14. Oktober 2006
Radio Free Asia [RFA]

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Tibeter und Westler berichten über die Todesschüsse an der chinesisch-nepalesischen Grenze

Kathmandu – Mitglieder einer Gruppe von 43 tibetischen Flüchtlingen beschreiben die Schrecken ihrer Flucht unter dem tödlichen Kugelhagel von chinesischen Grenzsoldaten, die mehrere Dutzend weiterer Tibeter in Gewahrsam nahmen. Augenzeugen berichteten dem Tibetischen Dienst von RFA, daß bei dem Grenzzwischenfall, der sich am 30. September in der Nähe des Nangpa-La Passes beim Cho Oyu ereignete, mindestens eine Person getötet und eine weitere angeschossen wurde. Andere sprechen von einer höheren Zahl von Toten. Weitere 36 oder 37 Tibeter wurden festgenommen.

Die Gruppe, die ursprünglich aus etwa 80 Menschen bestand, brach am 30. September/1. Oktober zur Flucht aus dem chinesisch kontrollierten Tibet auf, berichteten Mitglieder der Gruppe – 41 Asylsuchende und zwei Guides –, die schließlich am 10. Oktober in Kathmandu eintraf.

„Als die Chinesen auf uns schossen, bekam ich entsetzliche Angst. Es fällt mir immer noch schwer, darüber zu sprechen, was geschehen ist", sagte ein Mann nach seiner Ankunft im Empfangszentrum für tibetische Flüchtlinge (TRRC) in Kathmandu bei einem Interview. „Alles war so hektisch und chaotisch, ich dachte nur noch daran, am Leben zu bleiben und zu fliehen. Ich war nicht imstande, an etwas anderes zu denken oder den anderen zu helfen. Die Chinesen feuerten wohl 15 Minuten lang auf uns. Ich spürte, wie die Kugeln an meinen Ohren vorbeipfiffen. Wohl fünf Kugeln zischten an mir vorbei, aber glücklicherweise verfehlten sie mich. Ich war in solcher Panik, daß ich mit Händen und Füßen in dem etwa knietiefen Schnee vorwärts kroch."

Der Mann, der ungenannt bleiben möchte, sagte, die Gruppe hätte die Schüsse zuerst für Feuerwerkskörper gehalten, weil viele westliche Bergsteiger in der Gegend unterwegs waren.

„Ich dachte zuerst, sie veranstalteten ein Feuerwerk, aber dann wurde mir klar, daß es Gewehrschüsse waren und etwa 30 oder 40 Salven abgefeuert wurden. In dem Chaos bildeten sich zwei Gruppen. Wir an der Spitze konnten entkommen, während die anderen, mindestens 30 Personen, es nicht schafften."

Tibeter weisen die Behauptung der Chinesen zurück

Mitglieder aus der im TRRC in Kathmandu angekommenen Flüchtlingsgruppe wiesen die Behauptung der Chinesen zurück, daß die Grenztruppen aus Notwehr geschossen hätten. Die offizielle chinesische Nachrichtenagentur Xinhua hatte erklärt, die Tibeter hätten den Befehl stehenzubleiben, ignoriert und dann die Grenzwachen angegriffen. Nach dem Bericht, der einen nicht genannten Beamten zitiert, sind zwei Tibeter bei dem Vorfall verwundet worden und einer von ihnen später an Höhenkrankheit gestorben. Der zweite werde nun medizinisch versorgt.

„Keiner hat mit den chinesischen Soldaten gekämpft. Ich habe doch alles gesehen, ich bin sicher der einzige Tibeter, der alles gesehen hat. Ich warf meinen Rucksack weg und rannte in das Lager der westlichen Bergsteiger“, sagte ein Mann, der sich in einem Toilettenzelt des Lagers versteckt hatte. „Ich verbarg meine anderen Sachen hinter dem Zelt, setzte eine Mütze auf und stellte mich mitten unter die westlichen Bergsteiger. Ich sah, wie chinesische Soldaten auf die Tibeter feuerten. Alle rannten so schnell sie konnten durch den Schnee, kein einziger versuchte zurückzuschießen.“

„Um zurückzuschießen, hätten wir Waffen gebraucht, aber wir hatten doch keine. Wir hatten den chinesischen Soldaten, die bewaffnet waren, nichts entgegenzuhalten“, sagte ein anderer, der ebenso wie die übrigen befragten Tibeter anonym bleiben möchte. „Wir hatten nur unsere Hände und Fäuste. Wir hatten keine Möglichkeit, uns gegen die gut bewaffneten Soldaten zu verteidigen.“

Eine Tibeterin aus der Gruppe meinte: „Keiner kämpfte mit den chinesischen Solodaten. Ich sah keine Tibeter, die sich gewehrt hätten. Das war nicht möglich.“

„Wir rannten und versuchten, so schnell wir konnten zu entkommen“, sagte ein vierter Interviewpartner. „Die chinesischen Soldaten schossen von hinten auf uns. Wir hatten keine Chance, uns zu wehren.“

