27. Oktober 2008
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Ein Hilferuf aus Tibet

Der folgende Artikel ist von Alexandra Khan, einer amerikanischen Umweltschützerin, die sich kurze Zeit nach dem März-Aufstand in Tibet aufhielt. Nach den von Militär und Polizei gewaltsam niedergeschlagenen Unruhen wurden nur noch ganz wenige Ausländer nach Tibet hineingelassen.

Dieser Artikel ist einer der seltenen Berichte über die Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Menschen in Tibet. Die darin vorkommenden Personen werden nicht namentlich genannt, um sie vor den möglichen Folgen der Veröffentlichung des Berichtes zu schützen.

Ein Hilferuf aus dem tibetischen Hochland

Ein fahler Himmel lag schwer über der herrlichen Landschaft, die Atmosphäre war bedrohlich. Bewaffnete Polizisten in schwarzen Uniformen, Soldaten in grünen Militäruniformen und Beamte in Zivil sorgten für Totenstille. Es waren Verordnungen erlassen worden, die Mönche waren gewarnt worden, daß sich diejenigen, die an den friedlichen Demonstrationen teilgenommen hatten, freiwillig bei der Polizei zu melden haben, anderenfalls... Dieses Anderenfalls rief tiefe Angst hervor, wohin wir uns auch wandten. Nun warteten alle, an dem Abend, so hieß es, würde die Polizei nach Tongren [Rebkong in der TAP Malho, Qinghai] kommen.

Die panische Angst, die einen jungen Mönch erfüllte, gab uns einen Stich ins Herz. Er erklärte uns, er sei bereit zu sterben, wenn nur diese Unterdrückung und die totale Unfreiheit aufhören würden. Während wir uns mit ihm unterhielten, standen wir bei dem Altar in der großen Gebetshalle; hinter uns ein großes Portrait Seiner Heiligkeit des Dalai Lama. Es gibt niemanden auf dem tibetischen Hochland, der nicht wüßte, wie gefährlich es ist, ein solches zu besitzen, doch dort stand es – der stille Protest dieses Mönches. Wir bekamen eine kleine Ahnung von dem ungeheuren Mut der Mönche, ihrer abgrundtiefen Verzweiflung nach 49 Jahren, in denen ihnen die Chinesen befohlen haben, was sie lernen dürfen, wann sie das dürfen und ob sie überhaupt etwas lernen dürfen, und ob es ihren Lehrern erlaubt ist, zu unterrichten. 49 Jahre, in denen die Han-Chinesen nun schon in das Land strömen, die tibetischen Dörfer überrennen, sie in moderne chinesische Städte mit Hochhäusern und ihre Weidegebiete in von Chinesen bestellte Äcker verwandeln. Doch jetzt lehnen die Mönche es ab, weiterhin in Furcht und Schrecken zu leben.

Auf der Veranda vor der großen Halle warf sich eine Frau unentwegt nieder. Junge Novizen spielten auf der Straße Ball, ältere Mönche schlenderten von einem Laden zum nächsten. Die Atmosphäre war so unheilgeschwängert, daß man nach Atem ringen mußte. Junge grünuniformierte Soldaten standen mit ihren schwarzen Gewehren mit den dicken Läufen im Anschlag Wache, bevor ein Militärfahrzeug vor dem Büro des Staatsanwaltes parkte. Die Auswirkungen waren überall spürbar. Der Schrecken wurde nicht angedroht, er war Realität.

Von Kloster zu Kloster, von einer Stadt zur anderen fuhren wir Hunderte von Meilen auf unasphaltierten Straßen, und überall dieselbe Geschichte, dieselbe gespenstige Stille, die Wörter bleiben im Halse stecken.

Als wir in Labrang eintrafen, boten die goldenen Dächer des Klosters sogar unter dem bedeckten Himmel einen wunderschönen Anblick. Doch die wenigen Mönche und die Einwohner schienen ungewohnt distanziert. Es fehlte die übliche freundliche Begrüßung, die liebenswürdig entgegengestreckten Hände, das Miteinanderreden und das gemeinsame Teetrinken. Die Menschen, die uns auf der Straße begegneten, schlugen ihre Augen nieder; und wenn man in diese Augen blickte, so waren es Augen voller seelischer Qual. Als wir einmal in einen kleinen Laden eingetreten waren, weg von der überall gegenwärtigen Polizei und den Beamten in Zivil, konnten die Mönche und Ladenbesitzer ihre Hilflosigkeit und ihr Entsetzen nicht mehr unterdrücken – ihre Verzweiflung über die fortgesetzte brutale Repression.

