10. Oktober 2006
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von Tenzin Choephel, Phayul-Sonderkorrespondent


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Augenzeugenbericht von den Todesschüssen am Nangpa-La-Pass

Kathmandu – Eine Gruppe von 41 tibetischen Flüchtlingen traf gestern von Katari kommend zusammen mit zwei Guides im Transitzentrum für tibetische Flüchtlinge (TRTC) in Kathmandu ein. Sie sind die Überlebenden, die den Schüssen entkamen, welche chinesische Grenzschutzsoldaten am Morgen des 30. September auf die Gruppe abgaben. Wie ein Tibeter aus der Gruppe berichtete, fiel die 17 Jahre alte Nonne Kelsang Namtso aus dem Kreis Driru, Präfektur Nagchu, kurz vor dem Nangpa-La den Todesschüssen zum Opfer. Der 20jährige Kunsang Namgyal aus Kandze wurde von den Kugeln ins Bein getroffen und konnte daher nicht entkommen. Er und 30 weitere Tibeter, darunter 14 Minderjährige, wurden von Soldaten in Tarnanzügen und Pelzmützen verhaftet und wahrscheinlich in die Kreisstadt Dingri gebracht und dort inhaftiert. Insgesamt zählte die Gruppe, die über den Nangpa-La-Pass nach Nepal fliehen wollte, 73 Tibeter und zwei Führer. 

Diejenigen, die den Schüssen entkommen konnten, kletterten über den Paß. Schließlich erreichten 41 Personen sicher nepalesisches Territorium. Sie liefen 9 Tage durch den Solukhumbu-Distrikt, bis sie in der Ortschaft Katari anlangten, von wo aus sie den Morgenbus nach Kathmandu nahmen. Sie trafen gestern gegen 18.00 im TRTC ein. Alle 41 Personen sind junge Menschen zwischen 7 und 30 Jahren: Kinder, Mönche, Nonnen und einige Erwachsene. Die meisten streben eine Ausbildung in den tibetischen Schulen oder Klöstern in Indien an, da sie in Tibet dazu entweder keine Gelegenheit haben oder die religiöse Repression dort nicht mehr ertragen konnten.

Die meisten von ihnen kommen aus dem Kreis Driru, Präfektur Nagchu, der Rest stammt aus dem Kreis Tengchen, der Stadt Nagchu, den Kreisen Dranag, Pasho, Riwoche, Sog Dzong, Gyamda, der Stadt Dartsedo, dem Kreis Drakyab und der Stadt Kandze. Die nepalesischen Behörden hatten ihnen die Durchreise vom Nangpa-La nach Kathmandu gestattet, so daß sie ohne weitere Zwischenfälle sicher im TRTC eintrafen. Die Guides weigerten sich aus Sicherheitsgründen, nähere Angaben zu machen.

Ein Mönch aus dem Kreis Gyamda, ein Augenzeuge des Geschehens, berichtete: "Wir waren 75 Personen und fuhren von Lhasa aus mit einem Lastwagen, auf dem wir zwei Tage lang unterwegs waren. Dann ging es ungefähr 20 Tage zu Fuß weiter. In der Nähe des Passes angelangt, brachen wir frühmorgens auf und baten die Bergsteiger im Basis-Lager des Cho Oyu um Nahrung. Wir waren noch beim Essen, als plötzlich die Soldaten auftauchten. Sie fingen an, auf uns zu schießen und wir rannten weg. Wir hatten 15 Kinder zwischen 8 und 10 Jahren dabei, von denen nur eines entkam. Alle anderen wurden festgenommen. Ich rannte, so schnell ich konnte, um mein Leben zu retten und betete dabei zu Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama. Ungefähr eine Viertelstunde lang schossen die Soldaten. Sie waren zu fünft, drei verfolgten uns und die anderen beiden hielten die Personen fest, die sie erwischen konnten. Die Soldaten riefen uns laut irgend etwa zu, vermutlich um uns zu warnen, aber ich verstand nichts, weil ich in großer Panik war. Ich hörte nur, wie die Schüsse an mir vorbeipfiffen. Es war ein solcher Schock für mich, daß so viele von uns festgenommen wurden. Ich hatte 4500 Yuan für den Guide bezahlt. Ich kann nicht genau sagen, wie viele Leute von den Gewehrkugeln getroffen wurden, da wir in Panik auseinanderstoben. 36 von uns entkamen als erste dem Kugelhagel, die anderen tauchten erst später wieder auf; wahrscheinlich hatten sie sich versteckt. Über den Paß waren es etwa zwei Stunden, er war knietief mit Schnee bedeckt. Eine Nonne aus unserer Gruppe wurde erschossen, und ein Junge aus Kandze wurde am Bein getroffen. Wir gingen an der Spitze der Gruppe, als sie auf uns zu schießen begannen, und wir merkten nicht, daß die Leute hinter uns festgenommen wurden, weil wir möglichst schnell den Paß überwinden und auf nepalesisches Gebiet gelangen wollten. Ich sah, wie westliche Bergsteiger den Vorfall fotografierten, ich hoffe, daß sie Bilder davon haben. Es waren zwei Männer und eine Frau. Zwei von unserer Gruppe sind aus Kongpo, woher die anderen kamen, weiß ich nicht, aber es waren viele aus dem Kreis Driru dabei."

Ein anderer Augenzeuge aus dem Kreis Riwoche berichtete: "Ich sah die Nonne, die erschossen wurde – sie wurde durch eine einzige Kugel in den Rücken getötet. Ein Junge wurde zweimal am Bein getroffen. Ich wurde auch angeschossen, aber ich hatte Glück, denn die Kugel erwischte nur meine Hose. Ich versuchte, wegzurennen, aber ich war nicht schnell genug. Deshalb versteckte ich mich mit einigen anderen von 8 Uhr morgens bis 3 Uhr nachmittags im Schnee. Auf diese Weise konnten wir entkommen, denn wir waren nur ungefähr eine halbe Stunde von der Grenze entfernt, als sie auf uns schossen. Ich habe die tote Nonne gesehen, aber ich weiß nicht, was mit ihrem Leichnam geschah. Ich ging etwa in der Mitte der Gruppe, die meisten Leute rannten so schnell sie konnten davon, als die Soldaten kamen. Die Kinder konnten nicht wegrennen und wurden daher festgenommen, und auch einige Erwachsene wurden gefangengenommen."

Die meisten Tibeter fliehen im Winter, weil diese Jahreszeit am besten für sie ist, um sich an das indische Wetter zu gewöhnen und vermutlich auch, weil die Wetterbedingungen am Nangpa-La-Paß den Soldaten die Grenzkontrolle erschweren. Die Mitglieder der Gruppe werden alle mit Hilfe des UNHCR nach Indien weiterreisen und dort zuerst vom Dalai Lama empfangen. Danach werden sie auf verschiedene tibetische Schulen und Klöster verteilt werden.