Ein weiterer Tibeter, der sich zwei Nächte lang in den Bergen versteckt hatte, ehe er die Grenze nach Nepal überquerte, sagte: „Ich sah ein kleines Kind… und noch einen kleinen Jungen, der am Fuß getroffen worden war und einen alten Mann. Bis zum späten Nachmittag wurden sie in der Gegend festgehalten, dann brachte die chinesische Polizei sie weg.“

„Diejenigen, die später flohen, sahen den Körper der Nonne, die erschossen worden war. Es war die 17 Jahre alte Kalsang Namtso aus dem Kreis Driru in der Präfektur Nagchu (chin. Biru Xian). Sie gaben einem Yak-Hirten vor Ort 100 Yuan und baten ihn, die Leiche wegzubringen, aber später hörten wir, daß er es nicht getan hat. Wir wissen nicht, was danach geschah“, sagte der zweite Mann.

Bericht der Westler

Ein westlicher Bergsteiger, der den Vorfall miterlebt hatte, berichtete dem Tibetischen Dienst von RFA, zwei andere Bergsteiger aus seiner Gruppe seien von der chinesischen Botschaft in Nepal kontaktiert und zu einem Gespräch in die Vertretung gebeten worden. „Inzwischen haben sie jedoch Nepal verlassen, ohne der Aufforderung Folge zu leisten“, fügte er hinzu.

„Wir hörten fünf Schüsse, ganz schnell hintereinander“, sagte der Bergsteiger. „Dann sahen wir eine Reihe von Flüchtlingen, die den Berg hinaufstiegen, und hinter ihnen offensichtlich chinesische Soldaten mit Gewehren.“

Tibeter, die als Köche in dem Basislager arbeiteten, hätten berichtet, sieben Personen seien getötet und ihre Leichen in Gletscherspalten geworfen worden, so der Bergsteiger weiter. Diese Information konnte nicht bestätigt werden.

Aussagen von Ortansässigen in Nepal

Ansässige der Bergregion von Solokhumbu auf der nepalesischen Seite der Grenze bestätigten, daß die Schießerei stattgefunden hat. „Eine Gruppe von etwa 77 Tibetern war auf der Flucht, und am 30. September schoß die chinesische Polizei auf sie“, sagte einer von ihnen.

„Vierzig konnten entkommen und etwa 37 wurden von der chinesischen Polizei festgenommen. Von diesen wurden sieben entweder verletzt oder getötet. Am 1. Oktober überquerten weitere drei Tibeter denselben Paß, und auch auf sie schossen die Chinesen, aber sie konnten unverletzt entkommen. Es waren etwa acht bis neun bewaffnete chinesische Polizisten, die auf die fliehenden Tibeter schossen.“

Der Ortsbewohner sagte, die Flucht über die Berge würde immer gefährlicher, weil die bisherigen tibetischen Grenzsoldaten nach und nach durch Han-Chinesen ersetzt würden.

„Die Chinesen rekrutieren Einheimische, um die Flüchtlinge zu bespitzeln und sie zu denunzieren. Die Spitzel in dieser Gegend bekommen 300 Yuan pro Monat und außerdem einen Bonus, wenn sie tibetische Flüchtlinge aufspüren und anzeigen.“ fügte er hinzu.

Ein Beamter im Amt für Außenbeziehungen der Autonomen Region Tibet [TAR], der vom Chinesischen (Mandarin) Dienst von RFA kontaktiert wurde, lehnte eine Stellungnahme zu dem Vorfall ab: „Über diese Angelegenheit herrscht Unklarheit. Wir wissen nichts darüber. Ich habe nichts davon gehört. Ich kann Ihnen keine Auskunft geben.“ Dann legte er auf.

Telefonanrufe des Kantonesischen Dienstes von RFA bei der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten der Tibetischen Regierung-im-Exil in Dharamsala blieben ebenso unbeantwortet wie die bei der chinesischen Botschaft in Nepal.

In den letzten Jahren riskierten Tausende von Tibetern den illegalen Grenzübertritt nach Nepal und Indien auf der Suche nach besseren Bildungsmöglichkeiten und religiöser Freiheit. Viele von ihnen bleiben in Dharamsala, einer Stadt in Nordindien, wo ihr Oberhaupt, der Dalai Lama, nach einem fehlgeschlagenen Aufstand gegen die chinesische Herrschaft seit 1959 im Exil lebt. Über 20.000 tibetische Flüchtlinge leben gegenwärtig in Nepal; alle Neuankömmlinge jedoch müssen jetzt in das benachbarte Indien weiterreisen.

Originalbericht des Tibetischen Dienstes von RFA. Direktor: Jigme Ngapo. Übersetzung und Redaktion: Karma Dorjee. Zusätzliche Berichterstattung: Lillian Cheung vom Kantonesischen und Xin Yu und Xi Wang vom Chinesischen (Mandarin) Dienst von RFA, sowie Richard Finney. Produktion (engl.): Luisetta Mudie. Redaktion (engl.): Sarah Jackson-Han.