Teil A |
Einführung
Tibetischer Buddhismus ist nicht einfach nur die "Religion" des tibetischen Volkes. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs die tibetische nationale und kulturelle Identität derart mit der religiösen Identität zusammen, daß der Buddhismus das ganze Leben der Tibeter bestimmte. Männer- und Frauenklöster waren Stätten der Gelehrsamkeit, wo das Studium nicht nur der eigenen religiösen Praxis, sondern auch der Vermittlung von Wissen an die Allgemeinheit diente. Vor der Invasion Tibets durch China 1949 gab es über 6.000 Klöster im ganzen Land, die um die 600.000 Mönche und Nonnen beherbergten. 1979 waren nur noch 13 Klöster übrig, die meisten der Mönche und Nonnen waren auf natürliche oder gewaltsame Weise ums Leben gekommen oder waren von den Chinesen zur Ablegung ihrer Mönchsrobe gezwungen worden.
Ab 1980 erlaubte eine beschränkte Liberalisierung in der chin. Religionspolitik den Tibetern, an den Wiederaufbau von Klöstern und die Wiederaufnahme ihrer religiösen Praktiken zu gehen. Dies war für die Volksrepublik China von zweifachem Vorteil, sie konnte sich nämlich vor der internationalen Gemeinschaft rühmen, daß China die Menschenrechte einhalte, und zugleich dem Tourismus-Geschäft in der tibetischen Region zum Aufschwung verhelfen. Seit 1996 wird jedoch eine subtilere, aber ebenso repressive Politik von China verfolgt, um den Einfluß der Religion unter den Tibetern zu neutralisieren.
Aus der Perspektive Chinas fachen die starken religiösen Traditionen Tibets dreierlei hartnäckige Unruheherde an: Erstens hängt die religiöse Kraft Tibets eng mit seiner trotzigen Unabhängigkeitsbewegung zusammen: politische Untergrundgruppen sprossen in den Klöstern Tibets; tibetische Mönche und Nonnen füllen die chin. Gefängnisse und Haftanstalten in Tibet und machen gegenwärtig 69 % der uns bekannten politischen Gefangenen aus. Zweitens charakterisiert die buddhistische Religion die Tibeter als ein eigenes Volk, das sich insbesondere von dem kommunistischen China und seiner Zwangsstrategie zur "Vereinigung des Mutterlandes" deutlich abhebt. Drittens stellt sie ein Hindernis für den von China verfolgten wirtschaftlichen Aufschwung der Region dar: Im Nov. 1995 griff ein Artikel in einer offiziellen chin. Zeitung die Mönche an, sie wollten nicht "zu dem wirtschaftlichen Wachstum beitragen".
Im Jan. 1996 warnten die chin. Machthaber, daß "gegen diejenigen, welche die Religion benützen, um das öffentliche Leben im administrativen, gerichtlichen, militärischen, sozialen oder Erziehungsbereich zu stören, insbesondere jene, die das Land im Namen der Religion spalten wollen, äußerst hart gemäß dem Gesetz vorgegangen wird". Um die "Probleme in der Religion aus dem Wege zu schaffen", wurden 1996 drei direkte Ziele gesteckt: Registrierung aller Stätten der Anbetung, Ausmerzung schwieriger religiöser Probleme von öffentlichem Interesse, Heranbildung von Kontingenten junger patriotischer religiöser Führer.
Drei Monate später, Ende April 1996, wurde der chin. "Hart-Durchgreif" Feldzug auch in Tibet gestartet. Während die Kampagne des "Harten Durchgreifens" in China offiziell dem Kampf gegen Verbrechen und Korruption galt, richtete sie sich in Tibet vor allem gegen "Spalter", die für die Befreiung Tibets und den Dalai Lama eintreten. Ein wichtiger Faktor des "Harten Durchgreifens" in Tibet ist die "Umerziehungs-Kampagne", welche zu einer drastischen Unterdrückung der religiösen Freiheit in monastischen Institutionen führte. Chin. Arbeitsteams wurden in allen Teilen Tibets in die Klöster entsandt, um Mönche und Nonnen gewaltsam "umzuerziehen", ihnen vorzuschreiben, was sie zu denken und wie sie zu handeln haben. Wer sich diesen Teams widersetzt, zieht Bestrafung in Form von Ausweisung oder Verhaftung auf sich herab.
