30. September 2008
Radio Free Asia, www.rfa.org

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In einem neuen Gedichtband drückt Woeser ihre Liebe zu Tibet aus

Tibets bekannteste Schriftstellerin, die einst zur privilegierten Klasse Chinas gehörte, hat sich in eine eloquente Systemkritikerin verwandelt. Trotz des Verlustes ihrer Arbeitsstelle, der Schließung ihrer Blogs, der permanenten Überwachung, der sie heutzutage ausgesetzt ist, spricht Woeser durch ihre Gedichte mutig ihre Meinung aus. Und der Mut ist ein entscheidender Faktor im Leben und im Schaffen der Schriftstellerin Woeser.

Woeser 1970 in Tibet
Woeser als junge Frau

Als eine Schriftstellerin, deren Werke in China verboten sind, fährt Woeser damit fort, von ihrem kleinen Appartement in Beijing aus nicht nur Gedichte, sondern auch Aufsätze und Berichte über die derzeitige Situation in Tibet zu verfassen. Sie steht unter ständiger Aufsicht durch die Polizei.

Die chinesischen Behörden haben Tibet seit dem Volksaufstand gegen ihre Herrschaft vom März vollständig abgeriegelt. Die bewaffnete Volkspolizei hat nun alle Proteststimmen in Tibet zum Schweigen gebracht. Aber die 42jährige Woeser – deren Name  auf Tibetisch „Lichtstrahlen“ bedeutet – erhebt weiter ihre Stimme, indem sie Aufsätze und Berichte in ihrem Blog veröffentlicht, das auf einem Server im Ausland geführt wird.

Etliche von Woesers Gedichten, die ursprünglich auf Chinesisch verfaßt wurden, sind nun in englischer Übersetzung in einem Buch mit dem Titel „Tibet’s True Heart“, herausgegeben von Ragged Banner Press, erhältlich*. Kompetent ins Englische übersetzt von A. E. Clark zeigen die Gedichte, wie sich Woeser von einem Mitglied der chinesischen Elite zu einer entschiedenen Regimekritikerin entwickelt hat. Ihre Gedichte bilden einen emotionalen Gegenpol zu dem eher nüchternen Tenor ihrer Prosawerke.

Vor vier Jahren verließ Woeser, die bis dahin in Lhasa eine Literaturzeitschrift herausgegeben hatte, ihren Job und ging nach Beijing, weil ihr wegen „politischer Fehler“ in ihren Schriften die „patriotische Umerziehung“ drohte. Daraufhin wurde sie auch offiziell entlassen.

In ihrem Buch „Tibet Journal“ spricht sie von der tiefen Verehrung der Tibeter für den Dalai Lama, den die chinesischen Behörden als einen „Spalter“ beschimpfen, der nach der Unabhängigkeit Tibets strebe. Nachdem sie im Jahre 2006 ein Bild des Dalai Lama, verbunden mit einem Gedicht für sein langes Leben, in ihrem Blog veröffentlichte, wurden ihre Blogs geschlossen.

Woeser führt derzeit einen Prozeß gegen die chinesische Regierung, weil ihr seit drei Jahren wiederholt die Ausstellung eines Passes verweigert wurde. Sie hegt keine Hoffnungen, den Prozeß zu gewinnen, aber wie sie sich AP gegenüber äußerte, benutzt sie die „Gelegenheit, um auf die unfaire Behandlung der Tibeter über all die Jahre hinweg aufmerksam zu machen“.

In ihrem letzten Gedicht „Furcht in Lhasa“ beschreibt sie, wie die allgemeine Angst heute sogar noch größer ist als während der drei schlimmsten Ereignisse der jüngeren Geschichte Tibets, nämlich dem Aufstand in Lhasa vom März 1959, der zur Flucht des Dalai Lama ins Exil führte, der Kulturrevolution und der Verhängung des Kriegsrechts im März 1989. Sie schrieb dieses Gedicht zwei Tage, nachdem sie im August während ihrer kurzen Reise nach Lhasa von der Polizei acht Stunden lang verhört wurde, weil sie Aufnahmen von Polizei- und Armeeposten gemacht hatte. Sie wurde gezwungen, ihre Bilder zulöschen, das Haus ihrer Mutter wurde durchsucht und dort wurden mehrere Dokumente sowie der Computer ihres Mannes Wang Lixiong konfisziert.

„Eiliges Lebewohl an Lhasa,
wo die Angst am Potala beginnt
und sie wächst je weiter man nach Osten
in die Wohnviertel der Tibeter kommt.
Ringsum erzittert alles von Fußtritten,
die Gewalt verkünden,
doch bei Tag haben die, die da gehen,
keinen Schatten.
Wie Dämonen sind sie unsichtbar bei Tag,
Das Entsetzen ist um so schlimmer,
man könnte den Verstand verlieren.
Einige Male gingen sie an mir vorbei
und ich sah die kalten Waffen in ihren Händen“.

Woeser, die von zierlicher Statur und sanfter Stimme ist, sagte in einem 2006 geführten Interview mit Radio Free Asia (RFA), daß sie niemals mit dem Schreiben aufhören würde. „Obwohl meine Blogs geschlossen worden sind, kann mich niemand am Sprechen und Schreiben hindern“.

