untersagt, wozu auch der Besitz von Bildern, Video- und Tonkassetten von ihm, ebenso wie die Bezugnahme auf ihn als das im Exil lebende Oberhaupt der Tibeter und die Erwähnung seiner Regierung gehören. Streng verboten ist auch der Besitz der tibetischen Nationalflagge, sowie allen Materials, das irgendwie politisch relevant sein könnte. Alle diese Dinge werden als Akte der “Gefährdung der Staatssicherheit” oder als “Beeinträchtigung der Stabilität und Einheit des Mutterlandes” betrachtet und dementsprechend geahndet.

Auch in den monastischen Gemeinschaften wird der Besitz der genannten Gegenstände von den Arbeitsteams kontrolliert, welche die größeren religiösen Institutionen regelmäßig aufzusuchen pflegen. Sie trommeln die Mönche und Nonnen zusammen, um sie politisch zu indoktrinieren und dazu zu bringen, den Dalai Lama zu diffamieren.

China hat die Kampagne kürzlich intensiviert, um noch härter gegen politischen Dissens und religiöse Institutionen vorzugehen. Am 19. Oktober 2004 traten die Hauptorgane der Strafverfolgung in Lhasa zu einer einwöchigen Sitzung zusammen und erörterten die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität und der Ergreifung geeigneter Maßnahmen gegen Personen, die im Verdacht stehen, die Souveränität Chinas und die Sicherheit des Landes zu untergraben. Der Beschluß wurde gefaßt, die Kampagne des harten Durchgreifens in Lhasa in den letzten zwei Monaten des Jahres 2004 noch strenger durchzuführen. Der Chef des Public Security Bureau der TAR, Yang Song, erklärte am 20. Oktober 2004: “Soziale Stabilität ist nicht nur ein Muß für die Gesellschaft, es ist auch eine sehr wichtige politische Angelegenheit [….], hart gegen Spalter vorzugehen und sie auszuschalten”[45].

Von Anfang an gab es im Gefolge der Kampagne des harten Durchgreifens ernsthafte Verletzungen der Menschenrechte der Tibeter. Es gibt unzählige Fälle, wo Tibeter wegen ihres bloßen Eintretens für die tibetische Unabhängigkeit und ihre Unterstützung des Dalai Lama festgenommen, gefoltert und über lange Zeiträume inhaftiert wurden.

Einrichtungen zur Umerziehung-durch-Arbeit

Ein weiterer Bereich, in dem die Menschen ihrer Freiheit beraubt werden, ist das 1957 von der chinesischen Regierung einführte System der Umerziehung-durch-Arbeit. Laut dem “Gesetz über administrative Bestrafung” sind die Behörden berechtigt, Personen ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren willkürlich festzunehmen und festzuhalten. Auf Gemeindeebene kann eine Person ohne irgendeine Kontrolle durch einen Richter und ohne Recht auf Berufung vom Public Security Bureau oder vom Management-Komitee für Umerziehung-durch-Arbeit verurteilt werden. Verurteilungen zur Umerziehung-durch-Arbeit können von sechs Monaten bis zu drei Jahren reichen, mit der Möglichkeit der Verlängerung um ein Jahr, falls sich der Sträfling als nicht ausreichend “umerzogen” erweist.

Die UN-Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung machte erneut klar, daß jegliche Form des Freiheitsentzugs – auch die Umerziehung-durch-Arbeit – der Überprüfung durch ein Gericht bedarf[46]. Doch bis zum heutigen Tag gibt es in China keine richterliche Kontrolle bei der Einweisung einer Person zur Umerziehung-durch-Arbeit[47].

2004 wurden noch mehr Tibeter als in den vergangenen Jahren aus politischen Gründen oder wegen ihres Versuchs aus Tibet zu fliehen, oder weil sie aus dem Exil zurückkehrten zur Umerziehung-durch-Arbeit in ein Lager eingewiesen.

Es wurde zwar berichtet, daß der Nationale Volkskongreß die Überprüfung der derzeitigen rechtlichen Grundlagen für Umerziehung-durch-Arbeit auf seine Tagesordnung setzen wolle[48]; nichtsdestoweniger wurde im Juli 2004 in der Gemeinde Senge im Distrikt Ngari ein neues Straflager mit einer Fläche von. 371,600 m2  in Betrieb genommen. Acht Millionen Yuan wurden von dem Entwicklungsministerium für die Einrichtung der Anstalt bereitgestellt, die ungefähr 100 Insassen aufnehmen kann[49]. Die Ortswahl des Lagers ist typisch, denn es liegt an einer Route, welche Tibeter gerne bei ihrer Flucht ins Exil benutzen, ebenso wie die Rückkehrer aus Indien und Nepal.

