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Offizielle chinesische Statistik bezeugt dramatischen Anstieg der Ungleichheit in Tibet
Pressemitteilung der International Campaign for Tibet
In einem soeben erschienenen Buch eines westlichen Wirtschaftswissenschaftlers wird anhand offizieller chinesischer Statistiken dargelegt, wie die Wachstumspolitik Pekings dazu geführt hat, daß in der VR China die Tibeter unter der höchsten Armutsrate leiden, und ebenso das größte Gefälle zwischen Stadt und Land und die weitaus schlechtesten Indikatoren für Bildung verzeichnen.
In dem Buch "State Growth and Social Exclusion in Tibet: Challenges of Recent Economic Growth" (Staatliches Wachstum und soziale Ausgrenzung in Tibet: Die Kehrseite des Wirtschaftsbooms) von Andrew Martin Fischer (Nordic Institute of Asian Studies Press, 2005) wird festgestellt, daß die von den gegenwärtigen Anstrengungen Pekings zur Entwicklung der westlichen Regionen des Landes einschließlich Tibets ausgelöste Dynamik, kombiniert mit dem kontinuierlich wachsenden Zustrom von Chinesen in die städtischen Regionen Tibets, zu einer immer stärker werdenden Polarisierung führt, wobei die einheimische tibetische Bevölkerung von der Entwicklung in ihrem eigenen Land zunehmend ausgeschlossen wird. Fischer zeigt anhand der von ihm verwendeten Regierungsstatistiken auf, wie der "immense Anstieg" bei der Position "Regierung und Verwaltung" des BIP (Bruttoinlandprodukt) indirekt eine Aufstockung des Militärapparates wiedergibt, was darauf hinweist, daß die Expansion des staatlichen Kontrollapparats als eine wesentliche Vorbedingung für die nachfolgenden Ausgaben und Investitionen einer auf schnellstmögliches Wachstum angelegten Wirtschaftspolitik gilt, die gegenwärtig in den westlichen Gebieten Chinas einschließlich Tibets verfolgt wird.
Indem er von den offiziellen Zahlen des BIP ausgeht, schreibt Fischer, daß "Regierungsämter, Parteibüros und soziale Verbände" also der ganze staatliche Verwaltungsapparat sowohl im Hinblick auf den absoluten Anteil als auch das Wachstum, die größte Position im tertiären Sektor der Autonomen Region Tibet (TAR) ausmachen. In den Anfangsjahren der "Western Development Strategy" (Entwicklungsprogramm für den Westen), die 1999 vom damaligen Parteisekretär und Staatspräsidenten Jiang Zemin gestartet wurde, fungierte die Expansion des Verwaltungs- und Parteiapparats als der "Wachstumsmotor" in der TAR.
Fischer ist der Auffassung, daß in diesem Kontext der Bau der Eisenbahnlinie von Golmud in Qinghai nach Lhasa (die im Laufe dieses Jahres fertiggestellt werden soll) viel eher im Rahmen der offiziellen Sicherheitsbelange zu verstehen sei, als im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Rentabilität. "Das nationale Interesse an der Eisenbahn ist zumindest teilweise von ihrer militärisch-strategischen Bedeutung her zu sehen und der Bau als auch die weitere Instandhaltung der Trasse tragen zu dem festgestellten Bedarf an verstärkter militärischer Präsenz zum Schutz der neuen Einrichtungen bei", schreibt Fischer. "Deshalb sind, ebenso wie in der Vergangenheit, für viele entwicklungspolitische Aktivitäten in der TAR vermutlich militärische Belange maßgeblich, und indirekt dürften sie auch einen Großteil der Subventionen verschlucken".
Ein Wachstum, das durch die Aufblähung des staatlichen Verwaltungsapparats generiert wird, trägt sich nicht selbst, es erfordert weitere Einkünfte, damit es aufrechterhalten werden kann. Das bedeutet, daß die Wachstumsstrategie, um die aktuellen Wachstumsraten beibehalten zu können, ihre Abhängigkeit von äußerer Subventionierung verstärkt was zusätzlich zur Unwirtschaftlichkeit solcher Subventionen beiträgt. Dies ging soweit, daß 2001 eine Aufstockung der direkten Subventionen um 2.1 Yuan (0.2 $) erforderlich war, um nur 1 Yuan (0.1 $) an Wachstum zu schaffen (wenn die Investition mit einbezogen wird, ist es noch mehr). Die einzige Möglichkeit für die Regierung ihre gegenwärtige Strategie fortzusetzen, ist daher, die Subventionen ständig zu steigern nicht nur dem Nominalwert nach, sondern auch im Verhältnis zu dem BIP der Region. Doch die Subventionen machen bereits um die 75% des BIP der TAR aus (2003), was darauf hindeutet, daß sich das Wachstumsmodell allmählich erschöpft, besonders, wenn die Subventionen nach der Fertigstellung der Eisenbahn weniger werden, wodurch es nach dem gegenwärtigen Boom zu einer konjunkturellen Flaute kommen könnte eine typische Entwicklung bei kleinen Wirtschaftssystemen, die von ein oder zwei Großprojekten dominiert werden.