Der Kernpunkt der "Umerziehungsmaßnahmen" ist die Verwerfung aller Ideen von tibetischem Nationalismus und die Verunglimpfung des Dalai Lama. Jene, die sich weigern, dies zu tun, riskieren schwere Folgen: Seit China die "Hart-Durchgreif" Kampagne im April 1996 in Tibet startete, wurden allein bis Februar 1998 registriert: 3.993 Ausweisungen aus Klöstern, 294 Verhaftungen und 14 Tote. Die Bestimmungen zum Eintritt in die Klöster wurden verschärft, z.B. die Einführung von Mindest- und Höchstalter, wodurch die monastische Gemeinde noch mehr reduziert und das religiöse Studium eingeschränkt wird.
China gibt an, daß bisher etwa 30.000 von den 46.000 buddhistischen Mönchen und Nonnen in Tibet "patriotisch umerzogen" und von den 1.787 bestehenden Klöstern und Tempeln 1.780 von den Arbeitsteams erfaßt worden seien. Die Regierung kündigte auch an, daß sie die Kampagne von den Klöstern auf alle Bereiche der tibetischen Gesellschaft ausdehnen werde.
Im Nov. 1996 verkündete das tibetische Zentralkomitee nach einer einwöchigen außerordentlichen Sitzung der Führer der Chin. Kommunistischen Partei die "endgültige Schlacht" gegen den Dalai Lama, die auch die letzten Spuren von Einfluß des im Exil lebenden geistlichen Führers aus allen Ebenen der Gesellschaft ausrotten soll. In dem Bericht des Komitees heißt es, daß die "Anti-Separatismus" Kampagne in Tibet, die 1996 in den Klöstern anlief, auch auf die Allgemeinheit der Tibeter ausgeweitet werden muß.
Die beabsichtigten Maßnahmen betreffen die Annahme von "administrativen Schritten zur Eindämmung der unkontrollierten Wucherung von religiösen Festen und Schreinen" und die Verstärkung der Überwachung im täglichen Leben, wie etwa auf dem Gebiet der Kunst und Literatur, damit diese fortan die sozialistische Pflicht des "Dienstes am Volke" erfüllen, anstatt "spirituellen Mist" zu verbreiten. Das Komitee schwor, ernst mit allen Mönchen oder Nonnen abzurechnen, "deren religiöse Aktivitäten oder abergläubische Überzeugungen die Industrieproduktion oder das tägliche Leben behindern", und indem es die tibetische Jugend als das Hauptschlachtfeld nannte, forderte es von jeder Schule, "die sozialistischen Lehren voranzutreiben und sich mehr auf politische und ideologische Erziehung zu konzentrieren".
Im Nov. 1997 nahm die Aktion zur Ausrottung des Einflusses des Dalai Lama solche Formen an, daß Raidi (tib. Ragdi), der Exekutive Stellv. Vorsitzende des Partei-Komitees der TAR, im regionalen chin. Fernsehen ankündigte, daß "wir dem Dalai Lama und seiner separatistischen Kraft einen totalen Krieg in Denken, Theorie und in der Ideologie erklären müssen".
Der "Umerziehungs" Feldzug wurde weiter im Dez. 1997 ausgeweitet, als die chin. Machthaber eine neue Aktion zur Ausrottung des "Einflusses des Dalai Lama auf die tibetischen Volksmassen" in landwirtschaftlichen Gemeinden, Kleinstädten, Städten, Verwaltungsorganen und Schulen ankündigten. Der Leiter des "Ethnischen Religion-Komitees für Tibet" erklärte, daß "die Instabilität anhalten wird, wenn die patriotische Umerziehung nur in den Tempeln durchgeführt wird".