Einschränkung der Bewegungsfreiheit

Der Art. 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verfügt: “Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates” und “Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.”

In der Praxis macht China es Tibetern, die ihr Land verlassen möchten, jedoch äußerst schwer, sich die erforderlichen Reisedokumente zu beschaffen. Deshalb versuchen jedes Jahr viele Tibeter ohne die notwendigen Papiere aus ihrem Heimatland zu fliehen, um in Klöstern im Exil ihrer religiösen Berufung in Freiheit nachgehen oder die von der tibetischen Regierung –im Exil aufgebauten Bildungseinrichtungen besuchen zu können.

Auf ihrer Fußreise über die Himalaya-Pässe sind diese Flüchtlinge nicht nur Hunger, Austrocknung, Verletzungen, Schneeblindheit und Erfrierungen ausgesetzt, sondern sie laufen vor allem Gefahr, von einem der zahlreichen Polizeiposten entlang der Route verhaftet zu werden. Darüber hinaus droht ihnen auf der nepalesischen Seite der Grenze die Festnahme durch die dortigen Grenzschutzkräfte und die Rückführung über die Grenze nach China.

Am 11. September 2004 nahm das nepalesische Grenzschutzpersonal eine Gruppe von 34 Tibetern fest, darunter sechs Frauen und sechs Kinder, die gerade die Grenze überschritten hatten. Drei Mönche aus dem Kloster Dhargyeling, Dhondup Tsering, 22, Tashi Dhargay, 19, und Dhondup Namgyal, hatten sich am 29. Dezember 2003 auf den Weg gemacht, um eine Audienz beim Dalai Lama in Dharamsala zu erhalten. Dhondup Tsering berichtete dem TCHRD:

“Als wir es endlich nach Nepal geschafft hatten, stellte uns ein bulliger nepalesischer Offizier Fragen auf Tibetisch und schlug und stieß uns dabei brutal. Er durchsuchte uns auch gründlich und nahm mir 1.500 Yuan und den anderen 2.900 Yuan ab. Dann schlossen sie uns eine ganze Nacht, in eine Toilette ein, die von außen bewacht wurde, ohne uns etwas zu essen zu geben. Am nächsten Morgen gegen 11 Uhr lieferten nepalesische Soldaten uns in Dram an der tibetisch-nepalesischen Grenze dem chinesischen Grenzschutzpersonal aus. Wir wurden einzeln vernommen und schwer geschlagen, sogar Tashi Dhargay, der magen- und herzkrank ist. Sie warfen uns in den Kerker, ohne Feldbetten und ohne elektrisches Licht”.

Ein Neuankömmling aus Tibet, der seine Anonymität wahren will, berichtete dem TCHRD im November 2004 über die Vergewaltigung von zwei jungen Mädchen aus seiner Gruppe durch eine Bande von Nepalesen, die in der Uniform der nepalesischen Polizei auftrat und die fliehenden Tibeter angriff:

”Wir waren eine Gruppe von fünf Männern und zwei 13 und 16 Jahre alten Mädchen. Nachdem wir Dram (nepalesisch-tibetische Grenzortschaft) passiert hatten, erreichten wir die Wälder um Tatopani. Plötzlich wurden wir von einer Gruppe von acht mit Messern bewaffneten Männern in Uniformen der nepalesischen Polizei angegriffen. Den Mädchen wurden vor unseren Augen die Kleider vom Leib gerissen, dann vergewaltigten die Männer sie abwechselnd. Einige der Männer vergewaltigte die Mädchen mehrmals. Die anderen lachten und urinierten daneben, während den Mädchen Gewalt angetan wurde. Ein Mann aus unserer Gruppe wurde mit einem Messerhieb auf den Kopf niedergeschlagen, als er wutentbrannt auf die Bewaffneten losging”[50].

