17. Juni 2008
Human Rights Watch

Quelle: http://www.hrw.org/english/docs/2008/06/17/china19142.htm


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Der Fackellauf durch Lhasa - ein Schandfleck für die Olympische Bewegung

Die Nachrichtenblockade straft die angebliche „Rückkehr zur Normalität“ Lügen

New York, 17. Juni 2008 - Die chinesische Regierung und das IOC riskieren, der Olympischen Bewegung ihren Glanz zu nehmen, indem sie die Fackel durch die tibetische Hauptstadt tragen lassen, wo sie vermutlich am 21. Juni eintreffen soll. Seit dem Beginn der Proteste Mitte März dürfen keine ausländischen Medien und unabhängigen Beobachter mehr Lhasa betreten.

Die Proteste, die mit den friedlichen Demonstrationen buddhistischer Mönche am 10. März begannen, arteten am 14. März, als die Polizei dazu überging, die Mönche und andere Tibeter festzunehmen, in gewaltsame Ausschreitungen aus. Einige Tibeter griffen daraufhin die Läden und den Besitz von Han-Chinesen an, aber die Polizei schritt sonderbarerweise nicht ein, um die Gewalttätigkeit einzudämmen. Die Regierung riegelte statt dessen Lhasa ab und unterdrückte weitere Unruhen durch den Einsatz großer Kontingente an Truppen, die Festnahme von Hunderten, möglicherweise Tausenden von Menschen und die intensive polizeiliche Überwachung der Tibeter. So konnten weitere Demonstrationen verhindert werden. Am 18. März erklärte die Zentralregierung in Peking, dass Lhasa zur „Normalität“ zurückgekehrt sei und die Stadt bald wieder für ausländische Besucher geöffnet würde.

„Die Lage in Lhasa ist aber alles andere als normal“, sagte Sophie Richardson, die Asien-Referentin von Human Rights Watch. „Die Behörden befürchten, daß die Tibeter wieder Protestaktionen starten könnten, und die Tibeter selbst leben in der ständigen Angst, jederzeit aus irgendeinem Grunde festgenommen werden zu können. Tibet für Propagandazwecke wie den olympischen Fackellauf zu missbrauchen und es gleichzeitig für ausländische Beobachter dicht zu machen, ist nicht hinnehmbar und rücksichtslos.“

Im Gefolge der Proteste vom März hat die chinesische Regierung die wiederholt geäußerte Bitte um eine unabhängige internationale Untersuchung der Proteste und ihrer Auswirkungen abgeschlagen. Als Antwort auf die weltweite Verurteilung der Gewaltanwendung vom März erlaubte sie schließlich Ende März, fünfzehn Diplomaten Lhasa zu besuchen, aber sie ließ nicht zu, dass diese ungehindert mit Tibetern sprachen, die Inhaftierten aufsuchten oder sich ein Bild vom Verlauf der Proteste machten. Anfang April trat die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Louise Arbour mit der Bitte an die Regierung heran, Tibet zu besuchen, doch auch ihr Antrag wurde mit der Begründung, der Zeitpunkt sei ungünstig, abgelehnt. Ein separater gemeinsamer Appell von sechs UN-Sonderberichterstattern an die chinesische Regierung, ihnen „ungehinderten Zugang“ nach Tibet zu gewähren, wurde ebenso zurückgewiesen. Dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes, dessen Aufgabe es ist, Hafteinrichtungen auf der ganzen Welt aufzusuchen und die Situation der Häftlinge zu überprüfen, wurde noch nie erlaubt, in China seiner Arbeit nachzugehen.

Zusätzlich wurde der Zugang der Medien nach Tibet dramatisch eingeschränkt. Um die internationale Kritik zu entkräften, gab die chinesische Regierung vom 26.-27. März, dann vom 9.-10. April und noch einmal vom 3.-5. Juni ausländischen Journalisten die Gelegenheit, Lhasa zu besuchen. Aber auch diese Medienvertreter waren in ihrer Bewegungsfreiheit derart eingeschränkt und wurden so streng überwacht, dass sie die allgemeine Besorgnis über die Lage in Lhasa nicht zerstreuen konnten. Mönche stahlen der Regierung bei zwei dieser Besuche die Show, indem sie vor den Medienvertretern über den Mangel an Freiheit in Tibet klagten. Bei dem jüngsten Besuch berichteten chinesische Bewohner der Stadt den Korrespondenten, wie die Polizei auf die Demonstranten in Lhasa geschossen hat.

Internationalen Medien und ausländischen Besuchern den Zugang nach Tibet zu verbieten, ist nur ein Aspekt der umfassenden Maßnahmen der Regierung, um Tibet einer totalen Nachrichten-Blockade zu unterwerfen. Andere Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Tibeter über die jüngsten Ereignisse Informationen weitergeben, sind:

  • Die Anwendung von Staatssicherheitsgesetzen, um Berichte über Menschenrechtsverletzung zu verbieten, weil sie die „nationale Sicherheit beeinträchtigen“;
  • Die systematisch wiederholte Drohung, dass Bürger, die Informationen über die Lage in ihrer Gegend an ihre Verwandten, Freunde und Journalisten im Ausland weitergeben, verhaftet werden;
  • Die willkürliche Festnahme von Personen und ihre Freilassung nach gewisser Zeit auf der Basis von willkürlich erhobenen Bußgeldern und mit der Verpflichtung, Stillschweigen über die Ereignisse zu bewahren.

Wie Human Rights Watch dokumentierte, wurde die Bewegungsfreiheit der Tibeter zusätzlich durch folgende Maßnahmen zunehmend eingeschränkt.