Eine junge Ladenbesitzerin machte eine stumme Pantomime des gewaltsamen Tretens, Schlagens und Schießens, als eine Phalanx junger chinesischer Soldaten in ihren steifen grünen Uniformen auf der Hauptstraße im Gleichschritt vorbeimarschierte. „Das ist es, was sie tun“, flüsterte sie, während ihr Mann die bereits ordentlichen Regale immer wieder aufräumte und sie leise mahnte, den Mund zu halten. Im Schatten des Geschäftes umarmte ich diese Frau, die vor Entsetzen zitterte und nur mit Mühe ihre Gefühle im Zaum hielt, weil sie die Mönche und die anderen friedlichen Demonstranten nicht hatte beschützen können.

Nach der offiziellen Führung durch das Kloster kehrte ich zu dem Tempel zurück, wo ein befreundeter Tibeter einst Ökonom war, und fragte nach ihm. Der junge Mönch wußte gleich, wen ich meinte und führte uns zu seinem Zimmer. Meine Freunde warteten draußen, während ich durch zwei weitere Türen geführt wurde. In Zimmer saß Gen-La an seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf ein kleines Stück Papier. Ich wartete, ob er aufblicken würde, meine Freude darüber, ihn wohlbehalten wiederzusehen, ließ mich jedoch in einen Schwall von Begrüßungen ausbrechen und schließlich fragte ich ihn, ob er sich an mich erinnerte. Der junge Mönch, der bei ihm saß und Schnürchen um Amulette wickelte, erklärte mir, daß sich Gen-La in Klausur befände und daß er bis zu deren Beendigung nur murmeln könne. Als er mit dem Schreiben fertig war, wandte sich Gen-La zu mir und gab mir ein sorgsam geschriebenes Zettelchen: „Komm heute Abend um acht oder morgen am Nachmittag“. Dann würde er sprechen können. Ich ergriff seine Hände, legte sie auf meinen Kopf, nahm den Zettel und verließ widerwillig den Raum.

18 Jahre waren seit unserer letzten Begegnung vergangen. Als Antwort darauf, ob er sich noch an mich erinnere, hatte er meinen Namen auf ein weiteres sorgfältig abgerissenes Stückchen Papier geschrieben. 18 Jahre waren wie fortgeblasen, doch die Türen schlossen sich wieder.

Draußen sprachen wir mit dem jungen Mönch. Er erzählte uns, daß die Polizei seinen 31jährigen Bruder mitgenommen habe – ein weiterer Tibeter auf der Liste der Verschwundenen und ängstlich Zurückerwarteten. Er erzählte von der Festnahme von sieben Mönchen des Klosters vor einigen Tagen; über ihren Verbleib sei nichts bekannt. Er berichtete von vier Männern, die in einem der Nachbardörfer friedlich demonstriert hatten. Als die Polizei sie jagte, um sie festzunehmen, stießen sie sich ihre Messer ins Herz, um der sicheren Folter und in den Händen der Chinesen zu entgehen. Besorgt über die möglichen Konsequenzen unseres Besuches und aus Sorge um die Mönche schlug ich vor, zu gehen. Der Mönch antwortete, die Journalistin möge zunächst ihre Fragen stellen. Ich fragte, ob ich Gen-La wirklich am nächsten Tag besuchen könnte. Würde das nicht gefährlich sein? „Sehr gefährlich“, erwiderte der Mönch, „Sie entscheiden selbst. Wir sind hier.“ Es ist der Mut der Verzweiflung.

Als ich am nächsten Morgen alleine auf dem Weg in die alte Wohngegend der Stadt war, kamen mir zwei Polizeiautos entgegen. Ich wandte mich um und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon, doch ich wurde verfolgt und später angehalten. Sie verlangten meinen Paß, den sie auf der Stelle einscannten. Weil sie kein Englisch sprachen, gaben sie mir ihr Mobiltelefon, damit ich mit Nicholas sprechen sollte, der mir mitteilte, er wolle mich später sehen. Dann fragte er nach meinen Reisebegleitern. Ich wollte ihre Identität nicht preisgeben und antwortete nicht, sondern gab das Telefon einfach zurück.