Ziel der Angriffe der chin. Herrscher ist jedoch nicht nur der Dalai Lama, sondern der Buddhismus selbst. Im Juli 1997 erklärte der Parteisekretär der TAR Chen Kuiyan, daß "Buddhismus eine fremde Kultur" sei, und bezeichnete die Idee, daß die tibetische Kultur vom Buddhismus geprägt ist, als "völlig absurd". Darauf folgte im Nov. in den offiziellen Zeitungen eine Bekanntmachung, daß der ideologische "Umerziehungs" Feldzug noch 3 bis 5 Jahre weiterlaufen solle, wobei betont wurde, daß "sich die Religion den Entwicklungsbedürfnissen des Sozialismus anpassen muß, und nicht der Sozialismus den Erfordernissen der Religion".
Religiöse und kulturelle Rechte sind international anerkannte Menschenrechte. Die Verankerung dieser Rechte im Völkerrecht bedeutet die Anerkennung, daß die Erhaltung dieser Werte für die ganze Weltgemeinschaft bedeutungsvoll ist. Das Recht auf Freiheit der Religion ist im Art. 18 der Universalen Erklärung der Menschenrechte festgehalten und stellt daher einen auf alle Länder anwendbaren internationalen Standard dar. Die Untrennbarkeit von Religion und Kultur in der tibetischen Gesellschaft bedeutet, daß die Religionsfreiheit des tibetischen Volkes auch von dem Art. 15 der Internationalen Konvention über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights = ICESCR), die von der VR China im Okt. 1997 unterzeichnet wurde und die das Recht eines jeden, "am kulturellen Leben teilzunehmen" anerkennt, geschützt wird.
China behauptet fortwährend, daß die Menschenrechte der Tibeter gewahrt würden und sie religiöse Freiheit hätten. Touristen in Tibet werden gewöhnlich durch attraktive Klöster voller lächelnder Mönche und Nonnen geführt, die in scheinbarer Freiheit anbeten und studieren können. Ins Exil geflohene Mönche und Nonnen bezeugen, daß solche Besuche sorgfältig von den chin. Behörden vorher arrangiert werden; in der Vergangenheit konfiszierte religiöse Artefakte werden wieder aufgestellt, und den Mönchen und Nonnen wird gründlich eingetrichtert, was für Folgen es hat, wenn sie vor den ausländischen Besuchern kein frohes Bild abgeben.
Dieser Bericht über die gegenwärtige Situation der "Religionsfreiheit" in Tibet betrifft vor allem den chin. "Hart-Durchgreif" und den "Umerziehungs" Feldzug, die seit 1996 in Tibet zur Durchführung kamen. Er stützt sich hauptsächlich auf Zeugnisse, die aus Interviews mit tibetischen Flüchtlingen, die seit 1997 im Exil ankamen, gewonnen wurden. Die volle Wucht der religiösen Repression durch China trifft im Augenblick die tibetischen Mönche und Nonnen, und daher bilden ihre Geschichten die Mehrzahl der in dem Bericht in Betracht gezogenen Aussagen.
Wie bei jeder Untersuchung der Verhältnisse in Tibet, das derzeit unter chin. Besatzung steht, wird dieser Bericht notwendigerweise von der Schwierigkeit, Information aus Tibet zu bekommen, eingeschränkt. Doch reflektieren die aus allen Teilen Tibet stammenden Zeugnisse ein ziemlich uniformes Muster von "Umerziehungs" Politik. Diese Geschichten von Mönchen und Nonnen, die zum Verlassen ihrer Klöster und der Suche nach Religionsfreiheit außerhalb ihrer Heimat gezwungen wurden, beweisen, daß der Angriff Chinas auf die Religion flächendeckend, systematisch, und - bedauerlicherweise - äußerst effektiv ist.
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