Fischer zufolge könnte in der Bezuschussung tibetischer Gebiete von außen weitgehend eine Strategie zur Förderung regionaler oder nationaler Bauunternehmen gesehen werden, um so die Entwicklung ihres fachlichen Könnens und ihre Leistungsfähigkeit bei der Erstellung großer und komplexer Infrastrukturprojekte zu subventionieren.
An der Qinghai-Tibet Eisenbahn ist zum Beispiel ein Konsortium von staatseigenen Bau- und Maschinenbaufirmen aus ganz China, viele darunter aus den Küstengebieten, beteiligt. Und ein einziges staatseigenes Unternehmen aus Chengdu hat fast alle der zahlreichen Brücken im Verlauf der Eisenbahntrasse gebaut. "Die Verwendung von öffentlichen Entwicklungsgeldern durch Peking oder die Provinzen ist mit der Strategie der Vereinigten Staaten vergleichbar, US-amerikanischen Unternehmen, etwa in der Informationstechnologie oder der Aeronautik, mit lukrativen Verteidigungsaufträgen unter die Arme zu greifen", schreibt Fischer. "Es herrscht die gleiche Logik wie bei der Vergabe von US-Geldern für den Wiederaufbau des Iraks an US-Firmen. Das Land oder die Region wird auf irgendeine Weise auf- oder wiederaufgebaut, wie nachlässig auch immer und zumeist ohne Rücksichtnahme auf die ortsansässige Bevölkerung, doch ändern sich bei diesem Verfahren die Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft, die Rechte gehen auf Ausländer (im Falle des Irak an Amerikaner) oder nicht-tibetische Personen oder Gesellschaften (im Falle der TAR in China) über".
Die offiziellen chinesischen Statistiken zeigen, daß die Position "Gesundheitsversorgung" im BIP der TAR in ihrem Nominalwert von 2001 bis 2003 tatsächlich zurückgegangen ist, womit der Trend der schnellen Expansion in den Jahren zwischen 1998 bis 2001 sich wieder umkehrte in nur zwei Jahren fiel ungeachtet der häufigen Verlautbarungen der Regierung, sie hätte riesige Geldsummen in die Gesundheitsfürsorge fließen lassen, der Anteil der Gesundheitsversorgung von 6,8 auf 4,5% des tertiären Sektors. Über ein halbes Jahrhundert nach der Einverleibung Tibets durch die VR China gibt es für die Mehrheit der Tibeter immer noch keine angemessene und erschwingliche Gesundheitsversorgung. Pekings Politik der wirtschaftlichen Entwicklung für die westlichen Regionen des Landes vernachlässigt die "weiche" Infrastruktur wie die Gesundheitsversorgung und das Bildungswesen. Als Resultat der mangelnden gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten wozu noch die abschreckend hohen Kosten für ärztliche Behandlung kommen sterben zahlreiche Tibeter an eigentlich leicht kurierbaren Krankheiten wie Diarrhoe, Dysenterie und Pneumonie.
Der Anteil der Finanzmittel, der für das Bildungswesen in Tibet bereitgestellt wird, ist ebenfalls zurückgegangen. Fischer nennt diesen Rückgang "alarmierend, besonders angesichts des starken Rückstandes, in dem sich die tibetischen Gebiete, was Bildung und Gesundheit betrifft, gegenüber dem restlichen China befinden. Sowohl das Bildungs- als auch das Gesundheitswesen in den tibetischen Gebieten erforderten eine sehr viel langfristigere, systematischer und professioneller geplante Verbesserung, als dies jetzt der Fall ist, wenn es in diesen beiden Bereichen nicht zu sozialen Krisen kommen soll.