„Mein Glaube an die Religion und meine Liebe zum Buddhismus brachten mich zum Schreiben. Als ich noch in dem Literaturbüro in Lhasa arbeitete, wurde ich gut bezahlt, aber ich habe mich nie frei gefühlt. Die Tatsache, daß sie mich schließlich hinauswarfen, brachte mir die Freiheit, mich durch mein Schreiben ausdrücken zu können.“

Indem sie die Vergangenheit in ihren Gedichten wachruft, holt sie die Bilder eines alten Tibets zurück, in dem die Berge noch unberührt und die Klöster noch heil waren. Und dann konfrontiert sie uns mit der Realität und mit Chinas offizieller Darstellung der Tibeter als singenden, tanzenden Eingeborenen, die nach Konsumgütern hungern.

In ihrem Gedicht „Die Vergangenheit“ drückt Woeser ihre Sehnsucht nach einem von den Göttern beschützten Tibet mit schneebedeckten Bergen und flatternden Gebetsfahnen aus:

„Die Vergangenheit, die Vergangenheit,
was für eine Vergangenheit!
In der viele Gottheiten
unser Heimatland beschützten,
als die Lamas über unsere Seelen wachten,
als die Mastiffs Wache vor den Zelten hielten.
Doch die Schar der Gottheiten ist entschwunden,
jetzt ist es schon lange her,
daß sie gegangen sind.“

Diejenigen Leser ihrer Gedichte, die mit dem tibetischen Buddhismus nicht vertraut sind, werden manche davon schwer verständlich finden. Es ist gut, daß der Übersetzer A. E. Clark das Buch mit einer 45seitigen Liste von Anmerkungen versehen hat, aus denen man erfährt, wann ein Adler den Dalai Lama symbolisiert oder wann Woeser mit einer sarkastischen Bemerkung einen Seitenhieb auf chinesische Sittenfilme losläßt.

Doch manchmal sind die Gedichte auch erstaunlich direkt. In „Tibet’s Secret“ beschreibt Woeser, wie die Lektüre der Memoiren Palden Gyatsos, eines Mönchs, der 33 Jahre im Gefängnis saß, damit zu vergleichen ist, „zusehen zu müssen, wie die Geschöpfe des Schneelandes von fremden Stiefeln zu Staub zertreten werden.“ In diesem langen Gedicht beschreibt Woeser die fürchterlichen Qualen einer Reihe politischer Häftlinge, darunter der 14 „singenden Nonnen“ von Drapchi, die Lieder über das Leben in der Haft sangen und sie im Gefängnis mit einem Kassettenrekorder heimlich aufnahmen.

Über diese Nonnen, von denen eine im Alter von nur zwölf Jahren festgenommen wurde, schreibt sie: „Ich frage mich nur, wie diese Nonnen, die ja noch Teenager sind, keine Angst in dem Gefängnis haben.“

In ihrem Gedicht „Of Mixed Race“ faßt sie ihre eigene Geschichte zusammen, wie sie von einer Tochter der Elite zu einer Regimekritikerin wurde, die nun ihre Wurzeln wiederentdeckt hat. Sie beschreibt „eine Nacht der Rebellion, die das Ende ihrer Jugend“ markiert und in der „heiße Tränen“ ihre bisherige Einstellung auslöschten.

Im Vorwort zu „Tibet’s true Heart“ gibt A.E. Clark dem Leser nützliches Hintergrundwissen über die Schriftstellerin. Als Tochter eines hochrangigen chinesischen Militärbefehlshabers wurde Woeser beigebracht, daß das alte Tibet „dunkel und rückständig“ gewesen sei und daß die Volksbefreiungsarmee, als sie 1950 nach Tibet kam, der Bevölkerung ein besseres Leben gebracht hätte.

Doch als sie die tibetische Kultur erforschte, fühlte sie sich zum Buddhismus hingezogen, „über den sie in ihrer Kindheit praktisch nichts gewußt hatte“. Sie entdeckte auch, daß Chinas Kulturrevolution, die im Jahr ihrer Geburt ausbrach, viel dazu beitrug, diese Kultur zu zerstören. Sie fand heraus, daß ihr Vater, ein Kommandeur der Volksbefreiungsarmee, insgeheim Buddhist war. Sie erinnert sich daran, wie verblüfft sie war, als sie in den 80er Jahren in ihrem Elternhaus eines Tages ihren Vater in „voller Uniform vor dem Panchen Lama niederknien sah“, dem am meisten verehrten spirituellen Würdenträger, den es damals noch in Tibet gab.

Clark stellt fest, Woeser sei klar geworden, daß „die Reisen, zu denen ihr Vater ihre Mutter angeblich aus gesundheitlichen Gründen gelegentlich mitnahm, stets Pilgerreisen“ gewesen waren.

Als Woeser die tibetische Hauptstadt im letzten Monat eiligst verlassen mußte, schrieb sie ein Gedicht über die erdrückende Militär- und Polizeipräsenz mit dem Titel „Fear in Lhasa“, das einen frösteln läßt. Bei der Veröffentlichung in ihrem Blog fügte sie treffend hinzu: „Ihr habt die Gewehre, ich habe einen Stift“.

* "Tibet's True Heart" -- Selected Poems by Woeser, Translated by A.E. Clark, published by Ragged Banner Press, 2008, kann um $22 über http://www.raggedbanner.com bestellt werden.

Ausführliche Rezension des Gedichtsbandes:

http://www.highpeakspureearth.com/2008/10/romance-revelations-and-revolutions.html