Verdutzt über diese Begegnung mit der Polizei setzte ich mich in eine Ecke und beobachtete die Menschen, die die Kora entlanggingen und Gebete murmelten. Hände streckten sich mir entgegen und ich wurde eingeladen, mit ihnen zu gehen. Ein alter Mann blieb stehen, blickte mir in die Augen und sagte „Thug Je Che“ [Danke].

Zurück in unserem Hotel packten wir schnell unsere Sachen und beluden unser draußen wartendes Fahrzeug. Doch kurz nachdem wir LuQu verließen, hatte die Polizei eine Straßenblockade errichtet. Unsere Papiere wurden uns abgenommen. Wir warteten zwei Stunden lang am Straßenrand unter Bewachung. Als sie schließlich zurückkamen, zwangen sie uns zusammen mit fünf Beamten in Zivil, die angeblich vom „Reisebüro“ waren, in ein Polizeiauto zu steigen. Mir fiel auf, daß der Beamte, der vorgab, kein Englisch zu verstehen, unserer Unterhaltung aufmerksam folgte; später redete er uns sogar auf Englisch an.

Als ich in diesem Fahrzeug saß – gefaßt auf stundenlange Verhöre oder sogar noch Schlimmeres – konnte ich mich das zweite Mal auf dieser ganzen Reise ein wenig entspannen; das erste Mal war, als ich meinen Reisebegleiter traf, den Chef des China-Ressorts einer der größten Zeitungen der Welt. Die auf der ganzen bisherigen Reise vorhandene Anspannung, hervorgerufen durch die ständige Präsenz von Gewalt im Hintergrund, die überwältigende Anzahl von Polizisten und bewaffnetem Militär und die schweigende Beobachtung durch verdeckt agierende Spitzel war plötzlich nicht mehr da.

Das einzige, was die Stille durchbrach, war die Bemerkung meines ruhigen, aber mutigen Begleiters: „Aha, sie bringen uns an einen abgelegenen Ort.“ Dann kam der beruhigende Gedanke: Wir sind nun wirklich mit dem Volk, die Regierung hat uns freundlicherweise mit einbezogen. Oh, wenn nur unsere Einbeziehung dazu verhelfen könnte, die Lage so zu verändern, daß das Militär endlich das Hochplateau verließe. Wenn nur die Stimme des Volkes gehört, wenn nur die erdrückende Immigration gestoppt werden könnte, bevor es zu spät ist. Wenn nur dieser reichen Kultur eine Chance zum Atmen gegeben würde, damit sie als eine wirkliche Kultur überlebt und nicht nur als Touristenattraktion.

Als unser Wagen die Autobahn verlassen hatte und staubige Landstraßen entlangfuhr, sahen wir vor uns am Ende der Straße etwas, das zunächst wie ein Regierungsgebäude mit Schranken aussah, doch dann machte der Fahrer eine 90 Grad-Wendung und fuhr weiter. Nur eine Abkürzung.

Drei Stunden später hielt der Wagen vor einem großen Hotel in Linxia. Sie halfen uns beim Aussteigen und sagten, wir müßten für die Nacht dableiben, morgen würden sie uns nach Lanzhou begleiten. Wir erklärten ihnen, daß wir nicht die Absicht hätten, in diesem Hotel zu übernachten und gleich unsere Reise nach Lanzhou fortsetzen würden; und wir taten es auch. Nachdem so die Hälfte unserer Reise gestrichen worden war, kamen wir schließlich nach einer gefährlichen Fahrt in der Dunkelheit über ausgewaschene, von Felsblöcken übersäte Straßen an dem Punkt an, von dem aus wir gestartet waren.

Am nächsten Morgen waren wir nach einem reichlichen chinesischen Frühstück wieder auf der Straße und fuhren nach Pingan (dem Geburtsort des gegenwärtigen Dalai Lama), Tongren und Ledu. Tongren (tib. Rebkong), das in der TAP Huangnan (tib. Malho) liegt, bereitete den Behörden bereits am 21. Februar, also noch vor den Unruhen in Lhasa am 14. März, Kopfzerbrechen, weil die dortigen Mönche mit der Polizei zusammengestoßen waren. Als wir im April dort eintrafen, war uns klar, daß es bald wieder zu unangenehmen Zwischenfällen kommen würde. Angst und Schrecken waren mit Händen greifbar, Soldaten und Polizei waren überall. Mönche, denen das Entsetzen im Gesicht geschrieben stand, rechneten damit, daß das Militär noch am selben Abend eintreffen werde. Das Beste was sie sich erhofften war, daß ihr Tod den Weg zur Freiheit für Tibet bahnen könnte.