Fischer stellt fest, daß es sich bei der Zuwanderung von Chinesen in tibetische Gebiete nicht um eine "allgemeine demographische Überschwemmung" handle, sondern um eine "kurzfristige Überschwemmung des urbanen Arbeitsmarktes". Überall wo es in tibetischen Städten und Kleinstädten Möglichkeiten für gering qualifizierte Arbeitskräfte gibt, sehen sich die Tibeter, die vom Land kommen, wie auch die ärmere Stadtbevölkerung, durch chinesische Migranten, die im Durchschnitt einen viel höheren Bildungs- und Qualifikationsgrad besitzen als sie, dem Wettbewerb ausgesetzt. Der Nachteil, in dem sich die Tibeter wegen ihrer geringeren Bildung ihnen gegenüber befinden, wird dadurch noch größer, daß sie des Chinesischen nicht mächtig sind, hinzu kommt der Mangel an Beziehungen zu den Akteuren im Wirtschaftsleben der Region, was gerade in den boomenden Wirtschaftszweigen, die geringere Qualifikationen erfordern, wie Dienstleistung, Handel und Tourismus, die für die Konkurrenz entscheidenden Faktoren sind. Diese Konkurrenzfaktoren werden noch verstärkt durch die Tatsache, daß die meisten der großen und mittelgroßen Infrastrukturprojekte in den tibetischen Gebieten an chinesische Unternehmen von außerhalb der Provinz vergeben wurden, die meistens keine Tibeter einstellen.
Fischer empfiehlt als einzige Alternative, die sowohl den Tibetern als letzten Endes auch der Wirtschaft in den tibetischen Gebieten zugute kommen wird, die Verfolgung einer die Eigeninitiative fördernden, die Tibeter bevorzugenden Antidiskriminierungspolitik, besonders was die Armen auf dem Land und in der Stadt betrifft, wozu auch Schulbildung, Berufsausbildung, Beschäftigung und das Geschäftsleben gehören, in Kombination mit einer Reihe von an den Bedürfnissen der jeweiligen Orte orientierten Entwicklungsprojekten im Infrastruktur- und Dienstleistungssektor. Ihm schweben zwei größere politische Initiativen vor, die beide Probleme, das der Ausgrenzung und das des Wirtschaftswachstums in den tibetischen Gebieten, lösen könnten. Die erste wäre eine massive Ausweitung der sozialen Dienste, besonders des Gesundheits- und Bildungswesens, aber auch bestimmter Formen der sozialen Absicherung. Die andere hätte eine Neuorientierung der in der Wirtschaft verwandten Strategien zum Ziel, hin zu lokaler Integration und Eigentumsrechten. Diese Initiativen könnten eine allgemeine Verlagerung in Richtung einer "tibetisierten" Entwicklung bewirken.
Einige Kader und Experten vor Ort, sowohl Tibeter als auch Chinesen, unterstützen gemeinsam mit nationalen und internationalen NGOs bereits solche zukunftsorientierten Initiativen. Fischer schreibt: "Es bleibt die Frage offen, ob diese Bemühungen nicht von dem allgemeinen Trend zur Polarisierung in der regionalen Wirtschaft hinweggespült werden, denn diese bewegt sich sehr schnell auf eine Form von einen Teil der Bevölkerung ausschließendem Wachstum zu, wie es sonst in China nirgendwo zu beobachten ist.
"Polarisierung bedeutet: Wie klein die Gewinne auch sein mögen, die in der Landwirtschaft oder die Leistungen, die auf dem Gebiet der Bildung errungen werden, die Hürden, die für den Zugang zu den dynamischen Sektoren der Wirtschaft zu überwinden sind (die sich in den urbanen Gegenden konzentrieren und von Unternehmen von außerhalb der Provinz oder tibetischen Eliten beherrscht werden), könnten für die Zuzügler vom Lande und die Armen der Stadt trotzdem immer höher werden. Auf diese Weise kann die soziale Ausgrenzung als die dunkle Seite des gegenwärtigen Wachstums in tibetischen Gebieten verstanden werden. Armut ist nicht nur eine Frage der Restgemeinden- oder Gemeinschaften in entlegenen Gebieten, die noch in einer Form des ,ökologischen' Zustands der Entbehrung gefangen sind, sondern sie verdankt sich eher einer Dynamik, die den eigentlichen Prozessen der Modernisierung in den tibetischen Gebieten innewohnt Prozessen, die im wesentlichen vom Staat bestimmt werden".
Das Buch "State Growth and Social Exclusion in Tibet: Challenges of Recent Economic Growth" von Andrew Martin Fischer wurde von "Nordic Institute of Asian Studies Press" veröffentlicht und wird in Nordamerika von der "University of Hawaii Press" und in Europa von der "Marstons Press" vertrieben.
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