Tenzin Nyima, 15, aus dem Dorf Tose im Distrikt Nyingtri, gehörte zu jener Gruppe von 18 Tibetern, die im Mai 2003 bei ihrem Versuch aus Tibet zu fliehen, von der nepalesischen Polizei festgenommen wurde. Er war im Dilli Bazar Gefängnis in Kathmandu eingesperrt und wurde am 31. Mai zusammen mit der Gruppe den Chinesen ausgeliefert. Hier ist sein Bericht über seine wiederholten Fluchtversuche:

“Wir wurden von fünf Zivilpolizisten verhaftetet und im alten Gefängnis von Shigatse eingesperrt. Dort versuchten sie uns einzuschüchtern, indem sie ihre Gewehre auf unsere Köpfe richteten und uns fragten, was unser Ziel und wer der Anführer unserer Gruppe sei. Sie schlugen uns ins Gesicht und traktierten uns mit elektrischen Schlagstöcken. Als die Peiniger mir den Stock auf den Rücken hauten, war ich eineinhalb Stunden lang bewußtlos… Später wurde ich in nacktem Zustand mit einem Seil gefesselt und kopfüber aufgehängt. Dann wurde ich mit eiskaltem Wasser übergossen. Ich war fünf Monate lang im Gefängnis von Shigatse inhaftiert. Schließlich konnten meine Angehörigen mich durch Zahlung von 3.000 Yuan Lösegeld an die Gefängnisleitung freibekommen.”

Bei seinem zweiten Versuch, aus Tibet zu fliehen, war er in der Gruppe von 27 Personen, die von der nepalesischen Polizei gefaßt und nach Tibet abgeschoben  wurde. “Wir wurden in einer kleinen Zelle in Dram (einer nepalesisch-tibetischen Grenzortschaft) eingesperrt. Dort litten fünf von uns drei Wochen lang an heftigem Nasenbluten. Nachdem wir die Gefängniswärter mehrmals inständig gebeten hatten, mir auf Grund meines sich ständig verschlechternden Gesundheitszustands medizinische Hilfe zukommen zu lassen, wurde mir schließlich eine Spritze verabreicht. Später verlegten sie mich ins Gefängnis von Shigatse, wo die Gefangenen ein wenig besser behandelt werden. Dort konnten meine Eltern durch Bestechung der Gefängnisbeamten meine Entlassung erwirken.”

Erst beim dritten Anlauf gelang Nyima die Flucht und im Mai 2004 erreichte er Kathmandu. Auch 2004 gab es eine Reihe von Fällen, wo Tibeter, die aus dem indischen Exil nach Tibet zurückkehren wollten, von den Chinesen willkürlich festgehalten wurden. Ihre Freilassung konnte meistens nur durch Zahlung einer Kaution erwirkt werden.

Rückkehrer aus dem Exil, insbesondere hoch angesehene Lamas, werden von den chinesischen Behörden wegen ihrer Loyalität zum Dalai Lama oder wegen ihrer mutmaßlichen Verwicklung in politische Tätigkeiten, was als Delikt der versuchten “Gefährdung der Staatssicherheit” geahndet wird, mit Argwohn betrachtet. Wie das TCHRD erfuhr, ordneten die Behörden die Ausweisung von Mönchen und Nonnen an, die nach ihrer Rückkehr aus dem Exil um Wiederaufnahme in ihren Heimatklöstern in Tibet baten.

Nun sind Mönche und Nonnen, die von einem Klosteraufenthalt aus Indien zurückkehren, aber nicht die einzigen Opfer der Verfolgung, die chinesischen Behörden nehmen sich auch routinemäßig Studenten vor, die nach Abschluß ihrer Ausbildung im Ausland nach Tibet zurückkehren. Aus Indien zurückkehrende Tibeter werden oft unweit der Grenze zu Nepal in Polizeigefängnissen in Gewahrsam gehalten. Häufig werden sie ausgedehnten Verhören unterzogen, die fast immer von Schlägen und anderen Formen physischer Mißhandlung begleitet werden.

Gedun Tsundue, ein Mönch aus dem Kloster Ragya, TAP Golog, Provinz Qinghai, der ins Exil geflohen und dort ins Kloster Kirti in Dharamsala eingetreten war, sowie Jamphel Gyatso, ein Mönch des Jadel Khangtsen im südindischen Sera Jhe Kloster, kehrten im Februar 2004 nach Abschluß ihrer Studien nach Tibet zurück. Das TCHRD verfügt über die bestätigte Information, daß beide vier Monate lang willkürlich inhaftiert waren, ehe man sie den zuständigen Behörden in Golog übergab und ihnen je 4.500 Yuan Geldstrafe abverlangte[51].

Im Juni 2004 wurden die zwei Mönche Sherab und Tenzin Dadul, die im Jadel Khangtsen des Klosters Sera Jhe in Südindien studiert hatten, zusammen mit zwei Laien, Dhombu und Monlam, die ebenfalls auf ihrem Rückweg nach Tibet waren, im Gefängnis von Dram in der Nähe der Grenze zu Nepal inhaftiert. Über ihren Verbleib und ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt[52].