Nachdem wir diesen Horror hinter uns gelassen hatten, fuhren wir mit unserem Geländewagen zum Geburtsort des Dalai Lama - Takster. Da es keinerlei Schilder gab, mußten wir an jeder Kreuzung anhalten und die Hui-Dörfler nach dem Weg fragen. Sie wiesen uns bereitwillig die Richtung und beruhigten uns, „daß wir den Weg leicht finden werden, weil jeder wisse, wo dieser Ort ist“. Nachdem wir, wie es schien, Stunden auf schmalen und unasphaltierten und aufgerissenen Straßen gefahren waren, kroch unser Wagen langsam aufwärts. Schließlich endete die Straße in einen schmalen Weg. Ortsansässige erklärten uns, es sei nur eine kurze Strecke zu Fuß den Hügel hinauf, wir würden das Haus dann sehen. Das erste und einzige Zeichen, daß wir uns in einem tibetischen Dorf befanden, waren die zwei großen roten Eingangstüren, deren glänzende Messinggriffe mit Hunderten von Kathas umwickelt waren. Aber sie waren fest verschlossen. An jeder Seite des Tores hingen, sowohl auf Tibetisch als auch auf Chinesisch, Anschläge der Justizbehörden der Provinz, die das Datum 2. April 2008 trugen und besagten, daß die Behörden jegliche „zerstörerische gegen die Regierung gerichtete Aktivität“ und die Reproduktion oder Verteilung von Bildern des Dalai Lama verbiete. Jeder, der den Behörden Hinweise auf derartige Aktivitäten gebe, werde angemessen belohnt.

Wir gingen um das Haus herum und klopften an. Eine Frau mittleren Alters öffnete knarrend die Tür und sagte, sie werde ihren Mann rufen. Als dieser erschien, erzählten seine matten angsterfüllten Augen die Geschichte der Familie. „Wir können Ihnen im Moment nicht helfen, wir bitten Sie sofort zu gehen“, war alles, was er sagte. Nachbarn zufolge hat uns die Polizei um ein Haar verpaßt. Die Straße zu dem Haus war offensichtlich seit dem Tag, als die Unruhen ausbrachen, gesperrt. Das sind also die Nachrichten aus Takster.

Nachdem wir uns in Xining ordentlich ausgeschlafen hatten, machten wir uns am nächsten Tag auf den Weg zum Kloster Kumbum. Wir waren überrascht, die Straße zum Kloster völlig offen vorzufinden. Als wir näher kamen, gab es zwar Absperrungen, und als wir uns nach der Richtung erkundigten, kam eine junge Chinesin und erklärte, sie sei eine Fremdenführerin und wenn wir mit ihr gingen, kämen wir leicht in das Kloster hinein. Sie stieg ein und dirigierte uns zu einem Parkplatz. Dann brachte sie uns zum Schalter für die Eintrittskarten und führte uns anschließend herum, wobei sie fortwährend sehr laut redete. Sie sei halb Chinesin halb Tibeterin, aber eigentlich sei sie ja eine Han-Chinesin. Und wirklich gab es nichts an ihrem Benehmen, daß uns daran hätte zweifeln lassen.

Wir sahen viele wunderschöne Tempel, aber nur wenige Mönche. Es war klar, daß wir sie nicht anreden durften. Als wir uns dem letzten Tempel näherten, fragte ich, ob wir mit einem Mönch sprechen könnten; schließlich sei dies ja ein Kloster. Sie brachte sie uns an einen Ort, wo wir Kathas kaufen konnten und stellte uns danach einem Mönch vor, der nur als „staatlicher Vorzeige-Lama“ bezeichnet werden kann. Er sagte uns, er würde Gegenstände segnen, falls wir es wünschten. Obwohl es so ein bedeutendes Kloster ist, mutete alles sehr gekünstelt und arrangiert an: Legt euer Geld hin und laßt eure geknoteten Schnürchen segnen; bietet Kathas dar und ihr bekommt einen Lama, der etwas rezitiert; doch stellt keine Fragen, denn der Mönch steht unter ständiger Überwachung. Wie der Lama es mir auf dem Weg nach draußen erklärte, er darf schlicht gar nichts sagen.

