17. September 2008
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Tsering Woeser über die Patriotische Umerziehung in Tibet

Woeser hat diesen Artikel für den tibetischen Dienst von RFA verfaßt. Er wurde am 17. September 2008 in ihrem Blog veröffentlicht.

Tsering Woeser auf dem Dach des Jokhang Tempels in Lhasa

Der „Patriotismus-Unterricht“ ist ein gigantisches Langzeitprojekt. Um seine Geschichte in den von Tibetern bewohnten Regionen zu studieren, muß man bis zur Generation meiner Eltern zurückgehen. Ich besitze ein 1951 in Peking veröffentlichtes Buch über das 17-Punkte-Abkommen. Es ist eine zweisprachige Ausgabe in Chinesisch und Tibetisch mit einem roten Ledereinband. Der erste Satz lautet: „Die tibetische Nationalität ist eine von vielen in China mit einer lange zurückreichenden Geschichte.“ Das war der erste Ansatz zur „Erziehung zum Patriotismus“ in den tibetischen Gebieten, und daraus wurden riesige Wellen, die wieder und wieder über den Geist und das Gemüt von mindestens drei Generationen von Tibetern hinwegfegten.

Die „Erziehung zum Patriotismus“ wurde mit der Zeit weiterentwickelt und richtete sich sukzessive gegen ganz bestimmte Feinde. Als die Volksbefreiungsarmee 1950 zuerst an der Grenze aufmarschierte, wurde die Operation damit begründet, daß Tibet von den „imperialistischen Kräften“, die es angeblich unterdrückten, befreit werden müsse. In dem Buch mit dem roten Ledereinband heißt es auch, „die ehemalige Regierung Tibets hätte im Kampf gegen den betrügerischen und die Abspaltung betreibenden Imperialismus versagt und sich einer unpatriotischen Haltung gegenüber dem großen Mutterland befleißigt“. Nach der Niederschlagung der tibetischen Revolte und der Flucht des Dalai Lama im Jahr 1959 nahm die „Erziehung zum Patriotismus“ dann neue Feinde ins Visier: das „alte Tibet“ und seine Vertreter und die „elitäre Clique der Reaktionäre“ unter der Führung des Dalai Lama. Die mächtige Propagandamaschinerie des kommunistischen China verzerrte das traditionelle Gesellschaftssystem Tibets zur „hochgradig reaktionären, finsteren, anachronistischen, grausamen und barbarischen feudalen Sklavenhaltergesellschaft“, in der es nur zwei Klassen von Tibetern gab: Besitzer von Leibeigenen und Leibeigene. Erstere mußten gestürzt werden, während letztere, so hieß es, nach oben aufgestiegen wären. Alle, die wie ich in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren wurden, kennen dieses Lehrbuch in- und auswendig.

Als dann die 90er Jahre kamen und dem Dalai Lama 1995 die Autorität zur Bestimmung der Reinkarnation des X. Panchen Lama versagt wurde, beschloß der Parteichef Chen Kuiyuan, Chinas „Prokonsul“ in Tibet, „die Erziehung zum Patriotismus in allen Tempeln der Region einzuführen“. Mit dieser Maßnahme verfolgte er vier Ziele:

1. der Dalai Clique die Kontrolle über die Tempel zu entziehen;

2. die Stärkung der Verwaltungsräte der Tempel;

3. die Einführung strenger Regeln zur Beschränkung der Aktivitäten der Tempel, Mönche und Nonnen;

4. die Durchführung eines Programms zur „religiösen“ Erziehung der Mönche und Nonnen.

Der letzte Punkt bezog sich auf ein Dekret von oben, in dem der Aufbau eines Büros für die Kampagne „Liebe Dein Land, liebe Deine Religion“ gefordert wurde. Nach ein paar Jahren der Durchführung als Pilotprogramm wurde es auf breiter Ebene ausgebaut. Zwei Dinge waren es, die die von der Partei in jeden Tempel – ob groß oder klein – entsandten Arbeitsteams von den 46.000 offiziell registrierten Mönchen und Nonnen forderten: daß sie Tibet als „untrennbaren Teil von China“ anerkannten und daß sie den Dalai Lama verurteilten – und zwar

- als Anführer einer separatistischen politischen Clique, die es auf die Unabhängigkeit Tibets abgesehen hat;

- als gefügiges Werkzeug der internationalen antichinesischen Kräfte;

- als die Grundursache für alle Unzufriedenheit in der tibetischen Gesellschaft;

- als das größte Hindernis für die Normalisierung der tibetischen buddhistischen Traditionen.