2001 erhielt das TCHRD eine Mitteilung über die Festnahme von vier ehemaligen Mönchen des Klosters Ragya in Machen (Kunchok Dhargay, Mathok Damchoe, Tsultrim Phuntsok und Sonam Gyatso), die aus Indien in ihre Heimat zurückkehren wollten. Den Vieren wurde vorgeworfen, mit einer geheimen Organisation namens “Freiheit in Tibet” zusammenzuarbeiten und Bilder von Gedhun Choekyi Nyima zu verteilen. Alle wurden zu 5 bis 6 Jahren Gefängnis verurteilt, was das TCHRD aber erst 2004 erfuhr.

Wegen der Schwierigkeiten, an Informationen über Menschenrechtsverletzungen zu gelangen, erreichen Berichte von Festnahmen das TCHRD in manchen Fällen erst, nachdem die Opfer ihre Strafe verbüßt haben und ins Exil entkommen sind.

Resumee

Zweifellos hat es im Verlauf des letzten Jahrzehnts ungeheure wirtschaftliche Veränderungen in China gegeben. Bedauerlicherweise geht die rasante wirtschaftliche Entwicklung aber nicht mit einem geschärften Bewußtsein der Bürger für ihre bürgerlichen und politischen Rechte einher. Du Zhongxing, ein Mitglied der chinesischen Delegation bei der 60. Sitzung der UN Menschenrechtskommission, erklärte:

“Die Verwirklichung der bürgerlichen und politischen Rechte ist ein langwieriger Prozeß. Gleichgültig welcher Methode oder welches Modells sich ein Staat bei der Verwirklichung der Menschenrechte bedient, der Genuß bürgerlicher und politischer Rechte durch die Einwohner eines gegebenen Landes kann niemals den Grad seiner allgemeinen sozialen Entwicklung übersteigen […] Die Verwirklichung der bürgerlichen und politischen Rechte erfordert eine solide materielle Grundlage und den Aufbau von Kapazitäten. Sie ist eng verbunden mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten und dem Recht auf Entwicklung. Gegenwärtig gibt es einige Mißverständnisse hinsichtlich der bürgerlichen und politischen Rechte. Manche meinen, der Schutz dieser Rechte erfordere nur politischen Willen und es seien keine materiellen Mittel dazu erforderlich. Doch in der Praxis kann man leicht erkennen, daß der Schutz dieser Rechte auch materielle Mittel erfordert. So werden beispielsweise Mittel benötigt für die Aufklärung über Menschenrechte, für die Ausbildung von Personal zur Durchführung der Gesetze, für die Bereitstellung von Rechtshilfe, für Wahlen an der Basis, usw. Um die Sache der Menschenrechte zu fördern, sollte die internationale Gesellschaft den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten die gebührende Beachtung schenken und natürlich auch dem Recht auf Entwicklung. Außerdem sollte den zahlreichen Entwicklungsländern, die wirtschaftlich zurückgeblieben sind und große finanzielle Probleme haben, mehr technische Unterstützung und Beistand zum Aufbau von Kapazitäten gegeben werden”[53].

An dieser Erklärung wird deutlich, welche irrigen Vorstellungen die chinesische Regierung von der Natur der bürgerlichen und politischen Rechte hat. In ihren Augen ist wirtschaftlicher Fortschritt eine notwendige Vorbedingung für die Wahrnehmung der bürgerlichen und politischen Rechte. Der von der Völkergemeinschaft allgemein akzeptierten Auffassung zufolge haben bürgerliche und politische Rechte jedoch in erster Linie den Sinn und Zweck, die einzelnen Bürger vor den Übergriffen des Staates zu schützen. Einzelpersonen können sich dieser Rechte daher nur solange erfreuen, als der Staat nicht unbefugt in ihre Freiheit eingreift.

Das TCHRD ist der Ansicht, daß die Förderung und der Schutz gewisser grundlegender Rechte – wie des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, des Rechts, Meinungen ungehindert anzuhängen, des Rechts, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen oder des Rechts, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren – keine “technische und materielle Unterstützung und den Aufbau von Kapazitäten, Hilfe und Ressourcen” erfordern. Während niemand bestreitet, daß Menschenrechte voneinander abhängig sind und in Wechselbeziehungen zueinander stehen, hält das TCHRD die von der chinesischen Regierung vertretene Auffassung für gänzlich inakzeptabel, daß die Förderung und der Schutz der genannten Rechte von dem Grad der wirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft abhängig gemacht werden sollten.