Dieses ganze prächtig renovierte Kloster machte den Eindruck eines Museums. In der Tat, die wiedereingeführte „patriotische Erziehung“ gibt den Ton an in diesem Kloster, im Einklang mit den Bannern, die die Stabilität preisen.

Als wir hinausfuhren, sprang ein Mönch, ebenfalls ein Besucher, der die ganze Zeit mit uns gegangen war, ins Auto und fragte, ob wir ihn nach Xining mitnehmen könnten. Auf der Fahrt erzählte er uns, daß es zwar in seinem Kloster derzeit keine Probleme gäbe, aber einige Fahrstunden weiter am Kokonor hätte soeben der Unterricht in der „patriotischen Erziehung“ begonnen und den Mönchen seien schwere Einschränkungen auferlegt worden.

Als wir Xining wieder verließen, sahen wir vor Rebkong am Straßenrand einen Checkpoint, mit einem Schild nach Jianzhan zur Lama Dechen Gompa. Die Passanten mußten hier nicht nur ihre Ausweise zeigen, sondern auch unterschreiben, daß sie eingetreten waren.

Der Preis, den die Aufrechterhaltung der Stabilität kostet, ist eindeutig sehr hoch. Seit Mitte März dieses Jahres zeigt das staatliche Fernsehen immer wieder dieselben paar Bilder. Das Land wird einer 24stündigen Propaganda ausgesetzt, in der die Tibeter für ihre Undankbarkeit gegenüber dem Staat verächtlich gemacht und ihr Aufbegehren gegen die unerträgliche Repression als „ethnischer Konflikt“ dargestellt werden.

Als ich nach meiner Rückkehr am Flugplatz in Detroit saß, hörte ich hochgebildete Auslands-Chinesen, die zu Besuch gekommen waren, diese Anschuldigungen wiederholen. Es ist nicht auszuschließen, daß der durch eine solche Propaganda aufgebaute Haß einmal außer Kontrolle gerät.

Was die Tibeter betrifft, so hat diese brutale Gewaltanwendung zur Erzielung von „Stabilität“ oder zumindest von Ruhe ihr Leben mit Verzweiflung und Verlusten durchtränkt: dem Verlust von Familienmitgliedern, dem Verlust von Land, dem Verlust ihrer Kultur, dem Verlust von lebenswichtigen monastischen Einrichtungen, dem Verlust der Unversehrtheit der Natur, dem Verlust von Freiheit in jeder Hinsicht. Und ihre größten Städte haben die Tibeter sowieso schon längst an den überwältigenden Zustrom von Han-Chinesen abtreten müssen. Und selbst die kleineren Städte werden eine nach der anderen mit mehrstöckigen chinesischen Wohnblöcken überzogen und wichtige tibetische Institutionen sind nun eingekesselt von einem dichten Gürtel aus neu errichteten Han-Häusern, was der Erhaltung der Stabilität sehr dienlich ist, weil sie niemand mehr betreten oder verlassen kann, ohne nicht zuerst diesen han-chinesischen Gürtel passiert zu haben.

Wir müssen nach Tibet reisen, um Zeuge all dessen zu werden, aber nicht in Zeiten des Friedens, sondern in diesen Zeiten des mutigen Aufbegehrens. Wir müssen dorthin gehen, wo es Probleme gibt, wo diese Restriktionen am heftigsten sind. Und das Wichtigste ist, daß wir anderen vermitteln, wie wir die Chinesen erlebt haben.

Während meiner Reise wurde mir immer wieder bewußt, daß wir, bei all unserer Freiheit, unseren eigenen Regierungen großzügig erlauben, diesem totalitären Regime immer ähnlicher zu werden. Vielleicht ist es nun an der Zeit, daß wir uns ernsthaft überlegen, in welche Richtung wir uns bewegen, und es den mutigen Dissidenten Chinas gleichtun, indem wir solches in unseren eigenen Ländern zurückweisen und bloßstellen.