Nach diesem Muster wurde in den tibetischen Regionen der Provinzen Gansu, Qinghai, Sichuan und Yunnan verfahren, wo es schließlich zu Säuberungsaktionen unterschiedlichen Ausmaßes kam, von denen über 150.000 Mönche und Nonnen betroffen waren. Dennoch leisteten die Mönche und Nonnen in jedem einzelnen Fall, in jedem einzelnen Tempel, Widerstand gegen die „Erziehung zum Patriotismus“. Obwohl die Arbeitsteams ihre Forderungen teilweise auf die vereinfachte Formel „Ich liebe China leidenschaftlich und ich glaube nicht an ihn“ reduzierten, waren zahlreiche Mönche und Nonnen nicht bereit, ihr geistiges Oberhaupt, den Dalai Lama als „ihn“ zu bezeichnen, und noch viel weniger, ihren Glauben zu verleugnen.

Schon seit vielen Jahren hat sich in jedem tibetischen Bezirk, in jedem Kloster aller Schulrichtungen, eine Tragödie nach der anderen abgespielt. In Lhasa kam ein Mönch des Klosters Drepung auf ungeklärte Weise zu Tode. In Serthar im nördlichen Kham wurden die Wohnbereiche des dortigen buddhistischen Lehrinstitutes weitgehend zerstört. Der Karmapa, das Oberhaupt der Kagyü-Schulrichtung sowie Arjia Rinpoche, der Abt des Klosters Kumbum in Amdo, sahen sich einer nach dem anderen gezwungen zu fliehen. Im südlichen Kham wurden Tenzin Delek Rinpoche und zahllose weitere Mönche und Nonnen ungerechtfertigt inhaftiert. Mit den Exzessen der „Erziehung zum Patriotismus“ könnte man mehr als ein Buch füllen.

Nach den Ereignissen vom März dieses Jahres steht die „Erziehung zum Patriotismus“ für alle tibetischen Gebiete ganz oben auf der Agenda. Und diesmal gibt es neben dem täglichen politischen Unterricht und den zugehörigen Prüfungen noch eine neue Forderung an die Mönche und Nonnen in jedem Kloster: Sie müssen die chinesische Nationalflagge hissen. Es ist schwer zu sagen, welche Tragödien und welche Akte des Widerstands dieser ständig zunehmende Druck noch hervorrufen wird.

 

Anmerkungen des Übersetzers ins Englische:

Erziehung zum Patriotismus – Normalerweise wird der chinesische Begriff mit „Patriotische Erziehung“ übersetzt. Allerdings beinhaltet das in der englischen Sprache nur Erziehung im allgemeinen Sinne, die patriotisch eingefärbt ist. Der chinesische Begriff bezeichnet dahingegen ein Programm, dessen einziger Zweck es ist, den Leuten Patriotismus einzutrichtern. Es wurde daher den Begriff „Erziehung zum Patriotismus“ gewählt, weil er der chinesischen Bedeutung näher kommt.

Die tibetischen Regionen – auf chin. zangdi – beziehen sich auf alle Gebiete des traditionellen Tibets, nicht nur die TAR.

Das 17-Punkte-Abkommen – Der offizielle Name dieses 1951 geschlossenen Vertrags ist „Abkommen zwischen der Zentralen Volksregierung und der Lokalregierung von Tibet über die Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets“. Für die meisten Chinesen ist es ein gültiges Vertragswerk, in dem der Status Tibets festgelegt wurde. Die Mehrzahl der Tibeter ist jedoch der Auffassung, daß es unter Zwang zustande kam und von einem tibetischen Regierungsvertreter unterschrieben wurde, der dabei seine Befugnisse überschritten hat. Bemerkenswert an dem Abkommen sind die Bestimmungen über lokale Autonomie und Religionsfreiheit.

46.000 Mönche und Nonnen – dabei handelt es sich um die offiziell genehmigte Zahl lizenzierter oder registrierter Geistlicher in der TAR, die in den 90er Jahren nach dem 3. Arbeitsforum für Tibet festgelegt wurde.

Der mysteriöse Tod eines Mönchs des Klosters Drepung – Ngawang Jangchub, 28, starb im Oktober 2005 nach einer Schulung für patriotische Erziehung. Siehe TCHRD, HRU November 2005: „Verhaftungen und Sitzstreik im Kloster Drepung in Lhasa“, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/HRU/2005/HRU-2005-11.html

Buddhistisches Institut Serthar – Woeser bezieht sich auf die Klostersiedlung Larung Gar in Serthar, wo sich mehrere tausend Mönche und Nonnen niedergelassen hatten, um buddhistische Studien zu betreiben und ein monastisches Leben zu führen. Im Frühjahr 2001 wurden ihre Behausungen zerstört und sie selbst vertrieben. Ausführlicher Bericht, siehe: http://www.igfm-muenchen.de/tibet/TCHRD/2002/Serthar%20Report.html

Tenzin Delek Rinpoche – siehe Bericht von Human Rights Watch über das Leben, das Werk und die Verfolgung von Tenzin Delek Rinpoche. „Trials of a Tibetan Monk“: http://www.hrw.org/reports/2004/china0204/