In ihrer einseitigen Ausrichtung auf die wirtschaftliche Entwicklung Tibets übersieht die chinesische Regierung, daß das tibetische Volk sich nicht voll entwickeln kann, solange es seine grundlegenden bürgerlichen und politischen Rechte nicht geltend machen kann.

Fußnoten

[1] Xinhuanet, 1 July, 2004.

[2] Wang Lixiong, “Tibet Facing Imperialism of two kinds: An analysis of Woeser incident”.

[4] Art. 36,37,38,39 und 40 der Verfassung der VR China.

[5] Tibet Times, 20. Mai 2004.

[6] “Tibetischer Sänger und Dichter nach zweimonatiger Haft freigelassen”, TCHRD, Human Rights Update Mai 2004.

[7] Erklärung der Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung nach ihrem China-Besuch, 4. Oktober 2004.

[9] UN Doc E/CN4/2000/ADDI.

[10] “Mönch verhaftet wegen Dalai Lama Bild und tibetischer Flagge”, Human Rights Update, März 2004.

[11] Radio Free Asia, 23. September 2004.

[12] “Des Separatismus verdächtigte Tibeter zu Gefängnis verurteilt”, Radio Free Asia, 24. Sept. 2004.

[13] “Brüder wegen Protestaktion für die Unabhängigkeit verhaftet”, Human Rights Update, TCHRD, Okt. 2004.

[14] Erklärung der Arbeitsgruppe für Willkürliche Verhaftung auf ihren China-Besuch hin, 4. Okt. 2004.

[21] 2003 Human Rights Monitor Report pp. 152.

[22] UN Doc A 57/173, 2 July 2002.

[23] 2003 Human Rights Monitor Report p. 152.

[24] “Nonnen werden schwer schikaniert wegen Protest gegen die Kürzung ihrer Menschenrechte”, TCHRD Interview Juni 2004.

[25] “Wiederaufbau eines Nonnenklosters führt zu Polizeiaktion: Augenzeugenbericht von Dhamchoe Dolma”, Human Rights Update, März 2004.

[26] Rigzin Wangyal starb Ende 2004, siehe TCHRD News vom 5. Feb. 2005: “Zu lebenslanger Haft verurteilter tibetischer Gefangener im Gefängnis gestorben”.

[27] “Lobsang Tenzin und Rigzin Wangyal in kritischem Zustand”, HRU Mai 2004.

[28] “Geshe Sonam Phuntsok nach Vollendung seiner Gefängnisstrafe entlassen”, Human Rights Update, Okt. 2004.

[29] “Schlimme Folgen für Nonnen, die gegen die Aushöhlung ihrer religiösen Rechte protestierten”, Human Rights Update, Mai 2004.

[30] Eine Gruppe von 14 Nonnen, die 1993 heimlich Lieder auf Tonband aufnahmen, in denen sie ihre Heimat und den Dalai Lama besangen. Ihre Lieder wurden aus Tibet hinausgeschmuggelt und zum Symbol des heroischen Geistes tibetischer politischer Gefangener, die in den diversen Haftanstalten schmachten.

[31] TCHRD Interview, 31. Okt. 2004.

[32] ”Die singenden Nonnen von Drapchi bezeugen Folter in der Haft”, Human Rights Update, Nov. 2004.

[35] Eine Prokuratur ist ein chinesisches Justizorgan, das für die Ermittlung und Anklageerhebung bei Straftaten zuständig ist. Sie befaßt sich auch mit Beschwerden gegen Polizei, Gefängnispersonal und andere Zweige der Verwaltung.

[37] TIN, 30. Okt. 2004, “Neubesetzungen von Verwaltungsstellen in der TAR – Integration statt Autonomie”

[38] Eine Prokuratur ist ein chinesisches Justizorgan, das sich mit der Ermittlung und Verfolgung strafrechtlicher Fälle befaßt. Sie ist auch für Beschwerden gegen Polizei, Gefängnispersonal und andere Verwaltungszweige zuständig.

[43] Xinhua News, 12 September 2004.

[47] idem.

[48] idem.

[49] Tibet Daily, 21. Juli 2004.

[50] Jugendliche auf dem Weg ins Exil vergewaltigt”, Human Rights Update, Nov. 2004.

[51] “Aus dem Exil zurückgekehrte Tibeter werden immer öfter willkürlich inhaftiert”, TCHRD Pressemitteilung, 12. Aug. 2004

[52] Tibet Times, 20. Aug. 2004.