  • Die Wiedereinführung von Bestimmungen, die erfordern, dass Tibeter eine Reiseerlaubnis haben müssen, um das Gebiet verlassen zu können, in dem sie registriert sind, und die Einrichtung von Checkpoints zu deren Durchsetzung.
  • Das Verbot jeglicher Besuche von Ausländern in Tibet, einschließlich der Touristengruppen.
  • Der Einsatz von Grenztruppen, um die Tibeter an der Flucht nach Nepal zu hindern;
  • Und der Einsatz von bewaffneter Polizei, um den Zugang zu Klöstern zu verhindern, wo Protestaktionen stattgefunden hatten.

Die Nachrichtenübermittlung wurde durch folgende Methoden eingeschränkt:

  • Das systematische Abhören von Anrufen aus Tibet nach außen, oftmals durch die Telefonzentralen, sowie der internationalen und nationalen Telekommunikation, damit keine Nachrichten übermittelt werden können;
  • Die Blockierung und Zensur des Internets und von Diskussionen über Tibet per E-mail;
  • Die verstärkte Störung von ausländischen Radiosendungen auf Tibetisch;
  • Die Konfiszierung von Mobiltelefonen, Photoapparaten, Faxgeräten, Satelliten-TV-Empfängern und Computern durch die Polizei in den Klöstern.

Die chinesischen Behörden haben außerdem die bekannte in Peking lebende tibetische Schriftstellerin Woeser unter Hausarrest gestellt (siehe: http://hrw.org/english/docs/2006/10/09/china14364.htm) und nicht zugelassen, dass chinesische Rechtsanwälte, die dazu bereit waren, tibetische Demonstranten vor Gericht verteidigen (siehe: http://www.hrw.org/english/docs/2008/05/29/china18970.htm).

Human Rights Watch erklärte, für jede Regierung sei es rechtens, Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und Randalierer strafrechtlich zu verfolgen. Doch die zahlreichen glaubwürdigen Human Rights Watch zugegangenen Berichte lassen darauf schließen, dass die Repression in Tibet in einem Ausmaß und einer Intensität erfolgte, die den Anschein erweckt, als ob die Behörden die Proteste im März als eine Gelegenheit wahrnahmen, um die Tibeter gänzlich zu entrechten. Die Behörden haben eine beträchtliche Anzahl von Sicherheitskräften eingesetzt, keinen Unterschied zwischen gewalttätigen und friedlichen Demonstranten gemacht und die religiöse Repression in den Klöstern drastisch verschärft.

„Aus all dem ergibt sich das Bild eines äußerst brutalen Vorgehens gegen alles, was irgendwie als Dissens wahrgenommen werden kann, sowie des weitgehend erfolgreichen Versuches, den Informationsfluss über die Ereignisse in Tibet zur Außenwelt zu unterbinden“, fügte Sophie Richardson hinzu.

Trotz dieser Restriktionen und der angespannten Lage in Lhasa will die chinesische Regierung die Olympische Fackel am 21. Juni durch die Stadt tragen lassen. Die Behörden drohten an, dass sie Tibeter, die versuchten, den Fackellauf zu „sabotieren“, „hart bestrafen“ und keine „Nachsicht üben“ würden. Am 1. Juni wurden Polizeitruppen nach Lhasa entsandt und mehrere Tausend zusätzlicher Soldaten trafen diese Woche ein. Am 3. Juni räumte die Regierung die Möglichkeit weiterer unspezifizierter Zwischenfälle in Lhasa ein und am 16. Juni verschob sie plötzlich das Datum für die Ankunft der Fackel, nannte aber weder einen Grund dafür noch gab sie einen genauen Zeitplan an.

Das IOC, das zu den umstrittenen Aspekten der Route der Fackel kontinuierlich und hartnäckig schweigt, ging so weit, unter seinen Mitgliedern eine interne Mitteilung zu verbreiten, in der steht, was sie zu sagen haben, falls es während der Zeremonien in Lhasa zu Opfern kommen sollte – eine Stadt, die in dem Dokument ein „besonders gewagter Abschnitt“ des Fackellaufs genannt wird.

Human Rights Watch wiederholte seine Forderung vom März, dass der Fackellauf durch Tibet nur dann stattfinden dürfe, wenn gleichzeitig eine internationale unabhängige Untersuchungskommission nach Tibet zugelassen und das Zugangsverbot für internationale Medien aufgehoben werde und China sich verpflichtete, das Recht auf friedliche Protestaktionen, wie es im Völkerrecht garantiert wird, zu respektieren (http://www.hrw.org/english/docs/2008/03/24/china18334.htm).

Human Rights Watch hat auch die wichtigsten Sponsoren der Olympischen Spiele, insbesondere, die Sponsoren des Fackellaufs – Coca Cola, Lenovo und Samdung – aufgefordert, ihren Einfluss zu nutzen, damit Tibet wieder für Journalisten und internationale Beobachter geöffnet wird (siehe: http://china.hrw.org/corporate_sponsors). Bis heute hat keiner dieser Konzerne auf den Appell reagiert.

„Wenn die Fackel in Tibet willkommen geheißen werden soll, dann muss es auch für eine internationale Untersuchung geöffnet sein, für die Medien und für jeden, der wissen möchte, was im März tatsächlich geschah. Ein propagandaträchtiges Ereignis zu verwenden, um die Wahrheit über das brutale Vorgehen von Militär und Polizei in Tibet zu verschleiern, zeigt nur, wie wenig Achtung die chinesische Regierung für den Geist der Olympischen Bewegung hat“, sagte Sophie Richardson weiter.